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Späte Ausreise: Den Westwind im Herzen

Wenige Tage vor dem Fall der Mauer wagte Tagesspiegel-Leserin Gabriele Kopmann gemeinsam mit ihrem Sohn über Prag die Ausreise aus der DDR. Für den Schulaufsatz der Tochter einer Freundin fasste sie ihre persönlichen Erfahrungen als DDR-Bürgerin zusammen, die letztlich zu diesem Schritt führten.

Dies ist die Geschichte einer jungen allein erziehenden Mutter zum Mauerfall. Ich kenne sie schon lange und wusste  woher sie kam. Die Kollegin meiner Mutter ist ein Ossi, wie man so zu sagen pflegt. Sie ist nett und wir haben sie ab und zu mal besucht. So wie Besuche bei Kolleginnen der Mutter so sind. Sie war eigentlich wie jeder, nur der Akzent war der, den sie so sprechen, die Ossis. Einmal sprach sie über ihre Erlebnisse. Sie hat mir erlaubt ihre Geschichte zu verwenden und ich danke ihr für ihre Unterstützung. Hier geht es um das Leben, die Liebe, die Freiheit zu denken. Aber  lasst mich erzählen.

Mitte Januar 1989. Es ist später Nachmittag, sie sitzt in der Straßenbahn und fährt nach Hause. Ein langer Arbeitstag liegt hinter Ihr. Ein Arbeitstag in der kleinen Firma in der sie arbeitet. Sie will nach Hause, da sieht sie im Vorbeifahren eine Schlange am Gemüseladen. „Super!“ Denkt sie sich. „An der nächsten Haltestelle muss ich raus, egal was es gibt. Mein Sohn bekommt sowieso zu wenig Vitamine.“  Sie steht und wartet geduldig in der Reihe. „Bananen sind  es.“ Sagt die Frau vor ihr. „Toll, da nehme ich für meine Schwester und meine Eltern auch welche mit. Die werden sich freuen.“ Nach einer guten viertel Stunde ist sie endlich dran. „Es gibt nur ein Kilo für jeden, Leute.“ Sagt der Händler. „Wieso?“ Alles mault. Nach der Warterei und nur ein Kilo. Egal, glücklich  setzt sie ihre Fahrt fort. Es war nichts Außergewöhnliches sich für Südfrüchte anzustellen, sie kannte das.

Das Leben in der DDR war eben sparsam mit seinen Angeboten an Lebensmitteln der besondern Art. Wir hatten Arbeit, unsere Kinder waren gut versorgt, in der Zwischenzeit, redete sie sich ein. Wer etwas Besseres haben wollte musste tief in die Tasche greifen und im Delikat einkaufen. Das waren Kaufhäuser mit ausgesuchten Lebensmitteln wie Champignons, Schinken oder Spargel in Konserven.  “Delikatismuss“ nannten sie das. Gerne hätte sie ihrem Sohn schöne Turnschuhe gekauft, so wie sie es aus der Werbung des Westfernsehens kannte. Aber weiter darüber nachzudenken brachte nicht viel.

Ein schwarzer Punkt in der Vergangenheit

Die „Mauer“ war unüberwindbar, manchmal träumte sie davon darüber zu klettern, endlich frei zu sein und offen auszusprechen, was sie dachte. Aber es waren zwei völlig verschiedene Dinge, davon zu träumen oder es zu tun. In einem Land in dem man sich nichts traute. Obwohl, einmal hatte sie sich ja schon etwas getraut. Es gab da so  einen schwarzen Punkt in ihrer Vergangenheit. Sie war eine von denen, die aus der Partei ausgetreten sind. Die Kollegen waren bestürzt, damals. Sie war erst 20 und schon Mitglied in der Partei. Ihr Vater war stolz, und sie fand es richtig. Es ist unsere Heimat und ich will helfen sie besser zu machen.

Man wollte sie fördern, ihr helfen eine Wohnung zu finden. Die Wohnraumvergabe, in der DDR als Wohnraumlenkung bezeichnet, gestaltete sich immer als schwierig. Es bestand eine Wohnraumknappheit weil die Wohnungen einfach zu klein waren. Einzelpersonen hatten in der Regel nur Anspruch auf eine Einraumwohnung und zwei bis drei Personhaushalte auf Zwei- oder Dreiraum -Wohnungen. Als Mitglied der SED hatte man eher eine Wohnung in Aussicht. Nur die Bedingungen dafür erkannte sie erst später. Nach und nach merkte sie, wie man tickte in der SED. Absolute Gesinnungstreue, sonst war man draußen.  Es wurden keine Zweifel zugelassen.

