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Wie ein virtuelles Lagerfeuer erschienen die sozialen Netzwerke zu Beginn. Manchmal fühlt es sich auch heute noch an, als säße man mit seinen Freunden am virtuellen Feuer beisammen.

© AFP

Schreiben im Facebook: Wie ein virtuelles Lagerfeuer

„Es ist eine Kulturtechnik, im Internet zu schreiben", sagt Markus Beckedahl, Mitorganisator der morgen beginnenden Netzwelt-Konferenz "re:publica". Johannes Schneider erinnert sich daran, wie er diese Kulturtechnik schrittweise erlernt und für sich weiterentwickelt hat.

Erinnert sich eigentlich noch irgendwer an Second Life - diese lächerliche Real-Welt-Imitatio, von der heute keine Sau mehr spricht? Als 2007 dort "alle" hin gingen, blieb ich nicht nur zu Hause, sondern auch erstaunlich gelassen. Vielleicht wäre ich schwach geworden, wenn "alle" auch meine Freunde eingeschlossen hätte. Der Mensch bleibt ungern allein zurück. Aber niemand aus meinem engeren Freundeskreis wollte in Gestalt eines Avatars an einem virtuellen Lagerfeuer sitzen - ohne knackende Zweige, ohne Holzgeruch und ohne mehrstimmigen Gesang. Alles, was wir wollten, waren reale Lagerfeuer, und noch viel mehr wollten wir Bilder, die später an die realen Feuer erinnerten. Dafür ließen wir auch gerne ein zukünftiges Feuer ausfallen, beziehungsweise passierte es einfach, dass wir - wie von Geisterhand gehalten - keine Zeit mehr fanden, uns zu treffen, in Tälern und auf Höhen. Aber der Reihe nach.

Es begann 2006, bei einem Sängerwettstreit der Bündischen Jugend auf der Burg Waldeck im Hunsrück. Ich war postpubertär verwirrt, unzufrieden mit meinem gegenwartsfixierten Studienumfeld und gnadenlos sentimental auf der Suche nach „echten“ Erlebnissen. Am Abend des Wettbewerbstages hatte es ein großes Feuer gegeben, Fahrtenlieder waren vielstimmig unterm Vollmond gesungen worden. „Entfremdung sieht anders aus“, hatte mir ein Wandergeselle, mit dem ich zu dieser Zeit häufig unterwegs war, zugeraunt, ehe er sich wieder seiner Waldzither widmete. Die blaue Blume reifte heftig, getränkt von Bier, irgendwann fiel ein Handwerksbursche beinahe ins Feuer. Auch ich war besoffen genug, mich mit der neben mir sitzenden Pfadfinderin so weit zu verbrüdern, dass ein Kontakthalten angeraten schien. Statt einer Mailadresse gab sie mir einen Hinweis: „Such' mich doch einfach im StudiVZ!“

Gesichter aus der Vergangenheit auf mediokren Partyfotos von heute

In der Folgezeit blickte ich – angeregt von der hübschen Pfadfinderin - völlig fasziniert darauf, wie im StudiVZ ein Gesicht der Vergangenheit nach dem anderen Profil gewann. Abgelegte Jugendlieben, Ferienlager-Acquaintances und Messdienerkollegen kamen aus dem Rauch zurück, aus dem kurz zuvor nur dürre „Stayfriends“-Profile geleuchtet hatten. Sich zu Typen überlagernde Gesichter wurden wieder trennscharf. Für einen sentimentalen Menschen wie mich erschien diese Re-Manifestierung sich auflösender Personen grandios – auch, weil das, was man da sah, so wenig grandios war. Auf einmal standen „alle“ nackt im Netz, und hatten größtenteils peinliche Profile, blöde Freunde, Gruppen und Vorlieben. Ein mystifiziertes Gestern erledigte sich binnen Jahresfrist in der Banalität. Und mit ihm die zugehörigen Traumata.

