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Medien: Die letzten Zeugen

Der ARD-Dreiteiler über die Zwanziger Jahre beeindruckt durch die 90-Jährigen, die sich erinnern

Nein, „golden“ waren die Zwanziger Jahre nicht. Es gab natürlich Reiche und Neureiche, aber es gab massenhaft Armut. Arm sein in diesen Jahren, das hieß oft: nichts zu essen zu haben. Unzählige, auch viele Kinder, starben daran. Das wieder ins Bewusstsein zu rücken, neben allem Bunten und Verrückten, ist ein Verdienst des Dreiteilers „Die Zwanziger Jahre“, der heute Abend in der ARD beginnt.

Eines der ersten Bilder dieses Films ist natürlich der Bananen-Tanz der Josephine Baker, jener hüftenschwenkenden Schwarzen, die damals Furore machte. Aber Autor Christian Schulz zeigt uns auch die Kriegsinvaliden, die Beine oder Arme verloren haben. Neben den Tanzwütigen sehen wir die an Rachitis erkrankten Kinder in den lichtlosen Höfen, Massendemonstrationen der Arbeiter, Maschinengewehre und Wandervogel-Begeisterte in herrlicher Natur. Das überschäumende Jahrzehnt war Aufbruch in die Moderne und Absturz ins Chaos.

Ohne den Ersten Weltkrieg sind die Zwanziger Jahre nicht zu verstehen. Mit dem Krieg hatte das Kaiserreich abgewirtschaftet. Doch der Versailler Friedensvertrag, der „Schandvertrag“, wie ihn einer der Zeitzeugen nennt, war keine gute Grundlage für die Entwicklung der jungen Weimarer Republik. Die Wirtschaft litt unter hohen Reparationszahlungen, Lebensmittel waren knapp, und überall in den Straßen die Kriegsversehrten: 2,7 Millionen Männer galten als Krüppel, psychisch oder physisch. Die Not trieb die Menschen den radikalen Heilsversprechern in die Arme: „Vorhof der Hölle“, auf diesen Begriff bringt WDR-Kulturchef Helfried Spitra diese Zeit.

Die Fülle der Fakten, die wichtig sind, bündeln die Filme hin und wieder in Rückblenden zu den einzelnen Jahren. Stellenweise ist das etwas steif, aber dann folgen wieder eher symbolische Bilder – Druckmaschine, Filmprojektor, Maschinengewehr –, und Zeitzeugen bringen das Hochpolitische auf die persönliche Erfahrungsebene.

Auf der Suche nach ihnen haben Rechercheure Altersheime abgegrast, sich gezielt nach Hundertjährigen erkundigt. Zwei Dutzend Männer und Frauen, alle jenseits der 90, sind die Entdeckung dieses Films: Fast jedes Mal, wenn einer von ihnen zu Wort kommt, wird es anschaulich. Johanna Berg zum Beispiel, Jahrgang 1909. Morgens um vier stand man an für Brot, sagt sie, es gab Lebensmittelkarten. „Und man stand Schlange, Schlange, Schlange.“ Das ist keine große, neue Information, doch wenn man Frau Berg zuhört, öffnen sich Gefühle, dann ahnt man, was das konkret bedeutete. Vielleicht haben wir sie uns zu harmlos gedacht, die Zwanziger Jahre. Sicher, es gab eine neue Freiheit, das Frauenwahlrecht, die Entdeckung der Filmkunst, bedeutende Erfindungen. Die romantische Jugend, oder zumindest der Teil, der sich das leisten konnte, entdeckte das Leben im Einklang mit der Natur. Aber daneben tobten blutige Arbeitskämpfe, verloren Menschen in der Inflation ihren letzten Besitz.

Menschliches Glück ist trotz allem möglich gewesen. Erich Walde zum Beispiel lernte seine Frau in einer Wandervogel-Gruppe kennen. „Es war ein sauberes Verhältnis“, sagt Herr Walde. So eine Formulierung haben wir ewig nicht mehr gehört: „Ich habe nie ein anderes Mädchen geküsst, außer meine Frau.“

„Die Zwanziger Jahre“: Erster Teil einer dreiteiligen Dokumentationsreihe um 21 Uhr 45 in der ARD.

Eckart Lottmann

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