zum Hauptinhalt
Werfen zum Teil Fragen auf: Vier Millionen getrocknete Pflanzenteile lagern im Botanischen Museum.

© Christiane Patic

Detektivarbeit im Botanischen Museum: Den Pflanzen auf der Spur

Im Citizen-Science-Projekt „Die Herbonauten“ beteiligen sich Freiwillige an der Entschlüsselung alter Notizen aus der botanischen Sammlung.

Von Anne Kostrzewa

Etwa vier Millionen Herbarobjekte sind im Botanischen Museum Berlin zu Hause: getrocknete Pflanzenteile aus aller Welt, teils Hunderte Jahre alt und spärlich von Hand beschriftet. Anton Güntsch leitet das Zentrum für Biodiversitätsinformatik und Sammlungsdatenintegration (ZBS) und möchte das Rätsel um die alten Herbare lösen. „Unser Ziel ist es, alle Belege zu digitalisieren, damit sie weltweit frei zugänglich sind.“

Weil die Kuratorinnen und Kuratoren der Sammlung das unmöglich leisten können, kam dem Team die Idee, Freiwillige an dieser Detektivarbeit zu beteiligen. Inspiriert wurden sie dabei von einem französischen Projekt, dessen Software sie für sich anpassen konnten. Und dann schaute Güntschs Team einfach mal, was passieren würde. „Ohne große Erwartungen“, wie er betont. „2016 war das, und nachdem wir das Projekt bei einer Langen Nacht der Wissenschaften vorgestellt hatten, nahm es plötzlich Fahrt auf.“

Mittlerweile hat die Community mehr als 500 Mitglieder, die gemeinsam „Missionen“ erfüllen: Sie entschlüsseln die handgeschriebenen Etiketten des archivierten Herbars. Die Mission „Betulacea“, in der Birken, Haseln und Verwandte zusammengefasst sind, ist nahezu abgeschlossen. Seit Ende Januar haben mehr als 50 Herbonauten über 5000 Belege ausgewertet.

Für Ingrid-Elsa Koch war die Mission eine ganz besondere. Die 76-Jährige stieß in der Pandemie auf die Herbonauten und war froh, in der Isolation eine abwechslungsreiche und sinnvolle Ablenkung zu haben. Seitdem hat sie etwa 15.000 Belege analysiert. Die aktuelle Betulacea-Mission enthält Pflanzen aus Schlesien, aus dem Riesengebirge. „Von dort kommt mein Vater“, sagt Ingrid-Elsa Koch. „Bei meinen Recherchen wieder mit diesen Orten in Kontakt zu kommen, war sehr schön.“

Die Recherchearbeit führt die Herbonauten tief in die Vergangenheit

Die nächsten Missionen drehen sich um Moose. „Missionen helfen uns, die unglaubliche Menge an Daten greifbar zu machen, und sie ermöglichen Erfolgserlebnisse“, sagt Anton Güntsch. „Mission“ klinge auch ein bisschen nach Abenteuer. Anfangs könnten die Herbare erst einmal abschrecken, sagt Güntsch. Lasse man sich jedoch auf die Geschichten ein, die hinter den Etiketten schlummerten, werde es spannend. „Es ist unglaublich, wie viel Zeit und Akribie unsere Herbonauten in ihre Arbeit stecken“, sagt Güntsch. „Sie lesen alte Reisetagebücher, analysieren die Handschriften und tauchen dabei tief in die Vergangenheit ein.“

Ingrid-Elsa Koch sagt, die Arbeit als Herbonautin könne auf eine positive Art süchtig machen. „Je tiefer man einsteigt, desto mehr lernt man über die Regionen und die Geschichte der Länder, aus denen die Pflanzen kommen.“ Ihre erste Mission habe sie virtuell nach Tansania geführt, woraufhin sie viel über die deutsche Kolonialgeschichte herausgefunden habe – ein Thema, das sie als Anwohnerin der ehemaligen Wissmannstraße in Neukölln umtreibe.

Vertreten seien viele Menschen mit Expertise in Biologie, aus Apotheken und aus der Mathematik sowie Lehrkräfte, sagt Anton Güntsch. Wie Ingrid-Elsa Koch, die als Kinderärztin tätig war, haben die meisten Herbonauten einen akademischen Hintergrund. Dieser oder überhaupt Vorwissen sei aber nicht nötig, um bei den Herbonauten mitzumachen. Dass vor allem Ältere sich beteiligen, liege weniger an der vielen freien Zeit, glaubt Güntsch. Was diese Generation für das Projekt so besonders geeignet mache, sei ihre Fähigkeit, sich lange und intensiv mit einem Problem zu beschäftigen.

Bei den ermittelten Daten gilt stets das Vier-Augen-Prinzip: Jeder Beleg wird von zwei Herbonauten bearbeitet. Kommen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen, können sie sich austauschen. So finde sich meist schnell die richtige Lösung, sagt Güntsch. Das ZBS-Team begleitet die Forumsdiskussionen, schlichtet Uneinigkeiten und steht beratend zur Seite, etwa wenn biologische Fachbegriffe gesucht werden.

Für besonders aktive Herbonauten bietet das ZBS Workshops an. Um mehr Mitglieder zu gewinnen, könnten künftig auch Co-Autorschaften für wissenschaftliche Papers möglich sein, die mithilfe der analysierten Daten erstellt wurden. Auch die Zusammenarbeit mit Herbonauten in anderen Ländern ist geplant. Internationale Missionen also, die einen Pool von Sammlungsobjekten schaffen, die genau dort zugeordnet werden können, wo die nötige Expertise da ist. Auch die Hilfe durch Künstliche Intelligenz wird erprobt. „Bei der Arterkennung klappt das zunehmend besser“, sagt Anton Güntsch. „Das Entschlüsseln der Etiketten schafft KI aber noch nicht, dafür braucht es uns Menschen.“ Derzeit seien zehn Prozent der Herbarbelege als Fotos digitalisiert.

Sind die umfassenden Datensätze einmal vorhanden, werden sie helfen können, genauere Vorhersagen über die Zukunft unseres Planeten zu treffen: Welche Pflanzen werden aussterben? Welche sich ausbreiten oder in andere Klimazonen übersiedeln? Mit ihrer Arbeit sind die Herbonauten den Antworten bereits auf der Spur.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false