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Nachterstedt: Wie groß ist die Erdrutschgefahr in anderen Kohlerevieren?

Für die Verschütteten nach dem Erdrutsch von Nachterstedt in Sachsen-Anhalt gibt es kaum noch Hoffnung. Die Katastrophe dürfte eine Folge des Bergbaus sein. Gibt es ähnliche Risiken auch in anderen Kohlerevieren in Deutschland?

Wie sieht es in Nachterstedt nach dem Erdrutsch aus?

Der Urlaub endete mit einer Katastrophe. Elke und Ekkehard Schirrmeister waren mit ihrem Wohnmobil in Portugal unterwegs, als sie die unglaubliche Nachricht erhielten. Ihr Haus ist in den See gestürzt. Die andere Hälfte des Doppelhauses steht am Abgrund. Das Eigenheim der Schirrmeisters liegt im Schlamm versunken 140 Meter tiefer im Concordia-See. Der ist ein ehemaliger Tagebau. Durch die Flutung des Reviers soll er bis 2018 der größte künstliche See im Harzvorland werden. Eine Bekannte aus dem Nachbarort hatte die Schirrmeisters am Samstagmorgen angerufen. Die Nachricht traf sie am Strand in Portugal. „Wir sind so schnell wie möglich nach Hause gefahren. So weit das ging, wir zitterten am ganzen Körper“, erzählt die 59-Jährige mit Tränen in den Augen und fügt hinzu: „Wir haben kein Zuhause mehr.“

Ähnlich geht es den anderen etwa 40 aus ihren Häusern evakuierten Menschen. Zehn Gebäude werden bis auf Weiteres nicht mehr bewohnbar sein. Am Sonntagvormittag wurden sie mit einem Bus zu einer Altkleidersammlung nach Aschersleben gefahren, damit sie sich mit den nötigsten Kleidungsstücken versorgen konnten. Viele hatten nur Trainingshosen oder Schlafanzüge an.

Für die 59-jährige Elke Schirrmeister ist eine Welt zusammengebrochen. „Das ist der Abschied von Nachterstedt“. Ekkehard Schirrmeister fügt hinzu: „Hier bleiben wir nicht.“ Dabei hatten die Schirrmeisters für ihren Lebensabend in dem kleinen Ort und mit dem Haus direkt am Concordia-See alles eingerichtet. „Das sollte unser Alterswohnsitz werden“, sagt Elke Schirrmeister. Von hier aus wollten sie mit ihrem Wohnmobil in die Welt reisen und sich immer wieder auf die Heimkehr freuen.

Wie es weitergehen soll, weiß in Nachterstedt keiner. Ob die von der Polizei abgesperrten Häuser jemals wieder bezogen werden können, ist mehr als ungewiss. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer kündigte am Sonntag bei einem Besuch der Unglücksstelle sofortige Hilfe an. „Es wird so schnell wie möglich untersucht werden, aus welchen Häusern die Bewohner noch ihre wichtigsten Wertsachen holen können“. Böhmer sagte zudem bei einer etwaigen Sperrung der Häuser eine unbürokratische Lösung für Schadenersatzansprüche zu. Zuständig dafür ist die Lausitzer-Mitteldeutsche Bergbauverwaltung (LMBV). „Dafür werden wir entsprechende Rahmenbedingungen schaffen“, versprach der Ministerpräsident. LMBV-Sprecher Uwe Steinhuber meinte, „dafür ist die LMBV als Tochter des Bundesfinanzministeriums ein sicherer Partner“.


Können die Opfer geborgen werden?

Bei den drei Vermissten handelte es sich um ein Ehepaar aus dem Doppelhaus und einen Mann aus dem Mehrfamilienhaus, alle um die 50 Jahre alt. Nach dem taubstummem Sohn des Nachbarn wurde zunächst auch gesucht, da er in dem Haus polizeilich gemeldet war. Er hielt sich zum Zeitpunkt des Unglücks aber nicht dort auf und meldete sich am Sonntag bei den Behörden. Die Stiefmutter des 22-Jährigen entkam der Katastrophe, weil sie Nachtschicht hatte.

