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Eine Frage hätte ich noch. Die Wähler in New Hampshire gehen oft zu den Veranstaltungen verschiedener Kandidaten. Den Unterschied machen hier nicht die Überzeugten, sondern die Unberechenbaren.

© Mike Segar/Reuters

US-Vorwahlen in New Hampshire: Der kleine Unterschied

Demoskopen werden aus den Wählern nicht schlau. Und auch die Kandidaten tun sich schwer mit dem unabhängigen Geist der Bürger von New Hampshire. Die entscheiden bei der Vorwahl oft in letzter Minute – und alle dürfen mitbestimmen.

Den Sonntag hat er sich fürs „Schaufensterbummeln“ reserviert. So nennt er das. Bill Wheeler, 59, Lehrer, hat sich bereits morgens um 10 Uhr Jeb Bush in der Woodbury School in Salem angehört. Jetzt über Mittag schaut er sich John Kasich am Community College in Nashua an, und nachmittags will er noch einen Blick auf Chris Christie im „Shooters Pub“ in Exeter werfen.

Gewiss, das sei eine Menge Fahrerei kreuz und quer durch den nordöstlichen US-Bundesstaat New Hampshire, den „Granite State“, zumal bei den winterlichen Verhältnissen. Eine Schneeschicht bedeckt die schwarzwaldähnliche Landschaft mit ihrem Wechsel aus Anhöhen, Nadelbäumen, Flusstälern und Felsen. Die Parkplätze vor den Schulen und Colleges, wo die Kandidaten auftreten, sind oft vereist. Von den Vordächern hängen Eiszapfen. Für den Wahltag am heutigen Dienstag ist Schneefall angekündigt.

Doch in diesem Jahr, sagt Bill Wheeler, darf keine Mühe zu groß sein. 2016 haben die Bürger von New Hampshire eine ganz besondere Verantwortung bei der Auswahl der Präsidentschaftskandidaten. „Es kann zu vieles schiefgehen, wenn ein Dummkopf es wird. Die Mittelklasse bekommt immer weniger vom Kuchen ab. Das Rentensystem hält nicht mehr lange durch. Und die Terrorgefahr durch den IS steigt.“

"Primary" statt "Caucus"

Ist er Republikaner? „Nein“, wehrt er lachend ab. „Schon lange nicht mehr.“ Früher sei das anders gewesen, da hätte er sich als liberalen Republikaner eingeordnet. Bevor die Partei „viel zu weit nach rechts gerückt“ sei. George H. W. Bush hat er 1988 und 1992 noch gewählt. Danach fast nur noch Demokraten. „Bill Clinton ist zwar ein Gauner, aber ein pragmatischer Gauner, der Kompromisse zwischen den Lagern hinbekam“, sagt er. Barack Obama sei ihm sympathisch, doch zu weit links. Die Gesundheitsreform habe er völlig vergeigt. Und in der Außenpolitik habe niemand mehr Respekt vor Amerika.

New Hampshire ist ein ganz besonderes Pflaster. „Common Sense“ und Selbstverantwortung werden hier hoch geachtet. Es ist der einzige Bundesstaat, in dem man straflos gegen die Anschnallpflicht verstoßen darf. „Live free or die“ steht als Motto auf den Autokennzeichen. Das spiegelt sich auch in den legendären „Independents“, den nicht parteigebundenen Bürgern. Bill Wheeler ist einer ihrer typischen Vertreter. Sie geben bei der Vorwahl in dem Neuenglandstaat den Ton an. Und sie bringen die Demoskopen immer wieder zur Verzweiflung, weil ihr Verhalten so schwer vorherzusagen ist.

Das beginnt schon mit dem Wahlsystem, das einen scharfen Kontrast zur ersten Vorwahl in Iowa bildet: „Primary“, eine allgemeine Wahl, statt „Caucus“, den Parteiversammlungen. Daraus leitet sich auch ab, dass man das Ergebnis von Iowa in New Hampshire nicht sonderlich ernst nimmt und gerne konterkariert.