StudiVZ nahm meiner zu diesem Zeitpunkt bereits völlig verselbstständigten Trauer um das Ferne und Vergangene den Stachel und katapultierte mich (zurück) in die Jetztzeit. Die Konfrontation nebulöser Idealbilder mit mediokren Partyfotos rettete mir das Leben – natürlich nur, um es mir gleich wieder zu versauen. Wie viele Lagerfeuer seit 2006 völlig sinnlosen Ausflügen in die Leben irgendwelcher Grundschul-Nemeses zum Opfer gefallen sind, mag ich mir, wie bereits angedeutet, gar nicht ausrechnen. Dennoch: Ich habe das StudiVZ – bis es mich langweilte – geliebt, beinhaltete es doch neben der Beruhigung, dass es anderswo nicht besser war, auch die schönen Bilder, die sich in meinem eigenen Leben angesammelt hatten.

Vielleicht ist es ja dieser zu jeder Zeit überdeutliche Verweis auf das reale Leben, der den Netzwerken in ihren Anfängen als Massenphänomen die Möglichkeit gab, „Heimat“ zu werden. Vielleicht brauchte es diese Phase, um die Romantiker dieser Erde von den Lagerfeuern zu lösen und bereit zu machen für den nächsten Schritt. Dass dieser dennoch weh tat, spricht eher dafür als dagegen. Der Facebook-Relaunch – ich war in der Zwischenzeit eines Amerika-Jahres vom StudiVZ hierher „umgezogen“ – traf mich im Juli 2008 mit der Wucht einer gut konstruierten Keule. Ich verstand die technische Logik ebenso intuitiv, wie ich ihre inhaltliche Konsequenz ablehnte. Quasi über Nacht hatten die Facebook-Programmierer das Hauptgeschehen von den Profilseiten der einzelnen in die Newsfeeds der Startseite verlagert. In ihrem Streben nach höherer Aktivität der User hatten sie mich und Millionen andere heimatlos gemacht. Unsere sorgsam gehegten Profile, virtuelle Vorgärten unserer Realpersönlichkeiten, waren  nur noch geduldet, ohne primäres Ziel irgendeiner Navigation zu sein.

Der Facebook-Newsfeed revolutionierte 2008 das soziale Netzwerk

Stattdessen verquickten sich in den Newsfeeds unsere zuvor randständigen Statusmitteilungen und Pinnwand-Posts mit Hunderten anderen zu einem Stimmengewirr – und wurden zu allem Überfluss noch einer wachsenden Flut von Kommentaren ausgesetzt. Das neue Facebook entriss den Einzelnen ihre Gestaltungshoheit, die Historizität einer individuellen Erzählung wurde sehr bewusst ausgetauscht gegen ein Kollektiv des Jetzt. Damit war ich wieder da gelandet, von wo ich 2006 ins studivz geflohen war. Schlimmer noch: Ich war nicht nur entheimatet, ich war auch restlos überfordert. Indem die Online-Präsenz sich nicht mehr auf Feinkorrekturen am vollendeten Werk beschränkte - also gelegentlich seinen Steckbrief aufzuhübschen und peinliche Foto-Links zu löschen - rückte die „Profilpflege“ plötzlich ins Zentrum ambitionierter Netz-Biographien. Netzwerken wurde aufwändiger. Und ich war zunächst nicht bereit, diesen Aufwand zu betreiben.

Als sich 2009 zunehmend abzeichnete, dass die Qualität einer Netzperson sich auch daran bemisst, dass sie kommentiert und diskutiert wird, hatte ich dem Facebook bereits zur Hälfte den Rücken gekehrt. Ich fühlte mich nicht nur zwischen den ständig hereinströmenden Jetzt-Befindlichkeiten der anderen so gar nicht mehr zu Hause, auch war mein Begriff von Autorenschaft zu klassisch für diese Form totaler Kommunikation. Mir war nicht klar, wie ich mich zu einem Medium verhalten sollte, das ästhetische Performance – als solche hatte ich schon das behutsame Gärtnern im studivz aufgefasst – in Diskurs auflöste. Die Folge: Ich wurde lustlos. In den Statusposts, die nun den beschleunigten Takt des Netzwerks bestimmten, schrieb ich nur so Sachen wie „Jo Schneider regelt“ oder „Jo Schneider krautet vor sich hin“. Eigentlich hatte ich mein Facebook-Ich bereits aufgegeben.