Die Suche nach möglichen Überlebenden war nach Behördenangaben nicht möglich. Zu groß war die Gefahr weiterer Erdrutsche. Aus der Luft und vom See aus sei die Stelle nicht zu erreichen. Auch könnten weder Helfer von Hubschraubern herabgelassen noch Suchhunde eingesetzt werden. Polizeihubschrauber suchten das Gebiet daher mit Wärmebildkameras ab. Die Behörden berieten zudem mit der Bundeswehr über den Einsatz spezieller Suchroboter. Der Einsatz wurde aber abgesagt, weil das Gerät für das Gelände nicht geeignet ist.


Was könnnten die Ursachen für den Einsturz sein?

Die Katastrophe von Nachterstedt wird juristische Folgen haben. Die Staatsanwaltschaft Magdeburg hat von Amts wegen ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung eingeleitet. Wer für den Erdrutsch zur Verantwortung gezogen werden kann, ist allerdings völlig offen. Die Staatsanwaltschaft hat einen Gutachter bestellt, der die Ursache für den Erdrutsch ermitteln soll.

Der Untergrund, auf dem die abgestürzten Häuser standen, ist Abraum aus dem einstigen Tagebau. Die Dicke wird von der LMBV mit etwa 80 Meter angegeben. Erbaut wurden die Häuser in den 30er Jahren. „Heute würde niemand mehr den Bau dieser Häuser genehmigen“, sagt LMBV- Sprecher Uwe Steinhuber. Dass heftige Regenfälle der Auslöser gewesen sein können, wird von allen Fachleuten ausgeschlossen. „Der abgebrochene ehemalige Abraum ist trocken, da ist kein Wasser drin“, sagt Gerhard Jost, Leiter des Dezernats für Geologie und Altbergbau im Land Sachsen-Anhalt. Dass dennoch Wasser im Spiel war, dessen ist sich Jost sicher. „Wasser muss Einfluss gehabt haben“, sagt er. Das sei am Fuß der Abbruchstelle erkennbar. „Das muss irgendwie von unten gekommen sein.“ Er hält eine „Kombination aus Setzungsfließen und Böschungsbruch“ als Ursache für möglich. Beim Setzungsfließen gerät durch Wasser aufgeweichter Boden ohne Vorwarnung ins Rutschen.

Die LMBV will hingegen nicht ausschließen, dass auch alte Stollen die Ursache für den Abbruch sein könnten. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde im Concordia-Revier untertage Braunkohle abgebaut. Erst später sei es ein Tagebau geworden. LMBV-Sprecher Uwe Steinhuber gab dabei den Betreibern des Untertagebaus vor etwa 150 Jahren eine mögliche Mitschuld. „Unsere Großväter haben mitunter Raubbau betrieben und Schächte in die Erde getrieben, die nicht entdeckt oder kartiert sind.“

Vor 50 Jahren kam es in der Region schon einmal zu einem Setzungsfließen. Damals kam im Braunkohlenwerk Nachterstedt ein Bergarbeiter ums Leben.



Gibt es ähnliche Risiken auch in Braunkohlegebieten?

Für die riesige Brandenburger Tagebaulandschaft zwischen Finsterwalde, Cottbus und Senftenberg gibt das zuständige Bergamt Entwarnung. „Kein Gebäude ist derzeit so gefährdet, dass es durch eine Rutschung in die Tiefe stürzen könnte“, sagte der Präsident des Brandenburger Bergamtes, Klaus Freytag, am Sonntag dem Tagesspiegel. „Gleichwohl haben wir große Flächen, die nach dem Bergbau noch nicht ausreichend verdichtet sind und jederzeit ihren Halt verlieren könnten.“ Allerdings seien diese weiträumig abgesperrt und mit Schildern gekennzeichnet worden. Diese warnen entlang der freigegebenen Straßen sowie Rad- und Wanderwegen zwar vor Lebensgefahr, werden aber sehr oft ignoriert. Motorrad- und Quadfahrer und Fahrer großer Geländewagen durchbrechen die Absperrungen immer wieder. Selbst Pilzsammler begeben sich immer wieder in das höchst gefährliche Terrain.