Die jungen Leute wurden geködert mit Versprechungen, die leicht zu machen waren. Dann aber begab man sich in ihre Hand. Sie sollte den Kontakt zu ihrer Tante in Braunschweig abbrechen. Der bestand eigentlich nur aus jährlichen Besuchen und einmal ein Paket. Ihr Vater musste deshalb jedes Mal genau Bericht erstatten in seiner Firma. „Das unterschreib ich nicht“, rebellierte sie. “Das tue ich meiner Mutter nicht an.“ Und sie wurde plötzlich zur ungeliebten Kollegin. Es gab Aussprachen, Diskussionen. Verstoßen und vor der gesamten Belegschaft aus der Partei „ausgeschlossen“, nicht ausgetreten. Man achte auf den feinen Unterschied, denn sie stellte einen Antrag auf Entlassung. Ausgeschlossen wegen unerwünschter Haltung gegenüber dem Klassenfeind. Sie spürte die Blicke der Anderen, die ihr nachsahen als sie den Saal verließ.

Es traf ihren Vater sehr. Zumal sie nicht mit ihm darüber sprach. Die Partei teilte ihm mit, dass sie nicht mehr tragbar sei. „Doch ein paar Tage später“, sprach sie, “  wurde ich von einigen angesprochen, wie mutig ich doch sei und die Blicke wurden anders. Unter uns konnten wir reden." Die Zeit verging, sie lebte ihre Jugend. Sie tanzte nach der Musik der Puhdys, der Rolling Stones. Einen gewissen Prozentsatz an westlicher Musik durfte in den Discos gespielt werden. Doch am liebsten hörte sie die City Rockband mit ihrem Lied „Am Fenster“. „Acht auf dein Gefieder, nässt der Regen flieg ich durch die Welt“, hieß es darin. Sie verliebte sich in einen Jungen vom Dorf. Sie hatten eine schöne Zeit und dachten an Nichts.

Verplante Kinder

Ein Jahr später bekam sie einen kleinen Sohn, es war in der DDR nichts Ungewöhnliches,  früh Kinder zu bekommen, da sie die priveligierte Schicht waren. In der Regel hatten sie ein institualisiertes, behütetes, auf familiäre Geborgenheit ausgerichtetes Leben. Um das zu gewährleisten wurden sie pädagogisch betreut vom Klassenelternaktiv, der Pionierorganisation, des Jugendverbandes, der Patenbrigade. Es gab Ganztagskrippen und -kindergärten. Die Kinder waren verplant von der Vorschuleinrichtung bis zum Jugendverband. Der Baukasten ihres Lebens setzte sich zusammen aus Schule, eventuell Abitur (wenn man aus einer Arbeiterfamilie kam oder zur NVA wollte), Berufsausbildung oder Studium, Heiraten, Kinder unbedingt berufstätig.

Selten - da die Plätze begrenzt -  waren eine FDGB-Reise, ein Trabi oder sogar ein Wartburg. Als sie  achtzehn wurde, ging sie zusammen mit ihrem Vater zur Anmeldung für einen Trabi. Zehn bis zwölf Jahre Wartezeit für einen Neuwagen waren die Regel. So entstand ein blühender Handel mit Anmeldungen. Sie erlebte ihre Einlösung für die lang ersehnte Pappe nicht mehr. Eine Wohnung konnte ihr Vater glücklicherweise nur dadurch besorgen, weil er ein paar führende Leute des Stadtbezirkes durch seine Arbeit kannte. Er war Anfang der achtziger Jahre Direktor für Technik in einem Ingenieurbetrieb in Halle tätig. Natürlich hatte er auch ein Parteidokument in der Tasche. Allein war es ihr unmöglich, was eigentlich der Philosophie des Ganzen widersprach „Mir wurde gesagt, ich solle doch die Geburt meines Kindes abwarten, ob alles gut geht, ehe ich Wohnraum benötige. Das war dann selbst meinem Vater zu viel“. Erzählte sie wütend.     

Sie bekam eine ziemlich heruntergekommene Wohnung in einem Vorstadtviertel mit dörflichem Charakter. Das Haus war alt, roch modrig, die Toilette war mit dem Nachbarn eine Treppe tiefer zu teilen. Die Fenster waren morsch. Da half auch kein Streichen mehr, und im Winter musste man Decken zwischen die Fenster hängen, weil sie nicht isolierten. Wenn der Regen richtig prasselte, kamen Blasen an der Seite durch. Im Schlafzimmer gab es keinen Ofen. Ihr Atem bildete eine Wolke im Winter,  wenn sie im Bett lag. Am Wochenende war Waschtag für alle. An diesem Tag standen die Männer im Treppenhaus und hielten den Daumen auf die Sicherung. Was wollte man verlangen für achtzehn Mark Miete? Die Besitzerin konnte davon keine Reparaturen bestreiten. Auch waren die dafür notwendigen Dinge schwer zu bekommen.