Irgendwann – am Ende eines verwirrenden Tages – überkam mich dann doch die Mitteilsamkeit. Ich schrieb: „Auf der Suche nach Lohnsteuerkarte festgestellt, dass man ein halbes Jahr ohne sie+damit in Steuerkl. 6 gearbeitet hat. Also Karte besorgt, persönlich beim alten Arbeitgeber vorgelegt, danach, beim Versuch des Beifügens der Karte zu den Unterlagen für den neuen Arbeitgeber,festgestellt, dass man diese (die Unterlagen) wohl auf dem Autodach vergessen hat - also neu ausfüllen. Aber zwei Cordsakkos gekauft. Ein guter Tag? Ein guter Tag!“  Ein sehr geschätzter Gigant kommentierte: „Ja! JA! DAS sind Status-Updates, mit denen du dir gerecht wirst - mehr davon! (statt so schwiemeliges 4-Wort-Andeutungszeug a la 'Jo Schneider tritt aus' oder 'Jo Schneider ist weiter')." Ich war gepackt. Zunächst allerdings nur bei meiner Eitelkeit.

Stetige Praxis der Schriftlichkeit

Immerhin hatte das zur Folge, dass ich meinen Bezug zum Netzwerk änderte: Altes Facebook und StudiVZ hatten mit ihrer beschaulichen Interaktion der biographischen Selbstvergewisserung – unter  Lebenden gelebt zu haben – gedient. Das neue Facebook legte Wert auf eine stetige Schriftlichkeit und wandelte die Praxis zu der eines Kulturtagebuchs, das – wesentlich distanzierter und ästhetisierter - Jetztzeit reflektierte: Ich schrieb Alltag, wie ich es zuvor schon in Blogs, Kolumnen und Kulturtagebüchern getan und es aus Zeitgründen wieder aufgegeben hatte. Ich versuchte, originell zu sein. Statt Freunden versuchte ich, Leser zu gewinnen.

Auf die Interaktivität der Kommentarfunktion ging ich dabei ein, indem ich – mal mehr, mal weniger originell – Fragen formulierte: „Wenn der Mitbewohner (18) erzählt, dass er im Rahmen seiner Modeltätigkeit mit einem anderen Hausbewohner 'gelaufen' sei, und man trifft diesen Hausbewohner, und dieser bestätigt zwar das Modeln, weiß aber nicht, wen er da getroffen haben soll: Kann man dem Hausbewohner dann sagen, dass zwar kein näherer Kontakt stattgefunden habe, er aber einwandfrei als 'so'n Farbiger aus dem Haus' identifiziert worden sei?” Oder auch: “Frage (ernst gemeint): Was macht man, wenn man zum Spätschwimmen ins Freibad kommt, und am Beckenrand stirbt gerade (selbstverständlich bereits voll versorgt, sodass nichts zu helfen bleibt) ein Mensch?”

Auch wenn manches dabei weniger Anklang fand als erhofft, war ich jetzt drin. Ich konnte mich bereit finden, mit Facebook eine flüchtige Konfiguration gemeinsam mit anderen zu gestalten, postete selbst pro Tag ein bis zwei Links aus anderen Kontexten (auch das war jetzt möglich) – eigene Artikel und Fundstücke –, schrieb Status-Updates, wenn mir danach war, und kommentierte wild drauflos, wenn mir bei anderen etwas (und auch die mitteilende Person) kommentarwürdig erschien.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie Facebook das Schreiben derer, die in ihm schrieben, revolutionierte, wie seine mediale Logik neue Formen des Publizierens nahe legte - und wie es am Ende darin, dass es zu einer eigenen Welt wurde, doch alles wieder ein bisschen wie früher war - und ist.