Dabei müssten Krater, in denen regelmäßig Unmengen Abraum und Erde einfach verschwinden oder in die neue Seenkette rutschen, eigentlich Warnung genug sein. Vor allem in der Nähe der vom Tagebau fast eingeschlossenen Ortschaft Pritzen, die zu DDR-Zeiten schon nahezu vollständig aufgegeben worden war, machen sich die Einwohner Sorgen. „Die sind unbegründet“, versichert Bergamtspräsident Klaus Freytag. „Die Häuser stehen alle auf gewachsenem und nicht auf geschüttetem Untergrund. Dieser garantiert einen stabilen Stand.“ Häuser auf so einer hohen Böschung wie in Nachterstedt von rund 100 Meter Höhe gebe es in Brandenburg nicht.

Zuletzt war es im April 1999 in Hosena bei Senftenberg zum Abrutschen einer Böschung gekommen. Damals stürzten ein Radlader und ein Auto in einen See, dessen Ufer auf einer Länge von 300 Metern und 100 Meter Breite abgebrochen war. Nur durch einen beherzten Sprung konnte sich der Fahrer des Baufahrzeuges damals retten. Aktuell wird ein Haus auf einem Hügel in Oderberg vor dem möglichen Abrutschen in die Tiefe gesichert. Hier hat Regen den geologischen Untergrund in regelrechte Schmierseife verwandelt.


Wo gibt es noch Bergschäden?

Im gesamten Ruhrgebiet und im Saarland gibt es Bergschäden. Durch den Steinkohleabbau sind ganze Gebiete komplett durchlöchert. Im Rheinland gibt es darüber hinaus auch noch einen großflächigen Abbau von Braunkohle im Tagebau. Im Siegerland sind viele historische Stollen überhaupt nicht dokumentiert. Erst im November 2008 ist in Siegen-Rosterberg die Einfahrt zu einer Garage in einen alten Schacht gestürzt. Im Jahr 2004 bildeten sich im Siegener Stadtteil Rosterberg tiefe Löcher, in die alles in allem 22 000 Tonnen Beton gepumpt werden mussten, um den Grund zu stabilisieren. Im Jahr 2008 kam es im Saarland zu einem folgenschweren Grubenbeben, das zunächst zu einer Einstellung des Bergbaus führte. In einem Stadtteil Völklingens kämpfen die Bewohner seit fast 20 Jahren für ein Ende des Bergbaus, weil ihnen ihre Häuser regelrecht zerbröseln.


Wie gefährlich sind Erdwärmebohrungen?

Seitdem Ende 2007 in der südbadischen Kleinstadt Staufen bei Freiburg eine Erdwärmebohrung die gesamte Altstadt zum Bröckeln bringt, gelten sie zumindest nicht mehr als völlig ungefährlich. Seither hebt sich die denkmalgeschützte Altstadt jeden Monat um etwa einen Zentimeter an. Die bisher entstandenen Schäden betragen nach Auskunft von Bürgermeister Michael Benitz rund 41 Millionen Euro. Inzwischen sind 204 Häuser beschädigt.

Erst vor wenigen Wochen kam es in der nordrhein-westfälischen Stadt Kamen ebenfalls zu einem Zwischenfall bei einer Erdwärmebohrung. Die Bohrmaschine versank in einem riesigen Trichter. Mehrere Häuser wurden beschädigt, einige sind nicht mehr bewohnbar. 

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