In Kittelschürze zum Konsum

Das gab es sowieso selten, dass ein Mietshaus in privatem Besitz war. Aber die Leute waren nett. Es war so ein Viertel, in dem  die Frauen noch in Kittelschürze zum Konsum gingen und Rabattmarken klebten. Über ihr wohnte eine kleine Familie, mit der sie sich anfreundete. Viele Abende haben sie zusammen verbracht. So manche Schlagersüßtafel wurde dabei vertilgt (das war der Renner in der DDR, deshalb auch schwer zu haben) während man heimlich Dallas schaute. Einigen Leuten war es regelrecht verboten, West-Fernsehen einzuschalten. Das waren Armeeangehörige in Dienstgraden oder Behördenangestellte und so.

„Meine Eltern hatten Bekannte, da war der Ehemann Hauptmann der Armee. Als uns die Frau mit den Kindern einmal besuchte, hatten wir gerade eine Kindersendung aus dem Westen auf dem Schirm. Da war bei denen die Freude groß, und sie guckten eben mit. Da hat sich mein Vater aber etwas anhören dürfen.“ Die Bekanntschaft war dann lange Zeit eingeschlafen. Heute wohnt der ehemalige Hauptmann in den alten Bundesländern. Immer wieder aber wurde in den Betrieben diskutiert, dass das West-Fernsehen unterlassen werden sollte. Gespräche über Sendungen aus dem Westen wurden scharf geahndet.

Nach dem Babyjahr wurde ihr die Rückkehr in ihren Betrieb sehr erschwert. Keine freien Stellen, sagten sie ihr. Höchstens zum Toilettenputzen wäre was frei. Sie versuchte es in der Hoffnung, es würde besser werden, aber danach kam nur ein noch schlechterer Job. Man wollte wohl nicht vergessen. So suchte sie sich in einem kleinen Handwerksbetrieb, der direkt in ihrer Straße war, eine neue Arbeit. Sie hatte Bedenken wegen eines Wechsels, da es immer eine Kaderakte gab, die angefordert wurde. Aber ihre Mitgliedschaft war nirgendwo aufgeführt, gelöscht, hatte es nie gegeben. Der Betriebsleiter war ziemlich nett und wollte helfen. Dort war man wie in einer kleinen Familie. Wenn der Chef gut aufgelegt war meinte er immer scherzhaft. „Unterhaltet euch nicht über Dallas sondern lieber über das, was im Schwarzen Kanal kam. Morgen frag ich euch ab.“
 
Die Propaganda des Schwarzen Kanals

Im schwarzen Kanal wurden montagabends Ausschnitte aus dem Westfernsehen gezeigt und von Karl-Eduard von Schnitzler kommentiert. Viele Zuschauer empfanden die Darstellung darin als Propaganda. Auch setzte die Sendung voraus, dass man die Beiträge vorher gesehen hatte und für Bürger die im Tal der Ahnungslosen wohnten, (so wurden die Regionen genannt, die kein Westfernsehen empfangen konnten - zum Beispiel Dresden) war dies eine Verhöhnung. Dazu eine kleine Episode, die ihrem Vater direkt passierte: während einer Tagung mit Leitern seines Betriebes erzählte ein Direktor eines Betriebsteiles aus Dresden, dass er ja im Tal der Ahnungslosen wohnte. Alle Umstehenden lachten natürlich denn jeder kannte ja diesen Ausdruck. Ihr Vater witzelte noch etwas darüber und wurde später dafür kritisiert und angeprangert, wie man in der Betriebsleitung über die Dresdner Mitarbeiter denke und spräche. Das war ein deutliches Zeichen für die künftige Verhaltensweise anderen Parteigenossen gegenüber.

Im Kino lief in diesem Jahr Dirty Dancing. Es war der Kassenschlager schlechthin. Als Kind ging sie ständig ins Kino. Osceola oder im Staub der Sterne, aber später war für Umarmungen und heiße Küsse „Die Legende von Paul und Paula“ am besten geeignet. Die Beziehung zu ihrem Dorfjungen hielt leider nur zwei Jahre, sie waren einfach noch zu jung. Sie verliebte sich wieder, heiratete, ein Kapitel über das sie nicht gerne redet. „Man muss eben seine Erfahrungen machen.“ Bis ein Mann in ihr Leben trat der alles verändern sollte. Ein neuer Kollege, ein Antragsteller erzählte man sich. Er war einer, den alle schief ansahen, sich  aber tief drinnen wünschten, das Gleiche zu tun. Vielleicht nicht alle, manche waren von der Sache überzeugt. Von der mit dem Sozialismus. Er kam aus Rostock, seine Eltern wurden zu Gründungszeiten der DDR enteignet. Man hatte ihn wohl genauso abgeschoben wie sie. Er hatte die in der DDR praktizierte Isolierung und Diskriminierung der Ausreisewilligen am eigenen Leib erfahren. Sie haben viel geredet, über Gott und die Welt. Sie hatten die gleiche Wellenlänge, tauschten Gedanken aus. Sie stellte mehr und mehr die Dinge in Frage und begann nachzudenken.