Facebook entwickelte sich zur publizistischen Aktivität. Wenn mir das jemand drei Jahre zuvor gesagt hätte, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Nicht nur, weil ich dem Medium nie eine derartige Innovationskraft zugetraut hätte, sondern auch, weil das, was ich tat, mit meinem eigenen Schreiber-Gemüt eigentlich so gar nicht einher ging. Ich wollte doch, wenn ich schon ernsthaft und für andere schrieb (was mich immer schon angestrengt hat), ewige Erinnerungswerte schaffen, meine Tagebuchaktivität noch einmal steigern zu einem festen "Wert". Im Grunde erscheint mir meine Facebook-Aktivität, zumindest meinem strukturkonservativen Autoren-Ich, bis heute halbwegs widersinnig: Warum mache ich das, anstatt was „Großes“ anzugehen? Eine Ganzschrift? Ein Buch? Ein Werk? Die Geschichte einer Generation?

Sicherlich ist das alles auch mit Faulheit zu begründen. Der Prokrastinationseffekt beherrscht – zumindest bei mir – nach wie vor die Zugangsszenarien zu den Netzwerken und darf hier nicht verschwiegen werden. Aber das ist eben nur zum Teil entscheidend: Wirkliche Faulheit schaut youtube oder gleich Fernsehen. Oder sucht, alternativ, auch noch 2011 nach Kindergartenfreunden im studivz. Was ist es dann, was mich im Facebook produktiv werden lässt? Auch Eitelkeit spielt eine Rolle, aber mangelt es der gerade bei einem ambitionierten Schreiber nicht an Ehrgeiz, wenn sie nicht auf eine Ganzschrift zielt? Auf Buchdeckel mit dem eigenen Namen in Goldprägung? Je länger ich darüber nachdenke, desto weiter entfernt sich meine Facebook-Tätigkeit von der einer (literarischen) Produktivität im klassischen Sinne.

Wer oder was ist der Autor bei Facebook?

Vielleicht ist der Facebook-Autor ja eher Salonièr. Was beide verbindet, ist die Eitelkeit des Wahrgenommenwerdenwollens, gepaart mit einer kreativen Energie, die nicht unmittelbar auf ein ästhetisches Produkt, sondern mehr auf ein Geschehen zielt: Auch ein guter Gastgeber, der mit geistreichen Sottisen die Gespräche ankurbelt und daraufhin immer beliebter unter den Großen seiner Zeit wird, kann sich geschmeichelt fühlen und daraus seine Kraft zum Leben in der Gegenwart ziehen. Wer über die eigenen Posts eine Art virtuellen Salon schafft, in dem sich hoffnungsvolle Jungliteraten, Blogger, Journalisten und Uni-Vizepräsidenten treffen, kennen lernen und austauschen, ist an prominenter Stelle dabei, wenn die Gesellschaft plaudert. Dass die Besucher des Salons gleichzeitig an Konkurrenzprojekten arbeiten, in die sie ebenfalls so viele Hochkaräter wie möglich involvieren möchten, verstärkt diesen Eindruck nur noch. Wenn in letzter Zeit so oft über das „rare Gut Aufmerksamkeit“ geklagt wird, ist Facebook – gerade in seiner rein formalen und gestalterischen Gleichordnung der einzelnen Auftritte – die Versuchsanordnung, in der modellhaft um dieses Gut gekämpft wird.

Der Dreischritt, der dabei vollzogen wird, mutet aus der Warte klassischer Produktions- und Rezeptionsszenarien, aus meiner Warte also, überaus unheimlich an: Kreative Produktivität ist nicht mehr ziel- und personengebunden, sondern wird in kollektiver Kommunikation aufgelöst. Nur wer bei anderen kommentiert, wird breit wahrgenommen und letztlich selbst kommentiert. Und nur wer dieses Kommentiertwerden erträgt, kann in dieser Dauerrezeptionsschleife produktiv bleiben. Aus der Endlos-Kommunikation erwachsen so Typen, die mit einer Künstlerpersönlichkeit im klassischen Sinne ebenso wenig zu tun haben wie mit ihrem Avatar im wirklichen Leben. Mein Facebook-Ich ist reduziert auf Formulierungskunst und Schlagfertigkeit, die Sentimentalität, aus der meine Netzwerk-Person eigentlich geboren wurde, habe ich ihm lange abgewöhnt.