Die Moderaten gegen Trump

Die Vorwahl in New Hampshire sei in Wahrheit die erste richtige Wahl, heißt es. Der Staat organisiert sie, die Wahllokale sind den ganzen Tag geöffnet. Alle Bürger dürfen teilnehmen und sich noch in letzter Minute umentscheiden, in welchem Lager sie abstimmen wollen. 26 Prozent sind Demokraten, 30 Prozent Republikaner. Den Ausschlag aber geben die „Independents“, mit 44 Prozent. Sie korrigieren das Resultat von Iowa meistens. In Iowa liegen bei der Republikanern meist die Lieblinge der religiösen Rechten vorn. New Hampshire favorisiert dann einen moderaten Kandidaten. Bei den Demokraten siegen in Iowa häufig Vertreter des linken Parteiflügels. New Hampshire bevorzugt oft einen Pragmatiker.

Bill Wheeler weiß noch nicht, wen er am heutigen Dienstag wählen wird. Er hat sich aber entschieden, im republikanischen Lager abzustimmen, – „weil meine Stimme dort den größeren Einfluss hat“. Bei den Demokraten, meint er, liefe es am am Ende ja doch auf Hillary Clinton hinaus. Genau genommen, das wird im Laufe des Gesprächs immer klarer, möchte Wheeler taktisch wählen und mit seiner Stimme dazu beitragen, dass Ted Cruz und Donald Trump nicht so gut abschneiden. Beide sind ihm zu extrem.

Deshalb interessiert er sich für Jeb Bush, John Kasich und Chris Christie. Moderate Kandidaten, die als Gouverneure Regierungserfahrung gesammelt haben. Das vermittelt ihm Vertrauen. Ginge es allein nach der Sympathie, würde er wohl für Kasich stimmen, weil der „einen positiven Wahlkampf führt“ und es „ablehnt, das Land und die anderen Kandidaten schlechtzureden“. Doch für Bill Wheeler zählt noch etwas anderes: Wem traut er es am ehesten zu, sich durchzusetzen? Denn das sei doch klar, sagt er: Nur wenn sich schon bald alle moderaten Stimmen auf einen der drei konzentrieren, wird dieser eine sowohl Ted Cruz und Donald Trump als auch Marco Rubio – den Wheeler für zu unerfahren hält – besiegen. Im Schnitt der Umfragen liegt Trump bei 31 Prozent, Rubio bei 14, Kasich bei 12, Bush bei 10 und Christie bei 5 Prozent. Gemeinsam haben die Moderaten mehr Zustimmung als Trump.

Jeb Bush krempelt die Ärmel hoch

Bill Wheelers Sicht der Lage im Wahljahr 2016 und seine taktischen Überlegungen sind nicht untypisch, das zeigen Gespräche bei anderen Versammlungen, etwa bei Jeb Bushs Auftritt am Morgen in Salem. Ann, eine kräftige Brünette Mitte 40, findet Donald Trump und Ted Cruz „abstoßend“. Deren „spalterische Töne“ gegen Latinos und gegen Muslime – „das ist doch nicht amerikanisch“.

Noch ehe sie weiter ausholen kann, wird sie unterbrochen. Die rund 300 Leute im Raum erheben sich zum „Pledge of Allegiance“: dem gemeinsamen Treueschwur auf die Flagge und die Republik. Dann kommt Jeb Bush auf die Bühne – freundlich, vernünftig, brav. Als Einziger im Raum trägt er eine Krawatte, ihre Farbe ist ein unscheinbares Graublau. Dafür hat er die Ärmel seines weißen Hemds hochgekrempelt, was wohl energisches Anpacken suggerieren soll.

Je länger er detailliert und präzise über die Aufgaben redet, desto mehr ist zu spüren, wie sich Respekt im Saal ausbreitet. Er will Schulden abbauen, das Budget ausgleichen, so wie er das als Gouverneur in Florida gemacht hat. Die Bildungs- und Schulpolitik solle den Einzelstaaten überlassen bleiben. Der Klimawandel sei eine große Gefahr – „und natürlich haben Menschen ihren Anteil daran“. So widerlegt er ganz nebenbei die häufige Behauptung der Demokraten, dass alle Republikaner diese Zusammenhänge leugnen.