Der Ostwind wehte in ihrem Kopf, während der Westwind schon lange ihr Herz mitriss. Als ihr Sohn in der Schule zum Jungpionier gemacht wurde, sagte sie sich. „Er wird genauso aufwachsen wie ich. Danach wird er FDJler und fährt zum Fackelzug nach Berlin.“ Damit wollte die Staatsführung ihre Geschlossenheit und Stärke demonstrieren. Was in diesem Jahr, wovon sie jetzt noch nichts wusste, der letzte Kraftakt der DDR sein sollte. Sie wusste, er würde weggehen, irgendwann. Für sie war es immer noch eine unüberwindbare Mauer. Für ihre Eltern war diese Entwicklung sicherlich sehr schwierig. Ihr Vater mied sie zuerst, er wollte es nicht verstehen, und er konnte es auch nicht. Er hatte viel gearbeitet, sein Studium gemeistert und seinen Ingenieur geschafft trotz der Steine, die man ihm in den Weg gelegt hatte, und trotz der vier Kinder, die sie zu Hause waren. Er hatte den Krieg als Kind erlebt und die DDR mit aufgebaut. Sein Leben dieser Sache verschrieben. Obwohl er in seiner Jugend genau so einen schwarzen Punkt hatte wie sie.

Nur mit Sondergenehmigung

Er erzählte uns darüber und hat mir seine Geschichte freundlicherweise zur Verfügung gestellt. “Als ich noch sehr jung war, es war 1953, hatte ich mich freiwillig zur Seepolizei gemeldet. Dort konnte ich auch eine Ingenieursschule für Schiffs-Maschinenbau in Rostock besuchen. Natürlich war das auch eine Offiziersschule. Vorher aber war ich in Berlin mit meiner Kompanie als Wachkommando für die Admiralität für etwa ein halbes Jahr eingesetzt. Dort hatte ich auch eine Freundin kennen gelernt. Später von Rostock aus wollte ich sie natürlich während eines Urlaubes besuchen. Das durfte ich nicht. weil Berlin ein Sperrgebiet war und nur mit Sondergenehmigung besucht werden durfte. Frech schrieb ich an den Vizeadmiral und fragte, wenn ich schon freiwillig meine Heimat verteidigen will, warum darf ich dann nicht in die Hauptstadt meiner Heimat reisen? Daraufhin bekam ich die Erlaubnis. In Berlin bin ich trotz des Verbotes mit meiner Freundin nach Rudow in West-Berlin gegangen. Bei der Rückkehr wurde ich kontrolliert. Und das wars!! Ich wurde sofort eingesperrt und nach Treptow in das Armee-Gefängnis gebracht. Dort wurde ich laufend von der Stasi vernommen. Man wollte mir Militär-Spionage anhängen. Das war eine böse Falle, denn das hatte ich gewiss nicht gemacht. Ich wurde dann nach Rostock überführt und dort zu 14 Tagen leichten Arrest verurteilt. Aber damit war das alles nicht zu Ende. Ich wurde mehrfach von den damaligen russischen Beratern vernommen, und die Stasi holte mich extra zur Vernehmung.

Da das Ganze nicht aufhörte habe ich dann um meine Entlassung gebeten. Kurze Zeit später wurde ich dann fristlos entlassen und musste das Objekt in Kühlungsborn, wo ich zwischenzeitlich war, innerhalb weniger Stunden verlassen. Nun hatte ich meine Stasi-Akte. In Halle selbst, habe ich wieder in der Mafa (Maschinenfabrik) angefangen zu arbeiten. Sogar im Labor für Metallprüfungen. Aber studieren durfte ich nicht. Man sagte mir in der Personalabteilung, dass ich mich erst einmal bewähren müsse.“ Später sagte ihm sein Direktor einmal, ich kann dich nicht als Reisekader beantragen. Die haben mir gesagt, dass ich ja nicht mit einem Antrag kommen soll, sie wären gezwungen ihn abzulehnen. Er sagte dann, sie würden dann eben mal nach Ungarn fahren. In die BRD und das andere Kapitalistische Ausland würde er nicht zugelassen. Er war dann dienstlich zweimal in Polen, und damit hatte es sich. Für zwei Jahre war er auch mal Parteisekretär. Aber eben keiner, den sie zum Abnicken gebrauchen konnten.

