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Der neue Wolfgang-Herrndorf-Roman: Ganz ohne "Germanisten-Scheiß"

Unvollendet, kaputt, groß und ganz ohne "Germanisten-Scheiß": Wolfgang Herrndorfs „Tschick“-Fortsetzung „Bilder deiner großen Liebe“.

Von Gerrit Bartels

Wenn aus den Nachlässen von Schriftstellern frühes, spätes, bislang unentdecktes oder unfertiges Material veröffentlicht wird, reicht das in den seltensten Fällen an die Werke heran, die zu Lebzeiten eben jener Schriftsteller erschienen sind. Weshalb diese Schriften ja zunächst nicht oder eben nie zur Veröffentlichung bestimmt waren. Auch Wolfgang Herrndorf, der sich am 26. August 2013 wegen seines unheilbaren und fortschreitenden Hirntumors das Leben nahm, bestimmte kurz vor seinem Tod, dass von ihm nichts Unvollendetes erscheinen sollte. „Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen, Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten. Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben.“

Herrndorf wollte sich in der ihm verbleibenden Lebenszeit auf die Arbeit an seinem auch in Buchform zur Veröffentlichung bestimmten Blog „Arbeit und Struktur“ konzentrieren (der dreieinhalb Monate nach seinem Tod erschien), besann sich aber eines besseren und machte eine Ausnahme. Die Passagen, die er unter dem Arbeitstitel „Isa“ für einen neuen Roman geschrieben hatte (der mal als „Flaneursroman“, mal als „Tschick“-Fortsetzung in der Öffentlichkeit kursierte), sollten nun doch erscheinen, nach strenger Durchsicht und Prüfung seiner Freunde, in Form einer dann von den Freunden vorgenommenen einigermaßen linearen Erzählung und unter dem von ihm selbst noch festgelegten Titel „Bilder deiner großen Liebe“, der genauso großartig wie anmaßend ist.

Dieses vermutlich allerletzte Buch von Wolfgang Herrndorf wird nun diese Woche ausgeliefert. Wie bei dem zu Recht gefeierten Blogbuch „Arbeit und Struktur“ fügt sich auch „Bilder deiner großen Liebe“ aufs Wunderbarste in das schmale, aus drei weiteren Romanen und einem Erzählungsband bestehende Gesamtwerk Herrndorfs. Und wie bei seinem Meisterwerk, dem Wüstenroman „Sand“, hat man hier bei der Lektüre der knapp 130 Seiten den Eindruck, dass dieses Buch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seinesgleichen sucht, ja, dass es einzigartig ist - so kaputt, krank und daneben einerseits, gerade bezüglich der Dialoge. So voller Poesie, Schönheit, Traumverhangenheit, Trauer, Strahlkraft und auch Komik andererseits.

Als sogenannte „Tschick“-Fortsetzung könnte „Bilder deiner großen Liebe“ allerdings zu Missverständnissen führen, vielleicht zu produktiven, gerade bei der inzwischen Millionen zählenden „Tschick“-Fanschar. Klar, der Form nach ist auch dieses Buch eine road novel, ein Stationen-Roman, der in seiner Unfertigkeit natürlich ein paar Brüche aufweist. Und die Heldin des Buchs, die Ich-Erzählerin Isabel Schmidt, kurz Isa, kennt man als jenes Mädchen, das Andrej Tschichatschow, genannt Tschick, und Maik Klingenberg bei ihrer Tour mit dem gestohlenen Lada durch Brandenburg auf einer Müllkippe kennenlernen, verdreckt, stinkend, scheinbar durchgeknallt, aber die beiden in die Geheimnisse des richtigen Umgangs mit einem Benzinschlauch einweisend. „Die ist abgedreht. Tolle Figur, aber voll assi“, so Tschick. Als „der Russe“ und „der Blonde“ tauchen die „Tschick“-Jungs auch in diesem „unvollendeten Roman“ auf, ziemlich am Ende. Da erzählt dann also Isa von ihrer ersten Begegnung auf der Müllkippe und ihrer gemeinsamen Weiterfahrt.

