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Was bei der Fußball-WM 1998 begann, endet heute beim Weltturnier in Südafrika. Günter Netzer (r.) beendet das Duett mit Gerhard Delling. Dafür kommt Mehmet Scholl.

© ARD

Medien: Der Lebensweise

Nur wer sich auswechselt, bleibt sich treu: Günter Netzer verlässt die ARD

Es gibt dieses Bild von Günter Netzer, da steht er zwischen den Gästen seiner Diskothek und mimt, mit Augenaufschlag und Cocktail-Shaker in der Hand, den Jungplayboy. Rechts klammert sich Berti Vogts an die fast kinnhohe Theke, links blickt Wolfgang Overath verunsichert in die Runde. Netzer aber steht in der Mitte, umringt von jungen Frauen, und lässt – das Schwarz-Weiß des Fotos unterstreicht es – unter der hellstrahlenden Mähne stolz seine großen Augen aufleuchten.

Es war der Eröffnungsabend seines Clubs „Lovers Lane“, der in den frühen Siebzigern Stars und Sternchen von Franz Beckenbauer bis Ingrid Steeger nach Mönchengladbach zog. Netzer war zu einer neuen Spezies in der von deutscher Wertarbeit geprägten Bundesligawelt aufgestiegen, zu einem David Beckham, lange bevor dieser geboren wurde. Wenn man sich all die Fotos dazudenkt, bei denen man Netzer mit schnellen Autos sieht, an seinen Ferrari Dino GT gelehnt oder in seinen Jaguar E-Type steigend, so weiß man, was aus dem Gladbacher Jungen vierzig Jahre später auch hätte werden können: der Rolf Eden des Ruhrgebiets, der seine schlohweiße Mähne, mit Goldkette abgerundet, noch heute altersgebeugt an die Schultern wechselnder Starlets lehnt und sich, wer weiß, mit Fernsehwerbung für Pokerportale über Wasser halten muss.

Stattdessen wurde Günter Netzer die respektierteste Persönlichkeit, die die Medienrepublik in Sachen Fußball kennt. Wenn Günter Netzer heute Abend zum letzten Mal das Spiel der deutschen Mannschaft kommentieren und sein Schlusswort über diese WM sprechen wird, eine Prognose auch für Löws „Fohlenelf“, wird dies von Millionen Zuschauern zugleich als Orakelspruch für Fußballdeutschland aufgesaugt werden, als sei es das Wort des Altbundeskanzlers. Wie sonst nur bei Helmut Schmidt hungert das Volk nach seinen einsilbig präzisen Analysen zur Lage der Nation, die kein anderer mit ähnlich trockenem Humor abgibt. Kaum zu glauben, der linksrheinische Jungplayboy hat den Status eines Weltweisen in Sachen Fußball erlangt. Wie war das möglich?

Das Leben des Günter Theodor Netzer, man kann es heute im Netz besichtigen, auf Jugendfotos und Youtube-Clips, die die legendären Torszenen zeigen, natürlich auch jenes Jahrhunderttor, mit dem er 1973 nach seiner Selbsteinwechslung die Borussia zum Pokalsieg hämmerte. Es zeigt einen Torschuss, der genau deswegen unhaltbar in den Winkel einschlägt, weil ihm der Ball über den linken Spann rutscht – während die Frisur unverrückbar festsitzt. Weil auf all den Bildern eben diese medienwirksam leuchtende Mähne aufleuchtet, könnte man leichtfertig glauben, dass seine Bilderbuchkarriere vor allem das Ergebnis einer cleveren medialen Selbstinszenierung war, bei der er, der Spielfeldstratege, immer gekonnt Regie über sein äußeres Erscheinungsbild führte. Doch das würde etwas Wesentliches verkennen: dass Netzers Erfolg weniger auf Außendarstellung als auf einem grundsoliden Fundament beruht, einer tiefen inneren Lebenseinstellung. Wenn Netzer kürzlich sagte, „es gab in meinem Leben nicht einen Morgen, an dem ich nicht in den Spiegel schauen konnte“, dann bezog sich das nicht auf seine in Stein gehauene Frisur, sondern auf seine charakterliche Unverbiegbarkeit.

Und so bemerkt man, wenn man die Bilder von damals bis heute Revue passieren lässt, dass sein durchgehendes Hauptmerkmal auch gar nicht die berühmte Mähne ist. Was den kurzgeschorenen 19-Jährigen, der die Borussia mit Easy-Rider-Koteletten in die Bundesliga führte, mit dem Elder Statesman von heute verbindet: Sein wildes Blond wurde immer von jenem seitlichen Betonscheitel domestiziert, der dafür sorgte, dass seine „Matte“ auch bei den schnellsten Antritten nie die Bodenhaftung verlor und er selbst trotz hochfliegenden Engelshaars nie abhob: ein veritabler Helmut-Schmidt-Scheitel, der ihm bei allen Playboy-Posen immer die nötige Erdung mitsamt trockener Selbstironie verlieh. „Man wusste bei mir immer, wo ich dran war“, grinste er kürzlich – und machte genau diese authentische Unverstelltheit für seine Erfolge als Fernsehkommentator verantwortlich.

Eben dieses Bei-Sich-Bleiben verlieh Netzer zeit seines Lebens auch die Fähigkeit, instinktsicher zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Wo andere Weltfußballer diesen Instinkt oft nur in den Untiefen des 16-Meter-Raums besaßen und sich außerhalb des Fußballfeldes mit ebensolcher Zielsicherheit in den Abgründen des Starlebens verloren – ob sie nun in Übersee dem Alkoholismus verfielen oder großmäulig auf einem Trainerposten nach dem anderen scheiterten –, da besaß Netzer immer das Geschick, sich schlafwandlerisch dorthin zu bewegen, wo er die richtigen Mitspieler fand. Als Spielgestalter hätte er mit seinen Pässen niemals glänzen können, wenn Berti Vogts und Herbert „Hacki“ Wimmer den Raum hinter ihm nicht mit ihren Pferdelungen abgesichert hätten, und auch seine preisgekrönte Medienkarriere wäre undenkbar ohne das einzigartige Zusammentreffen mit Gerhard Delling.

Genau dieser Instinkt, dieses Selbst-Vertrauen, führte dazu, dass er sich nicht nur im richtigen Moment in ein Spiel einzuwechseln wusste – sondern sich auch aus all den Spielen, die er spielte, wieder rechtzeitig auswechselte, ob als Profifußballer, als HSV-Manager oder als Lebemann. Auch die „Lovers Lane“, seine Discothek, gab er schon nach drei Jahren wieder auf, um zu Real Madrid zu gehen, wo er dann noch je zwei Meister- und Pokaltitel gewann.

„Ich finde, es ist genug. Ich finde mich genug. Ich habe einfach nichts mehr zu sagen.“ Auch das ist wieder einmal gut gesagt, und man darf sich schon jetzt freuen, auf welcher neuen Position er künftig mit seinem untrüglichen Instinkt auftauchen wird und wen er dabei zum Mitspieler hat. Auch wir werden unsere Freude daran haben, denn natürlich werden wir es in den Medien verfolgen können. Wieder werden wir dann an seinen Lippen hängen, wieder seine von trockener Lebensironie gesättigten Weisheiten aufsaugen, und sein Günter-Netzer-Scheitel wird bei seinem hochfliegenden Tun dafür sorgen, das Richtige vom Falschen zu scheiden.

Norbert Kron lebt als Schriftsteller in Berlin (zuletzt: „Der Begleiter“, dtv) und wurde mit der deutschen Autoren-Nationalmannschaft im Mai Europameister.

Norbert Kron

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