Ständig eckte er an. Er hatte während der Zeit eine Menge Debatten mit Parteiführern gehabt, natürlich im Rahmen der Legalität, sonst hätten sie ihn ja auch schnell abgesägt. Und was wäre dann aus uns allen geworden? Trotz alledem setzte er sich für seine Leute ein. Er verhinderte, dass man Menschen in der Kampfgruppe, die nach Feierabend ihren Dienst taten, nicht wie Schachfiguren hin und her schob. Dafür sprach ihn der persönliche Mitarbeiter des ersten Sekretärs an und sagte ihm, dass dies seine letzte Attacke gewesen sei. Bei der nächsten widerspenstigen Rede würde er sich schon was einfallen lassen. Genauso wie sein Vater hatte er das Ziel eine bessere Zukunft aufzubauen. Er war Betriebsleiter der Schokoladenfabrik in Halle. Hatte es vom Tischler bis dahin gebracht. Nur leider ist die DDR  nicht das geworden, was sich die Menschen vorgestellt haben. Ein freier Arbeiter und Bauern Staat. Es war ein bis in die kleinste Zelle durch kontrollierter Staat.

Gegendemonstrationen bei Gedenkfeier für Rosa Luxemburg

Draußen wurden die Stimmen des Volkes immer lauter. Am 17.Januar 1988 kam es zu einer Gegendemonstration zu den Gedenkfeiern für Rosa Luxenburg in Ost-Berlin. Auch Ausreisewillige nahmen daran teil. Sie beriefen sich auf das demokratische Erbe von Rosa Luxenburg „Freiheit ist immer die Freiheit des anders denkenden“. Verhaftungen und Abschiebungen waren die Folge. Der kleine Gemüseladen, an dem sie immer vorbeifuhr, ging eines Tages in Flammen auf. Die Montagsdemonstrationen waren im vollen Gange, als ihr Freund bei ihr einzog. Er sagte „ich muss bald fort. Ich kann nicht mehr hier bleiben. Lass uns die Zeit gemeinsam verbringen, ich will helfen wo ich kann.“

Beschattung durch die Stasi

Er bewies ein unglaubliches Organisationstalent. Eine Wohnung zu renovieren war in der DDR eine Logistische Meisterleistung. Die Türklinken aus Rostock, der Fußboden aus Leipzig, ein neues Fenster. Absolute Rarität, eine neue Küche der helle Wahnsinn. Ihr Vater wurde einsichtiger wenn es ihm auch schwer fiel, die Zeichen der Zeit musste auch er erkennen. Sie sah, wie beide nebeneinander standen. Der Parteigenosse und der Ausreiseantragsteller. Es war eine verrückte Zeit. Sie saßen abends vorm Fernseher und sahen die Berichte über Prag und die vielen Menschen, die raus wollten. Fast hätte sie vergessen, dass es nur ein Glück auf Zeit war, wenn da nicht die Beschattungen der Staatsicherheit wären. Die Leute fingen an zu tuscheln und zu beobachten. Dieselben Leute wollten sie später als Sprungbrett in den goldenen Westen benutzen. Sie glaubte sicher, dass  auch über sie eine Akte existierte, aber da seit damals nichts weiter vorgefallen war, betrachtete man sie wohl als Mitläufer, also als harmlos. Jeden Tag stand ein Wagen vor dem Haus. Manchmal haben sie ihn gar nicht erst hochkommen lassen. Er musste einsteigen und weg waren sie. Er kam spät nach Hause. Um sie zu schonen, sagte er nicht viel darüber. Nur so viel - das es Verhöre waren. “Ich würde ja bleiben wenn man mich machen ließe", sagte er. "Und ich würde mitgehen wenn mein Sohn nicht wäre", meinte sie.

Der Anruf aus Österreich

Er wollte über die Grenze in Ungarn allein, zu Fuß, durch den Wald. Der Tag war gekommen .Abschied „Wir hielten uns in den Armen und meine Angst um ihn war groß." Es wurde gesagt,  dass immer noch Schießbefehl bestand. Der Freund ihrer Schwester war zu dieser Zeit bei der Armee, daher wusste sie Bescheid. Sie trennten sich mit dem Gedanken, sich nie wieder zu sehen. Da war sie nun, allein mit dem Westwind im Kopf und im Herzen. Tags darauf, sie war arbeiten und das Telefon klingelte. „Wir wussten alle, wer es war. Totenstille im Büro, und ich weinte mir die Seele aus dem Leib. Er rief aus Österreich an und hatte es geschafft. Viele Strapazen hatte er auf sich genommen um endlich frei zu sein“, sagte sie mit Tränen in den Augen.                                                                             

