zum Hauptinhalt
Nichts ist vergangen.  Judith (Jenny Schily) kommt nach 16 Jahren aus dem Gefängnis. Hat sie damals wirklich einen Doppelmord begangen?

© HR/Katrin Denkewitz

ARD-Beziehungsdrama mit Jenny Schily: Der Fluch der bösen Tat

Sehenswert und unversöhnlich: „Kaltfront“, das TV-Debüt von Lars Henning, beschwört die Macht des Schicksals.

Judith, wegen Mordes seit 16 Jahren im Knast, erhält zum ersten Mal Freigang. Man braucht ihrer Darstellerin Jenny Schily nur ins Gesicht zu sehen, um zu wissen: Freigang ist nur so ein Wort. Jenseits der Gefängnismauern wartet auf die abgehärmte Frau alles andere als Freiheit. Diese Judith hatte mit anderen zusammen eine Bank überfallen und einen Sicherheitsmann erschossen, nachdem der sie angegriffen hatte. Im Fluchtauto starb außerdem ein als Geisel mitgenommener Bankdirektor. Bandenmitglied Judith schwieg über den Hergang im Wagen, das Gericht verurteilte sie trotzdem wegen Mordes. Der Zuschauer ahnt: Nichts ist vergangen. Vorbei ist nicht vorbei, auch nach 16 Jahren nicht.

Im weiteren Verlauf der Handlung wird klar, dass es dem Langfilmdebütanten Henning (Buch und Regie) nicht vorrangig – wie sonst fernsehüblich – um die endgültige Wahrheit des Tathergangs geht, sondern um das, was Schiller den „Fluch der bösen Tat“ nennt: „Daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebären“. „Kaltfront“ handelt von der inneren Erstarrung nach dem Schock. Ein Report aus der Hölle, die entsteht, wenn Verschweigen als Waffe gezückt bleibt.

Die Opfer, die Angehörigen der Getöteten, kommen in der seelischen Verarbeitung der Tat nicht weiter, weil die Verurteilte Geheimnisse für sich behält. Manche Angehörige bleiben so im Hass auf die Haupttäterin stecken, innerlich gefesselt wie Geiseln, die Judith vor 16 Jahren genommen hatte. Was die Angehörigen der Opfer fühlen, ist Judith egal. Es gibt nur einen Grund, dass sich die Verurteilte aus dem selbst gebastelten Gefängnis ihrer Gefühlskälte wagt: ihre inzwischen erwachsene Tochter Anna (Lana Cooper). Die Bankräuberin brach in der Haft früh den Kontakt zu Anna ab. Das Kind war bei ihrem Mann Erik (Rainer Bock) untergebracht worden. Dass dieser Erik nicht Annas wirklicher Vater ist, verwahrte Judith als Geheimnis. Aber Geheimnisse haben, wie sich zeigen wird, eine eigene Dynamik.

Eine Art Prozess nach dem Prozess

Henning hat zu einer gewagten Handlungskonstruktion gegriffen. Er fügt die Wege der Täter und der Opfer nach 16 Jahren wieder zusammen. Judiths Freigang wird zu einer Art Prozess nach dem Prozess, zur Besichtigung der verfluchten Landschaft, die der mörderische Banküberfall hinterlassen hat. Eine verlorene Mutter sucht ihre verlorene Tochter, und alle anderen, die mit der Tat zu tun hatten, verlieren mit. Der Zufall spielt eine gemeine Rolle. Judith will den Kontakt zur Tochter und sucht in Berlin. In der S-Bahn wird sie von Jan (Leonard Carow), dem Sohn des erschossenen Wachmanns, erkannt. Der Schüler hat den Tod seines Vaterhelden nicht verarbeitet. Der stotternde Jüngling hält sich nur mit Rachefantasien über Wasser.

Die Zufallsbegegnung aktiviert bei Jan tödliche Energien gegen die Freigängerin. Er stiehlt dem Lover seiner Mutter eine Waffe. Er informiert den Leidensgenossen von damals: den Sohn David (Christoph Bach) des ebenfalls erschossenen Bankdirektors. David soll erreichen, dass die Verurteilte weiter im Knast bleibt. Er zögert, möchte vergessen, aber ihm sitzt seine saufende Mutter (Daniela Ziegler) im Nacken, die ihn wie die Königin der Nacht nur akzeptiert, wenn der Sohn ihre wahnhaften Rachefantasien als gehorsamer Helfer bedient.

Zugegeben, es knirscht manchmal unter der dramaturgischen Last, die unheilvollen Auswirkungen der bösen Tat von damals zu einem Hinterherdrama zusammenzubinden. Zum Glück aber erweist sich der Debütant Henning nicht als formalistischer Dogmatiker, der seine Konstruktion für das Wichtigste hält. Alle Hauptakteure haben genug Platz, sich ihre Charaktere zu erspielen. Auf der Opferseite führt der Schülerdarsteller Carow seine traumatische Verletzung erschreckend vor. Da taumelt ein früh Verbitterter durchs Leben, dessen Wert er vor lauter Wut nicht erkennen kann.

David, Sohn und Erbe des ermordeten Bankiers, versucht sich über den Rachewahnsinn zu erheben. Die Tage des Zorns sind für ihn vorbei, er hat sogar Kontakt zur verurteilten Mörderin. Es kommen ihm Zweifel an den Erkenntnissen des Gerichts, er wittert ein unaufgeklärtes Geheimnis. Dann aber endet alles im Blei der Pistolen, wie es dieser sehenswerte und unversöhnliche Debüt-Thriller, passend zum Titel „Kaltfront“, möchte.

„Kaltfront“, Mittwoch, ARD, 20 Uhr 15

Zur Startseite