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Erde

© dpa

Endzeitfantasien: Und sie bewegt sich doch noch

Das Ende naht. Seit Jahrtausenden wird der Weltuntergang prophezeit. Und immer wieder verschoben.

Die große Frage ist: Wann? Nächsten Mai. Sagt Vater Pjotr. Knapp 30 Anhänger des russischen Sektenführers warten derzeit in einer Höhle in der Wolga-Region auf den Weltuntergang. Vater Pjotr kann leider nicht bei ihnen sein, er sitzt in der Psychiatrie. Aber er versichert, dass seine Anhänger das große Finale im Mai überleben werden.

Im Laufe dieses Jahrhunderts. Besagt eine Worst-Case-Studie des US-Verteidigungsministeriums. Sie geht von einem abrupten Klimaumschwung aus, wie ihn manche Forscher als Folge der globalen Erwärmung für möglich halten. Das Szenario: Die nördliche Hemisphäre kühlt ab, die südliche erhitzt sich, Meeresströmungen kehren sich um, Windrichtungen wechseln, Pegel steigen, Landmassen versinken, andere verdorren. Verteilungskämpfe brechen aus, um Energie, um Nahrung, um Lebensraum, geführt mit Messern, mit Panzern – mit Atomwaffen. Ein letztes großes Glühen – und die Welt gehört den Kakerlaken.

„Von dem Tage aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.“ Schreibt Matthäus, der Evangelist. Und Paulus pflichtet bei, der Tag des Herrn werde kommen „wie ein Dieb in der Nacht“.

Die Frage nach dem Ende aller Zeiten: Sie hat die Menschen zu allen Zeiten beschäftigt, sie beschäftigt sie bis heute – auch wenn der religiöse Gedanke der Apokalypse, die den Übergang zu einem ewigen Gottesreich markiert, heute abgelöst ist durch die Erwartung eines endgültigen Untergangs, wie ihn etwa Roland Emmerich in seinem Katastrophenfilm „The Day After Tomorrow“ zelebriert.

Entwürfe des Weltendes finden sich, mal mehr, mal weniger explizit, in den sinnstiftenden Schriften aller Zivilisationen: in den griechischen Epen, dem Talmud, der Bibel, im Koran, den hinduistischen Veden, den Lehren Buddha Gautamas. Eine Antwort auf die Frage nach dem Wann allerdings bieten die Schriften nicht. Die Propheten der Bibel malen zwar in den grellsten Farben jenes Jüngste Gericht aus, das am Ende der Zeiten die Verdammten von den Erlösten scheiden soll: Jesaja und Ezechiel, Esra, Daniel und Johannes bieten dabei all jenen Posaunendonner und Siegelzauber auf, der bis heute die apokalyptische Fantasie des Abendlandes beflügelt – noch der serienmordende Sektenführer Charles Manson, der den Weltuntergang 1969 erwartete, wollte ausgerechnet in den friedliebenden Beatles die vier Reiter der Johannes-Offenbarung erkannt haben.

Ein Datum aber nennt die Bibel nicht. Nur einen Anhaltspunkt gibt die Offenbarung: Von „tausend Jahren“ ist die Rede, die Gottes Herrschaft auf Erden währen soll, bevor Satan entfesselt wird, bevor Gott den Endkampf entscheidet, bevor er Gericht hält und die Erlösten in ein neues Reich führt. Tausend Jahre. Ein schwacher, ein auslegungsbedürftiger Anhaltspunkt. Tausend Jahre, die mit Christi Geburt begannen? Oder erst mit seiner prophezeiten Wiederkehr? Oder, für die Juden, mit der Ankunft des wahren Messias? Brach das tausendjährige Reich mit der Etablierung der Kirche an? Oder war nur eine bildliche „Fülle der Zeit“ gemeint, wie der Klerus eilig versicherte, als die Welt nach dem ersten Jahrtausendwechsel den Untergang verweigerte?