Es war die Zeit, als montags erst mal alle durchgezählt wurden, wer noch da war, als sie den Entschluss fasste: „Ich werde es tun.“ Den letzten Anstoß gab ihr achtjähriger Sohn, der sagte„Mama die haben es gut in den Zügen, die sind jetzt im Westen.“ Hatte der kleine Jungpionier doch noch andere Gedanken als "seid bereit und immer bereit"? Das war die Begrüßungsfloskel in der Schule, die sie zum Unterrichtsbeginn aufsagen mussten. Wie versteinert stand sie da. „Muss dich dein Sohn erst wachrütteln?“ Einiges hatte sie gelernt in der letzten Zeit. Vertraue Niemandem. Sie wusste, dass es Züge gab in Prag, die von den Maltesern unterstützt wurden. Die musste sie finden. Sie packte Wintersachen ein, denn es war mittlerweile schon November. Der 3.November 1989, um genau zu sein. Die Menschen in der Prager Botschaft durften  inzwischen ausreisen. Es war ein Wunder, das würde in die Geschichte eingehen. Das würde es auch nicht noch einmal geben, dachte sie. Wie lange würde sich das die Parteiführung noch mit ansehen? Jetzt oder nie! Ihr Vater spürte ihre Gedanken und wollte sie nicht verlieren. Sie sprachen nicht darüber. Sie konnte es ihm doch nicht sagen, er würde sie zurückhalten, und zu groß wäre der Abschiedsschmerz. Sie musste es tun. Für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Schwester war ihre Verbündete. „Hier nimm meine Wohnungsschlüssel, du kannst alles haben.“ Im Betrieb ließ sie ihre Arbeit liegen, als würde sie morgen wiederkommen, damit niemand Verdacht schöpft. „Selbst die Wäsche in der Waschmaschine musste bleiben, was mir meine Mutter heute noch vorwirft. “Sie lacht. Einfach alles sollte nach einem kleinen Wochenendtrip aussehen.

Tränen auf dem Bahnhof

Auf ihrem Konto war noch etwas Geld, das sie auch nicht komplett  mitnahm. Ihre Schwester begleitete sie zum Bahnhof und sie kaufte eine  Fahrkarte nach Prag. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als die Frau am Schalter fragte, „hin und zurück?“ Da war sie, die Frage. Wenn jemand sie beobachtete, sie musste auf alles gefasst sein. „Hin und zurück!“ Ihrem Sohn musste sie sagen, dass es nur Urlaub ist, zu gefährlich wäre es gewesen, wenn er wüsste, wohin die Reise ging. In Ihrer Aufregung vergaß sie ihre Schwester. Jetzt stand sie vor ihr, mit ungläubigem Gesicht. “Du machst es wirklich.“ Sie fielen sich in die Arme. „Sag unseren Eltern erst morgen dass ich weg bin. Ich melde mich so bald ich kann. Hab keine Angst es wird klappen.“ Der Zug fuhr,  und die Schwester blieb bitterlich weinend auf dem Bahnhof zurück

Mitkommen wollte sie nicht. Zu gefährlich, sagte sie.  Immerhin habe sie zwei Kinder und Verantwortung. Sie komme nach. „Aber ich glaubte nicht daran, je einen von meiner Familie wieder zusehen.“ Es war ein Abschied für immer, für die Freiheit.

Die Fahrt war endlos lang, erst nach Dresden. Der Bahnhof sah schlimm aus. Demonstranten hatten ihn demoliert. Der Anschlusszug nach Prag kam pünktlich und sie war damit beschäftigt, ihrem Sohn zu erzählen, wo sie Urlaub machen wollten, falls jemand fragte. Bis dahin war alles gut. Aber was war in Prag? Sie stand verloren auf dem Bahnhof und wusste nicht, wie es weiter gehen sollte. In einer Hand den Koffer und in der anderen ihren Sohn. Das war alles, was sie jetzt noch besaß. Sie schaute sich um und bemerkte hinten in einer Ecke eine Gruppe junger Leute. Sie fasste sich ein Herz und ging zu ihnen und fragte, ob sie deutsch sprächen. „Alles Deutsche, willst du mit?“ Ja, sagte sie und gehörte ohne große  Worte dazu. Sie wurden von einem Mann in gebrochenem Deutsch angesprochen, ob sie zu den Zügen wollten. Er würde sie dort hin bringen, dass würde allerdings Geld kosten. „Wie viel?“ fragten alle. „Alles was ihr habt!“, antwortete er. Einer aus ihrer Gruppe, der später ein guter Freund wurde, senkte den Kopf,  sagte: „Ich hab nichts.“ Kurz entschlossen legte jeder alles, was er hatte, auf einen Haufen. Auch sie. Es war ihre einzige Sicherheit, jetzt war sie weg.

