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Blogger Mario Sixtus

© Nadia Zaboura

Bloggerkolumne: Unmenschliche Anforderungen

Geradezu reflexhaft stürzt sich die Online-Community auf die Ausrutscher mancher Politiker. Das ist kontraproduktiv, meint Mario Sixtus. Wer authentische Politiker fordert, darf sie nicht für Fehler verlachen.

Transparent und authentisch soll er sein, der Politiker des Internet-Zeitalters. Er soll keine Phrasen in die Fernsehkameras und Mikrofone abfeuern, sondern er soll sich mit den Bürgern auf gleicher Augenhöhe unterhalten, menschlich, nicht in diesen industriell gefertigten Sprachersatzstücken. Und twittern soll er, natürlich eigenhändig.

Viele mit dem Internet sozialisierte Menschen wünschen sich solche Politiker. Ich auch. Besonders laut wünschen sie sich immer wieder die Piraten. Aber Transparenz und Authentizität gibt es nicht ohne Gegenleistung. Wenn die Piraten (oder ich) das fordern, müssen sie (oder ich) bereit sein, dafür etwas zurückzugeben: Man könnte es Großmut nennen oder Toleranz oder auch Nachsicht, und wenn man Pathos mag, darf man sogar Menschlichkeit dazu sagen.

Warum das so ist, steht zum Beispiel im aktuellen Spiegel. Auf Seite 66 schildert Redakteur Sven Becker, wie sich der Berliner Pirat Christopher Lauer über einen Ausspruch von Bärbel Höhn in der Sendung „Anne Will“ amüsiert. „Ich gucke jetzt mal Internet“, hatte die Grünen-Politikerin gesagt. Glaubt man dem Spiegel-Mann, ist das noch Wochen später Anlass unter Piraten, sich über die Internet-fernen Alt-Politiker kaputtzulachen. Schon damals, während der Sendung, hatte sich Twitter kurzzeitig in eine Höhn-Verhöhnungsmaschinerie verwandelt. Eine Politikerin erlaubt sich im Eifer eines TV-Gesprächs einen kurzen gedanklichen Aussetzer, und die Piraten lachen ihr lautestes Piraten-Gelächter: Arrr, Arrr!

Warum der Wunsch nach echten Menschen in der Politik unmöglich zusammengehen kann mit dem Schulhof-Reflex, auf jeden, der hinfällt, mit dem Finger zu zeigen und ihn auszulachen, darüber schreibt Stefan Niggemeier im gleichen Heft nur eine Seite weiter, in einem nachdenklichen Text. Seine These: „Das Transparentmachen des politischen Entscheidungsprozesses führt nicht zur fundierten Auseinandersetzung mit den Inhalten, sondern zu einer stärkeren Fixierung auf die Inszenierung.“

Wer keine Inszenierung will, wer keine glattpolierten Sprechautomaten will, wer sich echte Menschen in der Politik wünscht, der muss ihnen zugestehen, menschlich zu sein, der muss ihnen erlauben, Fehler zu machen. Wer Transparenz fordert, etwa öffentliche Sitzungen und live gestreamte Verhandlungen, der wird mehr Inszenierung bekommen und weniger Authentizität. Wer daraufhin mehr Authentizität verlangt, menschlichere Politiker, der darf sie nicht nach dem ersten gedanklichen Fehlgriff mit Scheiße bewerfen. Die Medien aber und die Bürger, auch und gerade im Internet, feuern ihre Fäkalien-Katapulte auf jeden Politiker, der sich einmal gedanklich verläuft, nur um sich einen Blog-Absatz später Politiker zu wünschen, die sich ein wenig menschlicher verhalten. Da ist er, der 21st Century Schizoid Man.

Der Autor ist Journalist und Filmer.

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