Wann die tausend Jahre anbrechen, wann sie enden, darüber streiten in den Kirchen bis heute Prämillennialisten und Postmillennialisten, Adventisten, Preteristen und Dispensationalisten. Gemeinsam ist diesen apokalyptischen Strömungen, dass sich ihr Bild vom jüngsten Tag radikal von dem unterscheidet, was man heute mit dem Weltuntergang in Verbindung bringt – nämlich die Ausrottung der Spezies Mensch, die Vernichtung des Planeten Erde, das totale, endgültige Ende. In der religiösen Apokalypse dagegen ist das Ende die Bedingung für den Neuanfang: Erst wenn die irdische Welt vergangen ist, kann die Zeit Gottes anbrechen, „der da herrschen wird von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Der religiöse Weltuntergang ist somit nicht das Ende der Zeit, sondern das Ende der Geschichte, dieses unwürdigen Vorspiels der Ewigkeit. Den Schritt in die Ewigkeit aber ermöglicht Gott nur den Auserwählten, deren Erlösung der eigentliche Sinn der Apokalypse ist.

Kein Wunder also, dass der Weltuntergang ein so mächtiges Instrument in den Händen religiöser Führer wurde: Je glaubwürdiger das Nahen des Jüngsten Gerichts, je flammender das apokalyptische Menetekel, desto leichter lassen sich Gemeinden zu gottgefälligem Verhalten bewegen: Wer will schon auf der falschen Seite stehen, wenn Gottes großer Prozess beginnt? Wohl deshalb fand Papst Sylvester II. so leicht Gehör, als er den Weltuntergang auf den 31. Dezember 999 datierte: Die „tausend Jahre“ schienen greifbar, eine Massenhysterie erfasste die christliche Welt. Die einen büßten verzweifelt ihre Sünden ab, die anderen ließen alle Hoffnung fahren und sündigten, als gäbe es kein Morgen. Als am 1. Januar doch die Morgensonne aufging, zog Papst Sylvester sich glimpflich aus der Affäre: Er verkündete, allein seine Gebete hätten das Ende abgewendet.

Die Furcht vor dem Untergang aber blieb akut: Rund um den Jahrtausendwechsel registrierten Chronisten allerorten eine rätselhafte Fülle von Erdbeben, Überschwemmungen, Feuersbrünsten und Himmelserscheinungen. Weil der Weltuntergang vor der Tür stand? Oder weil jedes Naturereignis im Lichte des drohenden Endes wahrgenommen wurde? Die immer noch virulente Frage nach dem Wann jedenfalls mündete bald in eine neue Version: Nicht Christi Geburt war maßgeblich, sondern sein Todesjahr. Als dann 1033 auch noch eine Sonnenfinsternis Europa verdunkelte, sahen „alle, welche die Erscheinung beobachteten, sogleich ein, dass dies nur das Ende einleiten könne“, wie der Benediktinermönch Rodulfus Glaber schrieb. Halb aufatmend, halb bedauernd fügt er hinzu, dass wenig später der Himmel lachte und „zum tausendsten Jahrestag der Leiden unseres Herrn ... sanfte Lüfte wehten“.

1000 war verstrichen, 1033 ebenso – und damit war es erst einmal Essig mit den Anhaltspunkten der Offenbarung. Europas Endzeitpropheten aber ließen sich nicht entmutigen, im Gegenteil: Die folgenden Jahrhunderte wurden die apokalyptischsten in der Geschichte des Kontinents. Propheten hatten Hochkonjunktur, kaum ein Jahrzehnt verging ohne angekündigten Untergang. Der italienische Abt Joachim von Fiore entwarf bald ein dreigeteiltes Geschichtsmodell, demzufolge die Zeit vor Christi Geburt dem Vater gehört hatte, die Zeit nach seinem Tode dem Sohn, während der Eintritt in die Ära des heiligen Geistes unmittelbar bevorstand: 1260 sollte es so weit sein. Die Idee war gut. Doch die Welt noch nicht bereit.

