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Ein Hells Angel ist Ralf Schwieger sicher nicht. Der Geistliche fährt mit dem Motorrad zwischen seinen sieben Gemeinden in Brandenburg hin und her. "Der Landpfarrer" ist eine von 20 Episoden der Dokumentationsreihe "20 x Brandenburg".

© RBB

Mark und Bein: Wo die Zeit sich Zeit lässt

„20 x Brandenburg“: 20 Dokumentationen über Menschen und Erinnerungen in einem weiten Land. Die RBB-Reihe will an den Erfolg von "24 Stunden Berlin" anschließen und ist doch deutlich anders.

Der Landpfarrer von Friedrichswalde versorgt sieben Gemeinden mit tausend Schäfchen. Er muss praktisch denken, trinkt nach der Hochzeit ein Gläschen auf Ex, gleich ist noch eine Beerdigung dran. Er dirigiert die Ministranten, macht die Rockmusiker für die Bikermesse klar und hat auch für das alte Ehepaar ein paar Tipps für die Diamantene Hochzeit parat. Über Land fährt er mit dem Motorrad, ein resoluter, schwarz gewandeter Engel mit gebauschten Soutanen-Flügeln.

Steffen ist Gärtner in Tropical Islands an der Autobahn Dresden–Berlin. Er macht Führungen durch den Indoor-Regenwald, er sagt: „Pflanzen können einen selten enttäuschen.“ Er ist 32, seine Familie hatte die größte Gärtnerei in der Gegend, seit Generationen, nach der Wende war damit Schluss. Hinter dem Haus verrotten die Glashäuser. Die knallbunte Welt von Tropical Islands sieht aus, als habe sich die Natur ein Clownskostüm übergestreift.

Acha hat es aus Kamerun nach Märkisch-Oderland verschlagen, ins Heim nach Garzau. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, es gibt keine Integrationsmaßnahmen für ihn. Also bringt Acha sich selber Deutsch bei. Ein Schwarzer mit Kopftuch auf dem Fahrrad, auf dem Weg zu den Dorffesten in der Umgebung, zum Storchenfest, zum Männerballett. Er redet gern mit den Leuten, mit dem Bürgermeister Horst, auch mit einem Rassisten, der ihn leise bedroht, er fragt unerschrocken nach, hört geduldig zu, korrigiert den Mann mit sanften Worten. Acha will zu Brandenburg gehören, seine Freundlichkeit ist beschämend und unermesslich.

„Der Landpfarrer“ von Andreas Voigt, „Gestern, heute, übermorgen“ von Bettina Blümner, „Gestrandet“ von Judith Keil und Antje Kruska: drei Episoden aus „20 x Brandenburg“, dreimal 15 Minuten aus dem fünfstündigen Omnibusfilm der DOKfilm-Fernsehproduktion und des RBB, der zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit ausgestrahlt wird. Ob Einzelporträt oder Familiengeschichte, Ortstermin, biografische Reminiszenz, Politik oder Poem: 22 Autoren hatten je vier Drehtage und fünf Schnitttage Zeit für ihr spezielles Brandenburg-Stück, unter der künstlerischen Gesamtleitung von Andreas Dresen. 20 Puzzlestücke, die nicht unbedingt ein Ganzes ergeben. Aber doch mehr als die Summe ihrer Teile.

Nach dem großen Erfolg von „24 Stunden Berlin“ folgt „20 x Brandenburg“ einem schlichteren Prinzip. Die Beiträge werden nicht auf einer Zeitleiste ineinander montiert, sondern nonstop nacheinander gesendet, immerhin zur Primetime. Auf diese Weise ist die Zusammenschau allerdings weniger zwingend. Die Landgräfin von Lübbenau, die Marmeladenkocherinnen von Boitzenburg, die neunköpfige Familie in Lehnsdorf – es folgt halt eins aufs andere, vom Landpfarrer (1) bis zum Bestatter (20). Aber die Handschriften der Autoren bleiben erhalten, der Kinoleute Dresen, Volker Koepp, Thomas Heise oder Rosa von Praunheim ebenso wie der ihrer Fernsehkollegen.