Malteser, Malteser

Sie setzte alles auf eine Karte entgegen ihrer Überzeugung, auf Vertrauen. Gemeinsam ging es quer durch Prag und der mysteriöse Mensch versicherte ihnen genau zu wissen, wo der Ort sei. Der junge Mann ohne Geld trug ihren Sohn auf den Schultern, damit er Schritt halten konnte. Alle waren erschöpft. Sie glaubten schon nicht mehr daran jemals einen Zug oder einen Malteserwagen zu erblicken und schmiedeten schon Pläne, wie sie alle ihr Geld zurückbekämen,  als sie plötzlich da waren. Ein Gleis auf einem kleinen Bahnhof, Malteserkreuze überall. Sofort stimmte ein Sprechchor an. Malteser, Malteser. Es war kaum zu glauben, es gab sie wirklich. Die Züge, sie standen einfach da. Kein Zaun, keine Kontrolle. Sie kamen ihnen entgegen, nahmen ihnen ihre Kinder ab und kümmerten sich um sie. Sie klopften dem jungen Mann, der sie dorthin brachte, dankbar auf die Schultern. Alle konnten einsteigen und waren in Sicherheit. Glaubten sie zumindest einige Zeit. Der Zug fuhr an und die Stimmung wurde gelöster,  Freundschaften wurden geschlossen, jeder erzählte seine Geschichte.

„Ich schloss mit einer Mutter von zwei Kindern Freundschaft. Wir brauchten uns und gaben uns Kraft.“ Erzählte sie mit bewegten Worten. „An der lang ersehnten Grenze angekommen, blieb der Zug stehen. Lange, Stunden, langsam hofften wir nicht mehr auf ein gutes Ende, bis plötzlich Bewegung im Zug war. Es war nachts und die Kinder schliefen. Immer noch in dem Glauben, wir würden in den Urlaub fahren. Das war auch gut so. Wir waren mittlerweile dreißig Stunden auf den Beinen. Deutsche und Tschechische Vopos (Volkspolizisten) gingen durch den Zug. Wo die auf einmal her kamen? Die Waffe geschultert und von Hunden begleitet. Jetzt ist alles aus, dachten wir. Wir tauschten schnell die Adressen unserer Familien, damit wir sie für den Fall benachrichtigen konnten. Meine neue Freundin hatte da schon Erfahrungen gesammelt. Sie hatte schon einmal einen Fluchtversuch gestartet, der missglückt war. Sie hatte versucht, sich in einem LKW zu verstecken. Damals hatte sie noch keine Kinder. Dafür musste sie einige Zeit in Bautzen hinter schwedischen Gardinen sitzen. Dort kamen die Politischen hin. Die Kinder wurden unsanft aus ihren Träumen geweckt. Jeder wurde kontrolliert und musste seine Papiere vorzeigen. Keiner wurde aber gefragt, wo er hin wolle. Man sah draußen in der Dunkelheit einige Menschen über den Acker rennen. Später erfuhr ich, dass es  Leute waren, die krumme Sachen gemacht hatten und sich so verziehen wollten. Sie kamen nicht weit, der Zug war umstellt. Wir hatten aber nichts zu befürchten. Man ließ uns in Ruhe, und der Zug fuhr irgendwann los. Endlich - über die Grenze. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Wir saugten jedes Stückchen Land auf das sich uns zeigte und waren überglücklich.“

Applaus für den Bundesgrenzschutz

Der erste Ort nach der Grenze war Schirnding, dort empfingen sie Malteser und viele andere Menschen. Sie begrüßten sie, hatten Essen, Trinken, trugen Transparente und hatten Decken und Spielzeug für die Kinder. Jetzt wachte auch ihr Sohn auf und erlebte, was um ihn geschah. Endlich konnte sie ihm erzählen, wo sie waren. In Sicherheit und in Freiheit. Die vielen Menschen, die uns erwarteten, es war unfassbar, einfach unglaublich. Der Bundesgrenzschutz kam durch die Züge und wurde mit Applaus begrüßt. Er klärte die Menschen darüber auf, dass es besser sei, im Zug zu bleiben und mit nach Oldenburg in ein Auffanglager zu fahren. Dort würde man Papiere bekommen und Unterkunft fürs Erste. Sie wollte eigentlich in Braunschweig aussteigen und auf dem schnellsten Weg ihrer Tante in die Arme fallen. Aber dies war wohl der vernünftigere Weg. Es würde sonst sehr lange dauern, bis man Papiere bekommt, wurde gesagt. Es war alles so aufregend dass sie ihre Familie und den Trennungsschmerz darüber vergaß. Währenddessen musste ihre Schwester zu Hause erzählen, was geschehen war. Fassungslosigkeit und auch Verzweiflung. Ihr Vater war am Boden zerstört. Ihre Mutter weinte.