Am Ende hat auch Isa, die Heldin und Ich-Erzählerin dieses Romans, eine Waffe in der Hand

Das war es aber schon mit den „Tschick“-Gemeinsamkeiten. Von der Freundlichkeit, der feinen Melancholie und der praktischen Lebenszugewandtheit dieses supererfolgreichen Romans sind in „Bilder deiner großen Liebe“ nur noch Spuren zu finden. Und waren Maik und Tschick zwei glaubwürdig pubertierende, glaubwürdig altersgemäß kommunizierende Bengel mit ein paar existentiellen Problemen, aber noch einem Batzen Leben vor sich, so hat Isa mit ihnen nur das jugendliche Alter gemein. Isa wirkt lebensweiser, endgültiger und radikaler, sie ist vor allem ein Alter Ego des mit dem Tode ringenden und deshalb die Welt und das Universum mit ganz anderen Augen sehenden Schriftstellers Wolfgang Herrndorf.

Das spürt man gleich zu Beginn, als sie sich Gedanken über die Schwierigkeiten mit dem Verrücktsein macht, Unterschiede zwischen „verrückt“ und „bescheuert“ markiert und gleich auch die Sonne als „mein schöner Freund“ bezeichnet. Das setzt sich fort, Kapitel für Kapitel, nachdem Isa erfolgreich aus ihrer psychiatrischen Einrichtung entwischt ist und sich auf den Weg wohin auch immer macht; zumeist zu Fuß, einmal auf einem Kanalschiff, oft abseits von Dörfern und Städten, wenngleich die Zivilisation mit ihren Straßen, elektrischen Zäunen, Kanälen und seltsamen Menschen nie weit ist. Isa verbindet eine romantische Nähe zur Natur, sie erzählt, wie sie schon als Kind am liebsten im Freien übernachtete, besteigt den „goldenen Berg“, marschiert durch dunkle Wälder, geht einen Bach entlang, über Wiesen und Felder.

Einmal liegt sie nächtens im Gras, sieht die Wolken vor dem Mond vorbeiziehen und stellt sich vor, wie sie jemand von oben beobachtet, „aber niemand sieht mich. Dabei liege ich so malerisch. Das glaube ich, und ich fühle mich so wohl und so tot und wie ein aufgestauter Fluss, über den in der Nacht immer wieder einmal der Wind geht.“ Oder sie spürt einen Weberknecht auf ihrer Schulter und fragt sich, ob dieser denn von ihr wisse: „Dass er auf einem Lebewesen steht, das hundertmal mächtiger ist als er.“

Sätze und Empfindungen wie diese erinnern an manche Passage aus dem „Arbeit-und-Struktur“-Blog, sie sind zum Gotterbarmen, ergreifend und traurig. Nicht von ungefähr lässt Herrndorf sich selbst kurz auftreten, als Mann in grüner Trainingsjacke, der Isa auf einem Friedhof trifft. Der dem Tod geweihte Schriftsteller spiegelt sich mit diesen „Isa“-Fragmenten in der Unbehaustheit seiner Heldin, ihrer universellen Einsamkeit und auch Nähe; und er scheut sich nicht, weshalb auch, sie anderweitig literarisch aufzuladen.

Ihr Tagebuch hat Isa immer bei sich, aktiv Einträge vornehmend, quasi als „Kompass“; auch eine Romanfigur zu sein, kann sie sich vorstellen, deren Erfinder dann „meinen Charakter in allen Facetten leuchten“ lässt. Zudem gibt es hübsche kleine Verweise auf Robert Walser und Karl Philipp Moritz, auf dass man Isa auch „ohne Germanistenscheiß“ (wie Herrndorf sich das Nachwort dieses Buches vorstellte) problemlos als Wiedergängerin eines Jakob von Gunten, Anton Reiser oder Taugenichts erkennen kann. Als eine in der Welt herumstreunende, fremdelnde, aber sich auch nicht unwohl fühlende Außenseiterin, die sich weder von einem „Dr. Vollhorst“ noch von einer „Christine Bitsch“ (hihi!) oder von einem Schweine transportierenden Lastwagenfahrer was sagen lässt.

Am Ende hat Isa eine Waffe in der Hand. Da zielt und schießt sie auf die Sonne und die Wolken, da schaut sie in einen „Abgrund, genau über meine Stiefelspitzen hinweg“. Und wie sie dann die Kugel verfolgt, die präzise in den Lauf der Waffe zurückfliegt, das hat Herrndorf genauso schön beschrieben, wie es makaber und sinnbildlich ist für seine Selbsterschießung vor einem Jahr.

Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2014, 144 S., 16,95€.

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