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Die IG Metall ruft mit ihrem Werbespot zur Wahl auf.

© Tsp

Wie virale Werbung wirkt: Achtung! Ansteckend!

Virale Videos verbreiten sich wie Mund-zu-Mund-Propaganda im Netz. In kurzer Zeit können Unternehmen so zahlreiche Menschen erreichen. Doch welche Clips am Ende tatsächlich geteilt werden, ist für Werbeprofis nur schwer berechenbar. Beim "Metallmix" hat's geklappt.

Es ist vielleicht das genialste Wahlversprechen des Jahres: Am Ende des Wahlabends wird es eine Überraschung geben – aber nur, wenn ihr wählen geht.

Knapp drei Minuten dauert der Wahlwerbespot der IG Metall, in dem die Macher ein Sammelsurium an Skurrilitäten aus dem Netz fetzig zusammengeschnitten und mit der einfachen Botschaft verknüpft haben: „Geh wählen!“ In den sozialen Netzwerken hat sich diese überparteiliche Botschaft in den vergangenen Wochen wie ein Lauffeuer verbreitet. Der „Metallmix“ ging viral.

Mehr als eine Millionen Mal wurde der "Metallmix" angeklickt

Viralität, das ist die Mund-zu-Mund-Propaganda des digitalen Zeitalters und so etwas wie der Heilige Gral der Werbeindustrie. Alle versuchen das Geheimnis zu lüften, wie ein Clip garantiert viral wird. Doch die Nutzer haben sich hinter einer Festung aus Ad-Blockern verschanzt. Werbung erreicht sie oft nur noch, wenn sie danach suchen. Da kann Viralität ein mächtiges Marketing-Instrument sein – und ein vergleichsweise günstiges dazu.

An Tag eins haben den „Metallmix“ gerade mal 200 Leute gesehen, berichtet Rainer Zugehör, Geschäftsführer der Agentur Moving Image 24, die den Clip zusammengestellt hat. An Tag drei waren es dann schon 750 000. Nach einer Woche hatten mehr als eine Million Menschen das Video gesehen. „Dass es so gut läuft, kann man nicht wissen, nur hoffen“, sagt Zugehör. „Darauf gibt es keine Garantie im Netz.“

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Statt teure Spots in Fernsehen und Radio zu schalten, machen die Unternehmen einfach die Nutzer der sozialen Netzwerke zu Botschaftern ihrer Marke. Der durchschnittliche Facebook-Nutzer hat 140 Freunde, meist Menschen aus der gleichen Zielgruppe und mit ähnlichen Interessen. Wenn nur ein Bruchteil davon das Video ansieht und wiederum mit seinen Freunden teilt, lässt sich so in kurzer Zeit eine Reichweite in Millionenhöhe erreichen.

Wie aber bringt man die Nutzer dazu, ein Video zu teilen? Was macht einen Inhalt viral, also ansteckend? An Rezepten und Formeln mangelt es wahrlich nicht, beobachtet der Webvideo-Experte Markus Hündgen. Und trotzdem schafft nur ein Bruchteil der viral gedachten Videos den Durchbruch. „Der größte Fehler, den man machen kann, wenn man ein virales Video produzieren will, ist ein virales Video produzieren zu wollen“, sagt Hündgen, der auch Geschäftsführer der European Web Video Academy ist. Eine Formel, die immer funktioniert, wurde noch nicht gefunden und wird es auch nie geben, glaubt er.

Virale Videos brauchen eine Aussage

Virale Videos brauchen eine Aussage. Politische Botschaften eignen sich deshalb besser für die Verbreitung im Netz als platte Werbung, darin sind sich die Experten einig. Doch davon lassen sich die Werber nicht unterkriegen. Seit 2007 habe sich die Teilrate von kommerziellen Videos verzehnfacht, schätzen Experten. Das ist sicherlich auch den immer ausgefeilteren Methoden geschuldet. Denn hinter den vermeintlich viralen Inhalten verbirgt sich meist weitaus mehr als eine gute Idee. Für gewöhnlich wird kräftig nachgeholfen, durch sogenanntes Seeding, also das gezielte Streuen und Platzieren der Videos im Netz.

