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Medien: Auf der Flucht

„Die Verlorenen“: Karoline Eichhorn spielt in einem hoch dramatischen Film eine Frau, die aus einer Sekte auszusteigen versucht

Welcher gute Christ möchte nicht manchmal „kämpfen gegen Protz, Prunk und Gier“ in seiner Kirche und auf die „Ekstatik in der christlichen Lehre setzen“? Fertig mit der Welt und mit einem fehlbaren Klerus ist jeder Gläubige mal, besonders wenn er traumatisierende Erfahrungen verarbeiten oder verdrängen muss. Da hat dann ein Guru, der Reinigung und Erlösung verspricht, leichtes Spiel.

So geriet Krista (Karoline Eichhorn) in den Bann von Carlos (David Selvas), einem Wanderprediger mit düsterem Charisma. Der schart ein Häuflein verlorener Seelen um sich, das ihm bedingungslos ergeben ist und seine Ziele teilt: die längst verweltlichte Kirche aufzuschrecken und zu erretten durch exemplarische Gewaltakte. Es ist alles da, was zu einer richtigen Sekte gehört: ein Prophet, seine Anhänger, Rituale, Zeichen, Verschwörung, existentielle Abhängigkeit der Gefolgsleute von ihrem Führer, die im Falle Krista erotisch getönt ist.

Als sie fünfzehn war, wurde sie von einem katholischen Priester missbraucht und geschwängert, das Kind wurde ihr weggenommen und zur Adoption freigegeben. Ihr eigenes Dasein ist seitdem für Krista ein Dornenpfad, und als sie Carlos begegnet, fühlt sie sich zum ersten Mal verstanden.

Der Regisseur Christian Görlitz hat aus der Geschichte, deren Stoff auf einen Roman mit dem Titel „Die Namenlosen“ von Hansjörg Schertenleib zurückgeht, einen hoch dramatischen Film gemacht. Die Gefahr für Leib, Leben und seelisches Gleichgewicht, in der Krista schwebt, seit sie heranwuchs, sucht sich immer neue Anlässe, Felder und Konstellationen, so als zeuge die Unzucht jenes Priesters fortgesetzt neue Gewalttaten und Sündenfälle. Guru Carlos ist grausam. Er zwingt seine Jünger, das Töten zu lernen, lässt sie mit Schafen üben. Er drückt ihnen Brandzeichen auf die Fußsohlen, will, dass sie Schmerzen ertragen, ohne zu zucken. Er ist ein Mörder. Wer der Gemeinschaft den Rücken kehrt, wird liquidiert. Als Krista sich in einen anderen verliebt, den Jongleur und Feuerschlucker Eric (Andreas Pietschmann), dämmert ihr, dass es ein Leben jenseits von Angst, Schuld und Gefahr gibt. Aber sie weiß ja auch, was mit Aussteigern passiert.

Kristas Geschichte wird als Rahmenhandlung erzählt. Nach der Eingangssequenz schaut das Kameraauge in die Zukunft und von da wieder in die Vergangenheit. Eric trifft die inzwischen erwachsene Tochter seiner geliebten Krista und kann der jungen Bernadette eine Tonkassette vorspielen, auf der ihre Mutter eine Art Lebensbeichte abgelegt hat. Auch Bernadette, ein „weggegebenes“ Kind, hat ihr Päckchen zu tragen, auch sie muss um ihr seelisches Gleichgewicht beständig ringen. Sie kann nicht einfach still zuhören, wie ihre Mutter von Schrecknissen wie Mordanschlägen, Flucht und Todesangst erzählt. Sie muss Eric ins Gesicht schreien, dass sie ihm kein Wort glaubt, dass die Frau, deren Stimme sie da höre, gar nicht ihre Mutter sei, es sei alles Lug und Trug … Es wird viel geschluchzt in diesem Film. Bernadette, Krista, Eric, sie lösen sich mehr als einmal in Tränen auf.

„Die Verlorenen“ ist kein Film, der über Sekten aufklären will. Er behandelt auch nicht vorrangig die terroristische Verführung, die im bedingungslosen Gehorsam oder im religiösen Fundamentalismus steckt. Er zeigt ein Menschenschicksal, ein extremes, in dem ständig Gefahren drohen, obwohl die Frau, der dieses Schicksal widerfährt, gar nicht für die Front und den Kampf geschaffen ist und mit etwas Glück an der Seite eines Burschen wie Eric ein gutes, ein zufriedenes Leben hätte führen können. Aber dann geschah die Vergewaltigung, und damit zogen Angst, Schmerz, Verlust und Todessehnsucht in Kristas Leben ein.

Dass es auch eine ganz andere, eine wirksamere Erlösung geben könnte als die scheinhafte durch den Fanatismus, zeigt die Episode mit dem Gaukler Eric, in der Krista das Gebot des Gurus bricht und mit einem anderen mitgeht. Die beiden sind ein schönes Paar, sie verstehen sich sofort und sehen sich sogar ähnlich. Die Erlösung durch die Liebe wäre leicht und natürlich, aber sie kann nicht sein, weil die Gefahr schon zu tief in Kristas Leben eingedrungen ist, weil der Selbstzerstörungsmechanismus schon tickt – und weil der Film dann auch zu früh zu Ende wäre.

Karoline Eichhorn als Krista liefert eine bewegende schauspielerische Leistung ab. Andreas Pietschmann als Eric ist ihr ebenbürtig. David Selvas als Carlos muss eigentlich nur sein ausdrucksstarkes Gesicht mit den mephistophelischen Brauen in die Kamera halten, und das macht er sehr gut. Eine besondere Freude ist die zarte Präsenz der Anne Kanis in der Rolle der verlorenen Tochter Bernadette. In ihren großen Augen lässt sich besonders klar ablesen, was es bedeutet, wenn Unglückserfahrungen sich quasi vererben. Aber sie ist noch jung genug, um vielleicht den Weg zu finden, auf dem ihr bei der Suche nach Erlösung die Alternative zum Tod begegnen könnte: die Liebe.

„Die Verlorenen“: ARD, 20 Uhr 15

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