20 Jahre nach der Einheit blicken viele zurück. Da sind die Rentner in der Kneipe in Wittenberge, in „Geschlossene Gesellschaft“ von Alice Agneskirchner. Ach ja, die DDR. Jeder spricht für sich und doch entsteht ein subtiler Disput, die Gaststube wird zum Resonanzraum für die Gegenwart der Vergangenheit. Es gab keinen Schießbefehl, nur eine Schusswaffengebrauchsanweisung, sagt einer. Seit den Nazis kannten wir immer nur Gängelei, ein anderer. Es soll keine Entschuldigung sein.

Oder die Panzerfahrschule bei Steinhöfel. Ein ehemaliger Volksarmist kurvt in voller Montur mit Funkanweisung in einem ausrangierten Panzer durch den märkischen Sand. Ein Geschenk zum 50. Geburtstag, man hat ja sonst alles. Der Gratulant erinnert sich, wie sie im Herbst ’89 mit Gefechtsraketen nach Berlin geschickt wurden und nichts begriffen. Staubwolken verschleiern den Blick auf Kornfelder und Windräder, danach gibt es ein Candlelight-Dinner mit Live-Arien. Uli Gaulkes „Brandenburg Spezial“ zeigt ein surreales, im Gegenlicht halluziniertes Brandenburg, ein Spielfeld mit einem Panzer als ruckelnde Zeitmaschine.

Seelenlandschaft Brandenburg. Zu den stärksten Beiträgen zählen jene, in denen die Provinz zur Bühne wird. Andreas Dresens „Halle 101“ in Ludwigsfelde, in der Arbeiter noch von Hand Lkws montieren: vom Leben gegerbte Gesichter, ein Ensemblestück über Solidarität, mit Malochern als Hauptdarsteller. Oder Heike Hartungs „Fortschritt E 541“: ein Kammerspiel um die Zukunft einer Bauernfamilie, stilles Gerangel zwischen Opa und Enkel auf offenem Feld. Burhan Qurbani (dessen Berlinale-Film „Shahada“ heute ins Kino kommt, siehe S. 31) begleitet ein Resozialisierungsprogramm für junge Nazis, die unter Anleitung eines Schwarzen einen Chor einstudieren: eine Spielanordnung über den Versuch, körperliche Gewalt wenigstens in verbale Aggression abzumildern, irgendwo am Waldrand.

Das Land ist gnädig mit seinen Bewohnern. Der Boden ist weich, er gibt bei jedem Schritt nach – weshalb er sich gut für den Polo-Sport eignet, wie Jo Goll und Norbert Siegmund in „Turnier Tango“ verraten. Die Reiter treten die aufgeworfene Erde locker zurück; die Berliner Republik, die globalen Krisen, alles weit weg in der Mark Brandenburg, die schon Fontane unspektakulär fand. Die Felder sind groß, überall Windräder, menschenleere Landstriche, geduckte Dörfer, Melancholie,alte Leute und ja, auch Rechtsradikale. Aber „20 x Brandenburg“ bedient keine Statistik, kein Stereotyp, kein Problembewusstsein. Auch auf die Gefahr, dass die Einzelstücke ins Beliebige kippen.

Vor allem die Zeit lässt sich Zeit hier. Das ist die schönste Erkenntnis dieser 300 Fernsehminuten. Sie nistet in der Rentnerkneipe, der Montagehalle, der Kleingartenkolonie von Thomas Heise, der Datsche der Eltern von Andreas Kleinert. Sie stockt und dehnt sich, seit 20 Jahren, seit 50 Jahren, seit Fontanes Wanderungen. Auch in Trampe, einem winzigen Ort in der Uckermark. Volker Koepp trifft die alten Frauen, die jeden Donnerstag auf der Bank sitzen und aufs Gemüseauto warten, er besucht den Aussteiger, der ohne Strom und fließend Wasser auskommt, die polnischen Eheleute, die hergezogen sind. Alles im Schatten der gigantischen Windfelder und des Lärms, mit dem die Ökostromerzeuger an die Häuser heranrücken. Trampe duckt sich, das Dorf wird bald 725 Jahre alt. 20 Jahre deutsche Einheit, das ist ein Wimpernschlag der Geschichte.

„20 x Brandenburg“, RBB-Fernsehen, 1.10., 20 Uhr 15 und 3.10., 9 Uhr. Am Sonntag um 23 Uhr außerdem „GenerationXXBrandenburg“, Studenten-Kurzporträts von jungen Brandenburgern. Rolf Schneiders literarische Reise „20 x Brandenburg“ erscheint im Bebra-Verlag (200 S., 19,95 €).

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