Am nächsten Tag bekam sie 400 Mark Überbrückungsgeld und ihre Papiere. Einen westdeutschen Personalausweis. Einige Schriftstücke, die besagten, dass sie jetzt ein Flüchtling ist. Im Lager herrschte ein buntes Treiben, viele Menschen waren dort. Mit ihren Hoffnungen, ihren Träumen, jeder hatte seine ganz persönliche Geschichte. Leider auch welche, die eine Zumutung  waren und dachten, der Staat wird sich kümmern so wie in der DDR. Familien mit vielen Kindern und einige dubiose Gestalten. Auch ihre Freundin war nicht das, was sie vorgab zu sein. Sie hatte ihr den Rest von ihrem Geld gestohlen. Von dem anderen Teil hatte sie sich schon eine Fahrkarte nach Braunschweig gekauft. Hätte sie gefragt, sie hätte es ihr gern gegeben. Sie wollte da nur noch weg. Sie fasste sich ein Herz und telefonierte mit ihrer Tante, dass sie in Oldenburg sei. Der Abschied von einigen lieb gewonnenen Menschen fiel schwer. Besonders von dem jungen Mann, der in Prag kein Geld hatte. Aber auch das war ein Abschied für immer. Sie saß im Zug, ihre Hände berührten die Fensterscheibe. Das Erlebte hatte sie zusammengeschweißt. Sie würde ihn nie vergessen. Er wollte weiter nach Australien. Ob er seinen Traum erfüllen konnte? Sie weiß es nicht. Er war Schuster, das weiß sie noch. In Braunschweig wurde sie erwartet von lieben Menschen, es war wieder ein Stück Familie. Ihre Tante hatte inzwischen bei ihren Eltern angerufen, dass alles in Ordnung sei. Die Erleichterung war groß. Auf beiden Seiten.

Trabi-Schlangen an der Grenze

Ein paar Tage Ruhe taten gut. Sie musste sich sammeln und sehen, wie es weiter geht. Das Leben wartete. Behördengänge waren nötig und Arbeit musste her. Hilfe bekam sie von vielen, und sie ist ihnen heute noch dankbar dafür. Ein paar Tage Ruhe waren schnell vorbei, als ihre Tante rief, komm her das musst du sehen, die Grenze sie ist offen. Im Fernsehen zeigte man Bilder von Menschen die durch die Grenzen strömten, in Massen. Sie saß wie versteinert vor dem Gerät. Ungläubig blickte sie in Richtung Mattscheibe. Es war der 9.November 1989  um 18.53 Uhr. Sechs Tage nach ihrem unglaublich mutigen Entschluss wegzugehen. Alles hinter sich zu lassen und in eine ungewisse Zukunft zu fahren. In der Zwischenzeit haben andere gekämpft, sind auf die Straße gegangen und haben die Mauer überwunden. Ein Tag, der in die Geschichte eingehen würde. „Wir hatten Geschichte geschrieben“, sagte sie stolz. „Ich war zumindest mitten drin. Meine Familie setzte sich sofort in ihren Trabi und fuhr sich anstellen, aber nicht nach Bananen an dem kleinen Gemüseladen sondern an der Grenze. Es war das längste Anstehen, seit sie denken konnten", scherzte sie.

Die Bilder von kilometerlangen Trabant-Schlangen gingen um die Welt. Stunden später fielen sie sich in die Arme. Ein Wiedersehen, an das niemand geglaubt hatte. Sie fand vier Wochen später Arbeit bei meiner Mutter in einer Verpackungsfirma. Eine Wohnung fand sich auch schnell. Ein Jahr später lernte sie ihren jetzigen Mann kennen, auch er war vom Fieber mitgerissen worden und ist zur Grenze gefahren, um das Ereignis nicht zu verpassen. Er zeigte ihr die Welt. Die Berge in der Schweiz, die sie nur von Postkarten kannte. Sie standen auf einem Parkplatz, schauten in Richtung Gipfel und schwiegen. Er verstand sie. Nun lebt sie schon fast zwanzig Jahre bei ihm in einem kleinen Dorf bei Gifhorn. Vieles hat sich in der Zeit verändert. Ihr Sohn ist erwachsen und ihre Heimat nicht wieder zu erkennen. Die Schokoladenfabrik, in der ihr Opa damals das Zepter schwang, erlebte einen Aufschwung wie viele Betriebe. Sie wurde vollständig rekonstruiert. Heute kann man auch in Braunschweig Hallorenkugeln aus Halle kaufen. Sie hat sogar einmal eine Verpackung in ihrer Firma für Halloren entworfen. Oft denkt sie, wenn er das sehen könnte. Dann hat sie Heimweh. Ihr Vater tröstet sie  und sagt „Du hast das Richtige getan.“ Dann weht ihr der Westwind ins Gesicht, und im Herzen trägt sie den Ostwind.

Gabriele Kopmann

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