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Falsch verdächtigt wurde Salah Barhoun (gr. Foto, r.) am Donnerstag in der US-Zeitung „New York Post“. Die Bostoner Polizei informierte per Twitter (u.r.) über den Stand der Ermittlungen. Im sozialen Netzwerk VKontakter ist das Profil des mutmaßlichen Attentäters Dschochar Zarnajew veröffentlicht worden.

© AFP/ s: Tsp

Berichterstattung zu Bombenanschlägen: Boston offenbart die Schwarmdummheit im Netz

Verdächtige werden im Netz gesucht, die Polizei twittert über die Festnahme und Bewohner filmen, wie ihre Gärten durchkämmt werden: Der Fall Boston zeigt Gefahren und Chancen der Live-Berichterstattung - und neue Herausforderungen für verantwortungsvollen Journalismus.

Als Salah Barhoun am Donnerstag das Titelbild der „New York Post“ sah, konnte er seinen Augen kaum glauben. Unter der Überschrift „Bag Men“, Rucksackmänner, war ein Foto von ihm und seinem Trainer abgebildet, aufgenommen am Rande des Bostoner Marathons. Dazu die Zeile, dass sie von der Polizei gesucht würden. Barhoun war Opfer einer Hetzjagd im Internet geworden. Sie aber ist nur eines der Beispiele aus der vergangenen Woche, die zeigen, wie sehr sich die Rolle der Medien und Internetnutzer verändert hat. Und verändern muss.

Kaum waren am Montag beim Marathon zwei Bomben explodiert, drei Menschen gestorben und mehr als 100 Menschen teils schwer verletzt worden, machten sich die Ermittler an die Arbeit – nicht allein das FBI, nein, auch im Netz legten hunderte selbsternannter Agenten los. Auf den Websites Reddit.com und 4chan.org veröffentlichten sie Fotos vom Marathon, machten auf der Reddit-Unterseite „findbostonbombers“ wahllos Verdächtige aus und waren auch noch stolz darauf. Man wolle ja nur helfen, lautete der Grundtenor. Doch geriet die Hetzjagd vollkommen aus dem Ruder.

Die „New York Post“ bediente sich offensichtlich an den Bildern, die über Salah Barhoun veröffentlicht worden waren. Der Teenager stand plötzlich als Terrorist da und war fassungslos: „Ich gehe jetzt zum Gericht. Verdammt, das ist echt. Aber ihr werdet schon sehen Leute, ich habe nichts getan“, postet er auf Facebook, nachdem die Zeitung erschienen war; später sagte er dem Sender ABC News: „Das ist das schlimmste Gefühl, das ich wahrscheinlich fühlen kann... Ich bin doch erst 17.“

Die so oft bejubelte Schwarmintelligenz, sie hatte sich ins absolute Gegenteil verkehrt: in Schwarmdummheit. Die „New York Post“ verteidigte sich dennoch auf der eigenen Homepage. „Wir stehen zu unserer Geschichte... Wir haben die Männer nicht als Verdächtige identifiziert.“ Aber Bild und Überschrift sagten mehr als tausend Worte. Später machte die Zeitung klar, dass die beiden Männer keine Verdächtigen sind.

Wie sehr der verantwortungsvolle Journalismus und Internetnutzer mit den Freiheiten im World Wide Web herausgefordert sind, zeigten in der vergangenen Woche nicht nur die Beispiele der Hetzjagd und der „New York Post“. So gab CNN die Festnahme eines Verdächtigen bekannt, in Sekunden ging die Meldung um die Welt – und stellte sich fast ebenso schnell als falsch heraus. In Livetickern wurde von Terrorangst gesprochen, während Menschen aus Boston und Cambridge berichteten, dass sie die Woche zwar mit verstärkter Polizeipräsenz, aber doch als ruhig und nicht weiter aufregend erlebt hätten.

Vor allem aber haben die Ereignisse gezeigt, dass Medien neben ihrer Hauptfunktion – nämlich dem Recherchieren, Überprüfen und Verbreiten von Informationen – eine weitere übernehmen müssen, nämlich: „Ein Publikum zu lenken, das schon längst sehr viel mehr erfahren hat“, heißt es in dem Blog Buzzfeed. Im Zuge der Boston-Berichterstattung hätten die traditionellen Medien ignoriert, dass ihr Publikum regelrecht in Informationen geschwommen und diese auch im Netz geteilt habe, egal ob falsch oder richtig.

Längst haben Medien das Herrschaftswissen über Nachrichten verloren. Die Grenzen zwischen Sender und Empfänger sind aufgelöst. War es früher so, dass die Polizei ermittelte, die Medien darüber recherchierten und wiederum über die Ergebnisse berichteten, konnten sich in der vergangenen Woche alle Menschen per Kurznachrichtendienst Twitter über den aktuellen Stand informieren. Unter dem Namen @boston_police nahm die Polizei Hinweise entgegen, gab Sicherheitswarnungen heraus und vermeldete auch hier in der Nacht von Freitag auf Samstag die Festnahme des zweiten mutmaßlichen Attentäters Dschochar Zarnajew: „CAPTURED!!!“ „Gefangen!!!“.

Twitter-Nutzer aus dem Bostoner Vorort Watertown, wo nach dem Verdächtigen gesucht wurde, posteten Bilder und Videos von den Polizisten, die Vorgärten durchkämmten und sich in Stellung brachten, diese Aufnahmen wurden wiederum von den Medien aufgenommen, woraufhin wiederum die Polizei twitterte, dies doch bitte nicht zu tun, um die Ermittlungen nicht zu gefährden. Quasi in Echtzeit standen damit Medien und Publikum die Nachrichten gleichzeitig zur Verfügung. Doch können und müssen die Medien das tun, was nicht Aufgabe des Publikums ist: Sie müssen diese Informationen in einen Kontext bringen, einordnen, vor allem falsch von richtig trennen, auch, wenn das Zeit braucht.

„Die neue und bisher ungewohnte Aufgabe für Medien ist, einen Rahmen bereitzustellen für die wilden, ungeprüften und berauschenden Informationen, die ihr Publikum unvermeidlich sehen wird – und diese nicht etwa zu ignorieren“, heißt es auf Buzzfeed. Denn zu berichten, bedeute, nicht mehr länger zu überlegen, ob eine neue Information wichtig sei. Sondern vorauszusagen, welche Information eine Geschichte wie beeinflussen werde. Und diese dann zu erklären, aufzudecken und in den Kontext zu bringen, so gut es möglich sei.

Auf der Reddit-Seite „findbostonbombers“ ist inzwischen der Hinweis zu finden, dass die beiden Verdächtigen unterdessen von der Polizei identifiziert worden seien und einer der mutmaßlichen Attentäter verstorben ist. Die Seite sei deshalb nicht länger aktiv. Von einer Entschuldigung an Salah Barhoun ist nichts zu lesen.

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