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Medien: Der Muezzin aus Berlin

Für „Stern“-Leser und Hauptstadtpolitiker: der wöchentliche „Zwischenruf“ von Hans-Ulrich Jörges

In dem Bestseller „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann kommt der Mathematiker Carl Friedrich Gauss auf den Zufall zu sprechen, den Feind allen Wissens, den er immer habe besiegen wollen. Aus der Nähe betrachtet, sehe man hinter jedem Ereignis die unendliche Feinheit des Kausalgewebes. Trete man weit genug zurück, offenbarten sich die großen Muster. Freiheit und Zufall seien eine Frage der mittleren Entfernung, eine Frage des Abstands.

Hans-Ulrich Jörges ist nah dran und weit entfernt davon. Der Leiter des Hauptstadtbüros des „Stern“ kann von seinem Büro aus die Macht sehen. Der Bundestag im Reichstag ist vom Spreepalais am Dom geschätzte 800 Meter Luftlinie entfernt, das Kanzleramt vielleicht 200 Meter mehr. Wenn die Epizentren von Legislative und Exekutive wieder kleinere und größere Schockwellen durchs Land jagen, dann spürt sie Seismograf Jörges als einer der Ersten. Und wenn sie gar auf die Bugspitze im obersten Stockwerk der Anna-Louisa-Karsch-Straße 2 ausgerichtet sind, dann spürt Jörges sie nicht nur, dann empfängt er sie als Good Vibrations. Er weiß dann: „Der wöchentliche Zwischenruf aus Berlin“ oder eine politische Enthüllung oder ein Interview mit einer Politgröße in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift sind im Echoraum angekommen – und kommen verstärkt zurück. Der Kampf um die wichtigste Ware im Geschäft der Kommunikation, Aufmerksamkeit, ist für Momente gewonnen.

Wer sich Woche für Woche in diese Seite „Stern“ reinliest, der möchte ausrufen: Jörges, das ist der Muezzin der Berliner Politik, da oben, in seinem 270Grad-rundverglasten Minarett! Zitate aus dem „Zwischenruf“ der Jahrgänge 2006 und 2007, selbstredend sämtlich aus dem Zusammenhang gerissen: „Es hat etwas von Familienbesuch, wenn Tante Angela dem Vetter George vom Schwager Wladimir und Bruder Jacques berichtet.“ – „Und das unerlöste Land bleibt unerlöst. Politisch gesehen ist es ein Land ohne Heilsversprechen. Zum ersten Mal in seiner Geschichte.“ – „Doch die Mehrheit stimmte zu. Sie votierte blind oder geblendet. Sie vergaß Grundgesetz und Auftrag. Sie verschenkte ihre Würde.“

Chic, kraftvoll, quellklare Worte, das auf jeden Fall – aber auch wahre Worte? Klarheit und Wahrheit, Wahrheit in Klarheit, Klarheit mit Wahrheit? Jörges will es eine Nummer kleiner: „Klarheit ist jedenfalls Wahrhaftigkeit.“ Er verweist aufs Publikum: „Die Leute erwarten Klarheit von der Politik, die erwarten weniger ein nach ihren Vorstellungen im Detail gelöstes Problem, die suchen jemanden, der sagt, das halte ich für richtig, dafür trete ich ein.“ Jörges meint damit Politiker, und weil immer weniger Politiker mit einem scharfen Profil aus dem Weichbild deutscher Politik hervortreten, schreibt Jörges – nicht in Stellvertretermanier, sondern aus seinem Selbstverständnis heraus – Klartext. Aus seinem Verständnis vom Menschentypus „Politiker“ her: „Ich erwarte, dass sich Leute Ziele setzen in der Politik.“ Das zu formulieren, sei ihm fast peinlich, aber die Mindeststandards seien heute schon große. „Politiker müssen“, fordert Jörges, „einen Überzeugungskern haben, und den sehe ich immer weniger in der Politik.“ Helmut Kohl, den habe er zwar immer kritisiert, aber bei dem könne man wenigstens sagen, dass er den Euro als Überzeugungskern gehabt habe. „Ein anderer Fall ist Peer Steinbrück, der Bundesfinanzminister: ein Mensch, der in seiner Politik noch seine Überzeugungen ausspricht und ihnen folgt.“