Eins der bizarrsten Untergangsschauspiele fand zwei Jahrhunderte später in Münster statt, wo sich 1534 zwei junge, charismatische Holländer als Wiedergänger der biblischen Propheten Elia und Henoch ausgaben: Jan Matthijs und Jan Bockelson malten den Untergang so glaubhaft an die Wand, dass sich die gesamte 10 000-Einwohner-Stadt von ihrem Wahn infizieren ließ – zumal kurzerhand hingerichtet wurde, wer den Propheten widersprach. Schreiend rannten die Menschen durch die Straßen, Frauen rissen sich die Kleider vom Leib und fieberten hysterisch dem Ende entgegen. Noch als die Stadtmauern längst von Soldaten umstellt waren und Matthijs in Gefangenschaft geriet, hielt Bockelson sein Terrorregime aufrecht. Er führte die Polygamie ein und heiratete 15 Frauen, für die er die letzten Lebensmittelvorräte requirierte. Während er sich bizarre Fantasiekostüme schneidern ließ, wankten halb verhungerte Münsteraner durch leichenübersäte Straßen und nagten an Pflastersteinen. Erst die Stürmung der Stadt machte dem Spuk ein Ende. Bockelson wurde mit glühenden Eisen zu Tode gefoltert – und hatte die gespenstisch aktuelle Vorlage für jene charismatischen Sektenführer geliefert, die im 20. Jahrhundert ihre Jünger mit apokalyptischen Prophezeiungen zu ähnlich selbstmörderischem Gehorsam verführten.

Endzeitvisionen inspirierten in Bockelsons Tagen auch die christlichen Kreuzzüge, bei denen die Muselmanen als Vorboten des Antichristen interpretiert wurden – ein Thema, das in den Weissagungen des französischen Apothekers Nostradamus wiederkehrt. Sein berühmtestes Werk, die „Prophezeiungen“, erschien 1555: Bis heute bietet es Endzeitmystikern eine unerschöpfliche Quelle für den immer wieder umdatierten Untergang.

Den großen Paradigmenwechsel im apokalyptischen Denken brachte, fast zeitgleich mit Nostradamus, die kopernikanische Wende. Der Astronom Kopernikus und seine Nachfolger Kepler und Galilei versetzten die Welt aus dem Zentrum des Universums an seinen Rand – und nahmen Gott damit die Welt aus den Händen. Weil aber eine gottlose Welt auch gottlos untergehen muss, wurde ihr Untergang von nun an ein endgültiger.

Die apokalyptische Fantasie blieb dabei zunächst inspiriert vom jüdisch-christlichen Gedanken einer finalen Reinigung, eines Weltgerichts, das das Alte zerstören würde, um Platz für das Neue zu schaffen. Aus dem Geiste der Apokalypse entstand so: die Revolution. Denn wer sollte den Richterstuhl besetzen, als Gott ihn verlassen hatte? Der Mensch natürlich: um den Menschen zu retten, um seinen Feind, den Menschen, zu richten. Und glich nicht der Blutrausch der Gerechtigkeit, den in Frankreich Robespierre und Danton, den in Russland Lenin und Stalin entfesselten, tatsächlich dem Gemetzel der Offenbarung? „Wir erleben zur Zeit das Jüngste Gericht, verehrter Herr“, lässt Boris Pasternak den Revoluzzer Strelnikow in „Doktor Schiwago“ sagen: „Das Schwert und das geflügelte Tier der Apokalypse beherrschen das Feld.“ Radikaler noch ließ Hitler sein tausendjähriges Reich anbrechen: Sein apokalyptischer Säuberungsfeldzug richtete sich ausgerechnet gegen das Volk Israel, dem die alttestamentarischen Untergangsprophezeiungen einst privilegierten Zugang zur Ewigkeit garantiert hatten.

Parallel zu dieser Stoßrichtung entfachte die kopernikanische Wende jene trostlosen Visionen, die heute unser Bild vom Ende prägen: die Furcht vor der Vernichtung des Menschen durch die Natur – oder durch den Menschen selbst. Die Welt war mit Kopernikus Hilfe Gottes Zugriff entzogen worden, die Menschen hatten ihren Planeten eigenmächtig in den Himmel gehängt und im Universum verankert. Und als grause ihnen vor der kühnen Tat, begannen sie, um die Stabilität des Universums zu fürchten.