Keine Entsprechungen, höchstens Analogien

Eigentlich gibt es für die Produktivität im Facebook der Jahre 2008 bis 2010 überhaupt keine Entsprechung, höchstens Analogien: Wie im 19. Jahrhundert die Fotografie und wenig später der Film hat hier ein Medium, das zugleich Mittel zur Kunst ist, eine völlig neue Form ästhetischer Produktivität nahe gelegt und das Bild des Künstlers, in diesem Fall des Autors verändert. Das Internet hat Produktion und Kommunikation beschleunigt, das Web 2.0 hat sie einander geöffnet. Das neue Facebook, das nahezu alle anderen Plattformen einbezieht, hat den Netzaktiven – und das hat es selbst Twitter voraus – eine Heimat, eine vollgültige Entsprechung der dinglich-realen Welt gegeben. Sentimental wie zu Anfang muss man in dieser magischen Gegenwart vielleicht gar nicht mehr sein.

Dennoch: Die Kommunikation im Facebook bleibt dubios, auch, weil sie bisher fast nur als Kommunikation im volkstümlichen Sinn, also als verschriftlichte Mündlichkeit, kommuniziert und wahrgenommen wird, und eben nicht als eine Form publizistisch-literarischer (Teil-)Öffentlichkeit. Die Frage, wessen geistiges Eigentum wir im Facebook produzieren (die eine Frage nach der Autorschaft, damit letztlich auch nach der Literarizität impliziert), ist nicht nur vor den Betreibern sondern auch unter den Facebook-Schreibern ungeklärt. Ist es zum Beispiel okay, wenn Konservativere unter meinen Freunden meine flapsigen Kommentare zu ihren Einträgen löschen? Weil sie ihnen vor Chefs, Professoren und Bildungswerk-Referenten – auch die gehören inzwischen zum virtuellen Freundeskreis - peinlich sind? Oder greifen sie damit ungehörig in „mein“ Werk oder den kollektiven Prozess ein? Wem "gehört" ein Text auf Facebook? Und worum geht es hier eigentlich? Ums Reden, ums Schreiben, um die kommunikative Stabilisierung intersubjektiver Beziehungen, hemmungslose Selbstdarstellung, um etwas ganz Anderes oder ein bisschen von allem?

Ich vermute Letzteres. Facebook lässt sich eben nicht einfach kategorisieren, für unsere Gutenbergschen Rezeptionsschubladen von "sinnloses Gelaber" bis "wertvolle Lektüre" ist auch diese eingeschränkte virtuelle Öffentlichkeit ein paar Nummern zu groß und zu ungeordnet. Genau diese Unsicherheit der Kommunikationsverhältnisse wird aber weiter für eine schleichende Ästhetisierung der Netzwerkkommunikation sorgen. Die Befangenheit, die daraus resultiert, von einer stetig wachsenden Zahl von „Freunden“ beobachtet zu werden, die die Frage nach dem Charakter des Netzwerks alle anders beantworten, hat zumindest bei mir begonnen, das Schreibverhalten auf eine bestimmte Weise zu beeinflussen: weg vom verschriftlichten Ich, hin zur unwillkürlich literarischen und literarisierten Person (für dass sich dann, dies sei an dieser Stelle nur eingefügt, auch die derzeit heiß diskutierten Fragen von Privatheit und Identität im Netz ganz anders stellen als für mein Ich aus Fleisch und Blut in der realen Welt).