Also Steinbrück, also typisch Jörges, typisch „Stern“, typisch links? Da ziehen sich beim Journalisten die Augen zu Sehschlitzen zusammen. Sehr gut passt dazu die neue Frisur, der Cäsarenschnitt, besser als die Roland-Kaiser-Façon. Jörges sagt: „Ich wähle ganz unterschiedlich. Das geht heute auch nicht anders.“ Mit Eisen in der Stimme beschreibt er, was die Sache der Journalisten ist: „Wir haben uns im Schwergewicht mit der Macht zu beschäftigen und weniger mit der jeweiligen Opposition. Wir schreiben immer den Machtwechsel herbei und sind immer am schnellsten enttäuscht, wenn die Macht gewechselt hat. Eine natürliche Spannung, eine natürliche Unfairness.“ In der Selbstwahrnehmung heißt das: Jörges schrieb gegen Kohl, als Kohl an der Macht wahr, Jörges schrieb gegen Schröder, als Schröder an der Macht war, er schreibt gegen Merkel, die jetzt an der Macht ist.

Geboren 1951 in Bad Salzungen. Das 56. Lebensjahr macht manchen ruhiger, Hans-Ulrich „Uli“ Jörges nicht. „In der Selbstwahrnehmung würde ich sagen: Ich war immer so. Vielleicht täusche ich mich.“ Der Journalist hat keine Zeit, weil das Land keine Zeit hat. Drängendste Probleme – der Superlativ ist dieses Journalisten Feind nicht – warten auf Lösung. So ein „Zwischenruf“ ist stets maximal, und wenn er maximal pessimistisch ist, dann hat er den Charakter des Nachrufs.

Die Matrix, in die Jörges Politik und die Spitzenpolitiker einfasst, ist nicht fürchterlich kompliziert. Gute praktische Politik, schlechte praktische Politik – oder aber, die Politik ist Politologie. Zur Politologie der Politik sind andere mehr berufen als der politische Beobachter Jörges. Beobachten ist das eine, Analysieren das andere, das Zusammenschauen das überwölbende Dritte. Jörges hat seine Angela Merkel verstanden. Alles hängt mit allem zusammen, und weil sich Personalien immer süffiger lesen: Alle hängen mit allen zusammen. Der „Stern“-Leser muss annehmen, dass der Herr vom „Zwischenruf“ mit dem SPD-Chef frühstückt, mit dem Präsidenten luncht und sich abends von der Kanzlerin den Roten und die politischen Absichten dekantieren lässt.

Bei solcher Annahme fällt dem Manne schier die Pfeife aus dem Mund. Habe er nicht ständig gegen die Pudeljournaille in Berlin gewettert, gegen die „Embedded“-Kollegen, die mit der Macht kuscheln? Und nicht nur gewettert, sondern in Praxis und Person das Gegenteil gelebt und gearbeitet? Das Dreieck Unter den Linden, bestehend aus „Stern“-Büro, der Drehscheibe „Borchardt“ und dem „Café Einstein“, sei ein Mythos, genau wie der, dass die anderen Journalisten und er ständig in irgendwelchen Hinter- oder Chefzimmern sitzen würden.

Seinen „Zwischenruf“ hat Jörges, sicher ist sicher, mit G+J-Vorstandschef Bernd Kundrun ausgemacht. Als stellvertretender Chefredakteur muss er nicht fürchten, dass die Zentrale in Hamburg die aus Berlin kommenden Texte nach eigenem Gutdünken verarbeitet. Jörges hat auch hierarchisch eine starke Stellung in der Gesamtredaktion, das darf er von sich erwarten, wo er doch zum dritten Mal beim „Stern“ angestellt ist. Und Jörges, der politische Sternenfänger, ist keine One-Man-Show, er ist seiner Berliner Truppe das Leittier.

Es lacht des Kolumnisten Herz, wenn er seine Thesen in den meinungsführenden Sendungen erneuern darf. „Sabine Christiansen“ und „Berlin Mitte“, das sind bis zu acht Millionen Zuschauer, die zu den acht Millionen Lesern des „Stern“ addiert werden können. Radio, der „Presseclub“ am Sonntag – der medial vervielfältigte und sich vervielfältigende Jörges ist eine Werbebande. Gut für Jörges, gut für den „Stern“. Das ist Kalkül, das ist Befriedigung, und doch ist es mehr: Jörges diskutiert gern, nicht, dass er ein diskursiver Mensch im Sinne von Sowohl-als-auch wäre, er liebt den Streit, das Für und das Wider der Argumente, und er akzeptiert die Argumente nach ihrer Hierarchie. Jörges ist der ideale Gast für Deutschland in der Talkshow.

Gekürzter Vorabdruck aus: Die Alpha-Journalisten. Deutschlands Wortführer im Porträt. Hrsg. von Stephan A. Weichert und Christian Zabel. 421 Seiten. Herbert von Halem Verlag, Köln. 23 Euro. Im Buchhandel ab 4. Mai.

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