Mit Viralität habe das wenig zu tun, kritisiert Hündgen. „Dieser Begriff des viralen Videos ist eigentlich ein reiner Marketingbegriff“, sagt er. Letztendlich sei Seeding nichts anderes als das Äquivalent zur Platzierung eines Spots zu einer bestimmten Sendezeit im Fernsehen. „Man bedient sich nur einfach neuer Werkzeuge, nämlich sozialer Medien.“

Die neue Technik lässt aber auch eine neue Präzision zu. In den Spezialagenturen beobachten ganze Teams den Verlauf der Kampagne in Echtzeit und greifen ein, wo es geboten scheint. „Es ist schon fast wie eine Wahlkampfstrategie“, sagt der Experte. Nichts wird dem Zufall überlassen. Das Technologieunternehmen Unruly aus den USA will sogar einen Algorithmus entwickelt haben, mit dem sich die „Shareability“, also die „Teilwahrscheinlichkeit“ und damit der Erfolg eines viralen Videos vorhersagen lässt. „Unser Ziel ist, dass Kunden nicht mehr nach ihrem Bauchgefühl gehen müssen, sondern dass sie vertrauenswürdige Daten haben, auf denen sie ihre Kampagne aufbauen können“, sagt Martin Dräger vom Hamburger Unruly-Büro. Dafür sammelt das Unternehmen nicht nur riesige Datenmengen aus dem Social Web. In Testgruppen von 150 bis 200 Leuten wird auch die Wirkung der Werbevideos untersucht. So zeichnet eine Kamera die Mimik des Probanden auf. Eine Software wertet die Emotionen aus. So lässt sich beispielsweise genau bestimmen, an welcher Stelle im Video der Zuschauer gelacht oder angeekelt das Gesicht verzogen hat. Noch präziser ist freilich die Messung von Gehirnströmen.

Ein Algorithmus wertet die Emotionen aus

Virale Videos müssen Emotionen auslösen, heißt es oft. Im Social Video Lab von Unruly weiß man angeblich sogar, welche das sind. Die Marktforscher nennen sie auch „psychologische Trigger“. 18 verschiedene Impulse soll es geben. „Zum Beispiel Ausgelassenheit, Angst, Zorn, Humor oder soziale Zugehörigkeit“ , erläutert Dräger, „das sind alles Impulse, Emotionen, die ich wecken kann mit einem Video und die dann wiederum erzeugen können, dass ein Video geteilt wird.“ Die Erfahrung habe gezeigt: Ein gutes virales Video bedient drei oder vier dieser Impulse. Welche Impulse angesetzt werden, hängt von der Zielgruppe ab.

Aber ist der Mensch wirklich so berechenbar? Nach Angaben von Unruly haben erste Tests ergeben, dass der Algorithmus mit seinen Vorhersagen zu 80 Prozent richtig liegt. Über den Preis seiner Dienstleistung schweigt sich Unruly aus. Zu den Kunden gehören Unternehmen wie Volkswagen, Coca Cola, Adidas, Heineken, Dove, Evian, Sony. Dräger bestätigt: Die Budgets für virale Kampagnen haben sich seit 2006 vervielfacht. „Ich glaube, wir nähern uns mehr und mehr den Gesetzmäßigkeiten des TV-Budgets an“, so Dräger. „Und da ist es so, dass man ungefähr ein Zehntel, ein Zwanzigstel für die Produktion ausgibt gegenüber der Distribution.“ Bei den internationalen Kampagnen fließen auch schon mal Millionenbeträge in das Seeding. Ein Beispiel: Eine Werbeplatzierung auf der Youtube-Startseite kostet je nach Land zwischen 28  000 und 82 000 Euro pro Tag. Aus den Überraschungs-Hits von einst ist ein großes Geschäft geworden.

Für RWE ging die Kampagne nach hinten los

Doch ihre Rechnung machen die Konzerne zu oft ohne die Nutzer. Die lassen sich nämlich nicht so ohne Weiteres zu Instrumenten der Werbeindustrie machen. Schon so manches Unternehmen musste hilflos mit ansehen, wie seine Kampagne im Internet nach hinten losging. Beispielsweise RWE. In seinem Werbespot mit dem „Energieriesen“ präsentierte sich das Unternehmen als Produzent von sauberer Energie. Greenpeace konterte daraufhin mit einem Anti-Werbespot. Die Organisation schnitt den Original-Spot um und ließ den animierten Riesen auf Atomkraftwerke blicken, die RWE in seinem Spot wohl „vergessen“ hatte zu zeigen. Aus dem Slogan „Es ist so leicht sein Großes zu bewegen, wenn man ein Riese ist“ wurde: „Schade, wenn man nichts Großes bewegt, obwohl man ein Riese ist.“ Deutlicher konnte Greenpeace kaum darauf hinweisen, dass ein Energiekonzern kein Wohltätigkeitsverein ist.

Auf so manche Überraschung würden Unternehmen und Parteien wohl gerne verzichten. Aber so berechenbar sind Menschen dann am Ende wohl doch nicht. Sie lieben Überraschungen – und werden dafür sorgen, dass es sie auch im Netz weiterhin gibt.

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