Als ich zu Beginn des Jahres 2010 wieder anfing, ein privates Tagebuch zu führen, fiel mir erst auf, wie viel in den Netzwerken an gänzlich unliterarischer Entäußerung persönlicher Befindlichkeiten durch die erhöhte Publizität nicht mehr möglich ist. Da war ich im Facebook schon längst eine öffentliche Person. Eine, die schreibt. Ein Autor.

Die Frage nach dem Ende

Was sollte das so schnell zu einem Ende bringen, wie jetzt immer mehr Leute unken? Die Langeweile? Das hat jeder mit seiner Freundes- und damit Lektürewahl selbst in der Hand - das Medium Buch ist ja auch nicht durch schlechte Bücher zu Fall gekommen. Die Angst der Facebook-Bewohner um die eigene Privatsphäre? Pah, wer vor Hunderten Freunden und zwei Weltkonzernen privat ist, ist selber Schuld – und im Web 2.0 sicher nicht gut aufgehoben. Vielleicht sollten wir unsere Tätigkeit im Facebook also vielmehr als Arbeit begreifen – und warten, dass sie irgendwann jemand bezahlt. So absurd finde ich den Gedanken gar nicht: Wir haben uns von den Gegebenheiten des Mediums – die Einführung des Newsfeeds und der damit verbundene Umbau des Netzwerks zum Diskurs- und Publikationsraum – zu einer Aktivität bringen lassen, die eigentlich schon längst der Entlohnung bedarf, so zeitaufwändig ist sie.

Und trotzdem: Es ist eine schöne Arbeit, eine, die unvermindert fasziniert. Facebook – und das ist doch ganz wunderbar – hat sich etabliert: als kollektives romantisches Langzeitprojekt. In der Ritze zwischen sentimentalem Gründungsmythos und der Jetzt-Logik des Newsfeeds entsteht Tag für Tag eine fragmentierte, multimedial gestützte Erzählung, die sich bruchlos in die Vergangenheit fortsetzt, während zugleich nur die gegenwärtige Konfiguration zu zählen scheint.  Im lebendigsten Archiv der Welt geht nix verloren – höchstens das Interesse am Vergangenen, das auf so beruhigende Weise latent vorhanden bleibt. Die Frage eines Mitschreibers an diesem Gemeinschaftsprojekt, wo denn dieser und jener abgeblieben sei, und die Antwort einer anderen Mitschreiberin, die seien schon seit Sommer nicht mehr da, weisen unzweifelhaft darauf hin: Gegenwart zählt, Vergangenheit bleibt überprüfbar und wird darin vernachlässigenswert. Alles in allem spricht das für einen guten Ort, um stetig kreativ zu sein. Mit etwas Pathos ließe sich gewiss sogar von einer ästhetischen Lebenspraxis sprechen, die dort entwickelt, ausprobiert  und ausagiert werden kann.

Zum Schluss wieder Lagerfeuer

Und so ist das neue Facebook für mich dann doch – mit seinen neuen Verfahrensweisen – durchaus an alte Rührseligkeiten gebunden: Manchmal, in guten Stunden, erscheint mir der Newsfeed wie ein Lagerfeuer, um das sich ein großer Kreis Menschen versammelt hat, um gemeinsam ein Lied zu singen und von alten Zeiten zu erzählen, die gerade, in diesem Moment, wo das Feuer brennt, noch andauern. Wenn es mir in der Magie des perfekten Augenblicks überhaupt gelingt, denke ich dann an meine Pfadfinderin aus dem Jahr 2006 – mit der ich mich übrigens doch nicht angefreundet habe. Nicht im StudiVZ. Nicht einmal im realen Leben. Und bei Facebook dann erst recht nicht. 

Der Autor ist Volontär beim Tagesspiegel, bis 2010 studierte er in Hildesheim "Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus". Der vorliegende Aufsatz erschien 2010 in leicht abgeänderter Form in dem Buch "Statusmeldungen. Schreiben im Facebook". Dem Gedanken weiter nachgegangen ist er in seiner Diplomarbeit "Aufschreibesysteme 2010. Literarisches Handeln im Web 2.0".

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