Am 26. April 1986 machte in der Ukraine ein Vers aus der Offenbarung die Runde. „Und der dritte Engel blies seine Posaune, und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel“, heißt es in Kapitel 8, Vers 10. „Und der Name des Sterns heißt Wermut.“ Das ukrainische Wort für Wermut ist: Tschernobyl. In der Stadt gleichen Namens war an jenem Tag Reaktor 4 des Kernkraftwerks „Lenin“ explodiert. Apokalyptische Stimmung machte sich breit, besonders in Deutschland: Befremdet sahen die europäischen Nachbarn zu, wie die Deutschen ihre Kinder aus Sandkästen zerrten und Strahlentabellen studierten wie biblische Prophezeiungen.

Nicht zum ersten Mal nahm die Angst vor atomarer Zerstörung damit apokalyptische Züge an. Ganz Europa war seit Jahrzehnten eingeklemmt zwischen zwei geopolitischen Polen, die einander mit dem Druck auf den roten Knopf drohten: Stanley Kubricks Weltuntergangsfarce „Dr. Seltsam“ ist nur einer von vielen Filmen und Büchern, die dem Gleichgewicht des Schreckens apokalyptische Dimensionen abgewinnen.

Zahlreich sind die Weltuntergangsszenarien des wissenschaftlichen Zeitalters: Von der Angst vor Killerviren und Gentest-Katastrophen künden Filme wie Wolfgang Petersens „Outbreak“ und Danny Boyles „28 Days Later“, von der Angst vor einer außer Kontrolle geratenen Computerwelt die „Matrix“-Filme und die Hysterie um den Millennium-Bug. Zum wirkungsmächtigsten Apokalypse-Motiv unserer Zeit aber ist der Klimawandel geworden: Spätestens seit Al Gore („Eine unbequeme Wahrheit“) und Leonardo DiCaprio („Die elfte Stunde“) ist bekannt, dass auch die ehrenwerteste Mission durch messianischen Eifer vergeigt werden kann.

Bleibt anzumerken, wie viel düsterer das Weltende geworden ist! Einst führte die Apokalypse ein Volk von Erwählten in lichtere Zeiten. Heute profitieren vom Untergang allein Ratten und Kakerlaken.

Bleibt noch die Frage: Wann?

Die Antwort kennt Gott. Nicht der liebe Gott, sondern Richard Gott, ein Astrophysiker der US-Universität Princeton, dem die Welt das sogenannte Doomsday-Argument verdankt. Die Idee hatte Gott 1969 bei einem Besuch der Berliner Mauer: Er fragte sich, wie lange das Bauwerk wohl noch stehen würde. Mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit, sagte er sich, besuche ich die Mauer in den mittleren 50 Prozent ihrer Existenzphase. Seit ihrem Bau sind acht Jahre vergangen, das entspräche dann mindestens 25 Prozent und höchstens 75 Prozent ihrer Lebensdauer. Sie wird demnach noch mindestens zweieinhalb Jahre existieren, aber nicht länger als 24 Jahre. Gott gelang also die Voraussage, dass die Mauer mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen 1971 und 1993 das Zeitliche segnen würde. Und siehe: Gott behielt Recht.

Der Wissenschaftler übertrug das Gedankenexperiment auf die Existenzdauer der Spezies Mensch. Um seine Prognose wissenschaftlich aussagekräftig zu machen, erhöhte er die Wahrscheinlichkeit auf 95 Prozent, was natürlich die prognostizierte Zeitspanne verlängert. Seit etwa 200 000 Jahren, sagte sich Gott, bewohnen wir diesen Planeten. Mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit werden wir ihn nicht länger als 3,8 Millionen Jahre bewohnen, aber noch mindestens 10 500 Jahre.

Das beruhigt. Zumal sich Gotts Methode auf fast alles anwenden lässt: Sie, lieber Leser, haben jetzt zum Beispiel 367 Zeilen dieses Artikels gelesen. Somit bleiben, mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit, noch 19 bis 6973 Zeilen.

Manchmal allerdings ist das Ende näher,als man denkt.

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