20 Minuten dauert seine Rede. Doppelt so viel Zeit nimmt er sich für Fragen aus dem Publikum, auch das gehört zu den Eigenheiten von New Hampshire. Was will er gegen die illegale Einwanderung tun, wie ein Studium wieder bezahlbar machen und wie den Terror bekämpfen? Und dann hat ein junger Afroamerikaner das Mikrofon in der Hand – und auf einmal fällt auf, dass republikanische Veranstaltungen hier oben im Nordosten ein eher untypisches Publikum haben, gemessen an der Vielfalt der USA: zu viele Weiße, kaum Schwarze, Latinos, Asiaten.

Große Ziele oder mühsame Kleinarbeit

Jeb Bush wirkt plötzlich hoch konzentriert und spannt die Muskeln an, als rechne er mit einer Provokation eines Fans von Hillary Clinton oder Bernie Sanders. Er heiße Victor Sims und sei Student in Florida, sagt der junge Mann. Er habe dort lange in einem Waisenhaus gelebt, sei aber schließlich adoptiert worden. „Wie alt waren Sie da?“, unterbricht Bush. „Elf Jahre.“ – „Dann war das in meiner Gouverneurszeit.“ Bush kommt in Fahrt. Damals habe er die Waisenhäuser und das Adoptionsprogramm reformieren müssen, nachdem es einen Skandal gegeben hatte. Aus dem Einzelfall leitet er eine generelle Lehre ab. Dies sei die Kernfrage an politische Kandidaten: Reden sie nur über große Ziele, oder sind sie bereit, die mühsame Kleinarbeit zu machen, wenn unerwartete Probleme auftauchen?

„Ich kann Ihnen versprechen, dass Überraschungen auf den nächsten Präsidenten zukommen. Ich kann zwar nicht vorhersagen welche, aber ich weiß, dass unerwartete Herausforderungen nicht ausbleiben“ – wie der Terroranschlag von 9/11. „Wen Sie dann im Weißen Haus haben wollen, ist auch eine Charakterfrage.“ Bush wendet sich zurück an Victor Sims. „Ich freue mich, dass meine Reform Ihnen geholfen hat, von einer Familie adoptiert zu werden, und dass sie jetzt studieren können.“ Lang anhaltender Beifall im Saal.

Ein schwarzer Student aus Florida als Stichwortgeber, damit Jeb Bush sich in New Hampshire profilieren kann? Ist das ein Zufall? Ja, stellt sich später im Gespräch mit Victor Sims heraus. Er ist kein verkappter Wahlhelfer, sondern mit einem Kurs seiner Uni zur Wahlkampfbeobachtung hierhergekommen.

Hillary Clintons tut sich schwer

Mittags in Nashua. John Kasich liefert sich zwischen zwei Auftritten eine kleine Schneeballschlacht mit Wahlhelfern. Das sind gute Bilder fürs Fernsehen, die ihn wieder einmal als den lockeren, freundlichen Mann aus Ohio zeigen. Mehr als alle anderen hat er sein Schicksal an einen Erfolg in New Hampshire geknüpft, hat ganz überwiegend hier Wahlkampf geführt in der Hoffnung, die Independents auf seine Seite zu ziehen. „Und wenn das am Dienstag nichts wird, kehre ich nach Hause zurück.“

Nicht nur Bill Wheeler, auch Ann, die Brünette, hatte bei Jeb Bushs Veranstaltung in Salem gesagt, dass Kasich ihre erste Wahl sei – sofern die weiteren Umfragen ihn nicht als aussichtslosen Kandidaten ausweisen. Dann wäre eine taktische Stimme für Kasich eine verlorene. Das warten beide also noch ab, ehe sie am Dienstag wählen gehen.

Chris Christie hingegen haben sie im Grunde schon wieder aus ihrer engeren Wahl genommen. Ja, sie hätten den beleibten Gouverneur von New Jersey dafür bewundert, wie er in der TV-Debatte in der Nacht zu Sonntag Marco Rubio und Donald Trump furchtlos angegriffen habe. Aber Christie sei eben auch aalglatt. Wieder einmal bewahrheitet sich: Das Publikum liebt den Favoritenmord, nicht aber den Favoritenmörder.

Auch Hillary Clinton tut sich schwer mit dem unabhängigen Geist der Bürger hier. Am Freitagnachmittag muss sie im New England College in Henniker mehrfach auf Fragen nach ihrer Glaubwürdigkeit antworten. Es gibt einiges, das für Misstrauen sorgt. Ihre hohen Redehonorare von Banken etwa. Oder die „E-Mail- Affäre“: während ihrer Zeit als Außenministerin hatte Clinton einen privaten Mail-Account für Dienstmails genutzt.

Müssen Frauen für Clinton stimmen?

Es sind ausgerechnet junge Frauen, die nach diesen Fakten und Vorfällen fragen. Das ist besorgniserregend für Hillary Clinton. Die politischen Themen beherrscht sie bis ins Detail, wofür sie spürbar Respekt erntet. Doch Sympathien kann sie in Henniker nicht gewinnen.

Morgens bei einem Auftritt in Concorde hatte Clinton noch Madeleine Albright an ihrer Seite, US-Außenministerin unter Bill Clinton. Die warb gezielt und humorvoll beim weiblichen Publikum für Solidarität unter Frauen: „Denkt daran, in der Hölle gibt es eine spezielle Abteilung für Frauen, die anderen Frauen nicht helfen.“ Doch selbst die unzweifelhafte Sympathie für Albright überträgt sich nicht einfach auf Hillary. Dass sie die erste weibliche Präsidentin wäre, macht sie nicht automatisch zu einem Vorbild der weiblichen Wähler. Einige Feministinnen, darunter Gloria Steinem, führen jetzt diese Debatte: Müssten Frauen nicht für Clinton stimmen? Doch die weiblichen Sanders-Fans protestieren: Lächerlich sei es, eine Wahlentscheidung vom Geschlecht abhängig zu machen.

Eigentlich ist New Hampshire bisher immer gut zu den Clintons gewesen. 1992 wurde Bill hier mit einem überraschenden zweiten Platz zum „Comeback Kid“, nachdem er in Iowa untergegangen war. Auch Hillary fand 2008 mit einem unerwarteten Sieg in New Hampshire ins Rennen zurück, nachdem sie in Iowa nur einen enttäuschenden dritten Platz hinter Barack Obama und John Edwards belegt hatte.

2016 ist die Lage jedoch umgekehrt. Hillary Clinton kommt nicht als eine Geschlagene aus Iowa nach New Hampshire, der man gerne wieder auf die Beine hilft. Die Sympathien im demokratischen Lager gelten diesmal eher Bernie Sanders, der in Iowa knapp hinter Clinton lag. In den Umfragen für New Hampshire liegt er mit 53 zu 40 Prozent vorn. Am Sonntagnachmittag kommen mehr als tausend Menschen ins Great Bay Community College in Portsmouth, um ihn zu sehen.

Auf die Unberechenbaren kommt es an

Die Versammlung wirkt denn auch wie ein Treffen von Gläubigen. Bernie Sanders hält eine Rede aus den bekannten Versatzstücken und wird immer wieder von „Bernie, Bernie“-Sprechchören unterbrochen. Er spricht sich gegen den Einfluss der Banken und der großen Konzerne aus sowie für höhere Steuern und einen Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde. „Haben wir den Mut und die Kraft, den Millionären dies zu sagen? Amerika gehört uns allen und nicht nur einer kleinen Gruppe von Reichen!“

Viele junge Leute, aber auch einige ältere Ehepaare füllen die Sporthalle, dazwischen ein paar Eltern mit Babys auf den Armen. Viele tragen die hellblauen Kampagnen-T-Shirts mit dem Namen „Bernie“ auf der Brustseite und der Aufforderung „Join the Political Revolution Today“ auf dem Rücken. Auch hier fehlen die Minderheiten: Schwarze, Latinos, Asiaten.

Eine unbeschreibliche Energie liegt in der Luft. Fragen sind nicht vorgesehen. Hier ist niemand auf der Suche, hier ist auch niemand hergekommen, um Zweifel zu äußern und diese entweder ausräumen oder bestätigen zu lassen.

Doch in New Hampshire machen am Ende nicht die Überzeugten den Unterschied aus. Sondern die unberechenbaren Unabhängigen. Wie Bill Wheeler, wie Ann und viele Zehntausend mehr.

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