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Die Macht im Internet: Nicht ohne mein Netz

Das Internet: Tummelplatz der Selbstdarstellung war es, Bilder, Eindrücke, Banalitäten wurden gepostet. Inzwischen erkennt es seine Macht. Die User suchen und finden politische Partizipation.

Am 22. April dieses Jahres postete ein junger Mann ein drei- minütiges Video auf seiner Facebook-Seite. Binnen kurzer Zeit wurde dieser Film knapp 16 000 Mal unter den Usern geteilt und euphorisch bejubelt: „Wir bekommen einen starken Bürger!“, „Das klingt hoffnungsvoll!“, „Ich freu mich auf die Zukunft!“ „Jo, jo, die Geister, die sie riefen!“ Auf den ersten Blick zeigt dieses Video nichts Besonderes. Einen Mann, Endsechziger, seriöse Erscheinung im Anzug, weißer Bart und Brille. Vor ihm ein Mikrofon. Es ist der 5.7.2010. Man erfährt, dass der Redner Professor ist und Peter Kruse heißt. Die Einblendung nach wenigen Sekunden weist aus: „Öffentliche Sitzung der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft zum Thema: Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere Gesellschaft“. Politik also. Eigentlich nichts für sensationsverwöhnte User, die wegklicken, wenn Gewöhnlichkeit aufzukommen droht. Und Politik wirkt so, wie sie hier auf dem Video zu sehen ist, eher gewöhnlich: Politiker hören sich einen Experten an. Doch Kruse, der Professor, ist besonders. Der Mann kann reden, bestimmt und auf den Punkt kommend. Sein Punkt ist Macht. Die neue Macht der Bürger, verliehen und erfahren durch das Internet.

Vier Jahre verhallten die Warnungen ungehört

Bemerkenswert aber ist der Zeitpunkt, ab dem dieses Video durchs Netz schwirrte. Vier Jahre nach dem Tag, an dem die Enquete- Kommission die Einschätzung des Professors anhörte, welche gesellschaftliche Auswirkung das Netz auf die Menschen haben wird. Inzwischen ist eingetroffen, was Kruse prophezeit hatte. Die Menschen haben ihre Macht im und durch das Netz entdeckt. Sie wachsen an dieser Macht, experimentieren mit ihr. Sie partizipieren und protestieren mit ihr. Sie berauschen sich an ihr und denunzieren mit ihr. Es sind Prozesse, die unkontrollierbar sind, bisweilen fatale Folgen haben können. Wenn sie als übler Shitstorm enden, mit dem Menschen seelisch, moralisch und beruflich verletzt wenn nicht gar vernichtet werden. In drei Minuten, mehr Zeit wollte ihm die Kommission damals nicht einräumen, hatte Professor Kruse erklärt, worauf er seine Prophezeiung stützt. „Die Menschen haben sich in den vergangenen Jahren vehement vernetzt, weltweit sind sie miteinander verbunden. Im Web 2.0 jagte man dann die Spontanaktivität hoch.“ In dieser Phase wollen die User ihre persönlichen Spuren im Netz hinterlassen. Sie posten Bilder, Musik, Eindrücke, auch Banalitäten. Dann kommen „kreisende Erregungen“ hinzu, also interaktive Aktionen, bei denen die Menschen im Netz aufeinander und miteinander reagieren. Schnell, spontan und unvorhersehbar. „Wenn diese drei Aspekte zusammenkommen: Hohe Vernetzungsdichte, hohe Spontanaktivität und kreisende Erregung, dann haben sie die Tendenz zur Selbstaufschaukelung. Diese Systeme werden plötzlich mächtig und unkontrollierbar.“ So die Warnung des Professors. Vier Jahre später trägt Peter Kruse immer noch Bart, sitzt leger und hemdsärmelig im Büro seines Unternehmens nextpractice in Bremen. „16 000 Mal geteilt wurde es also“, sagt er. Er scheint beeindruckt zu sein. Warum sein damaliger Auftritt erst jetzt so erfolgreich sei? „Nichts ist mächtiger als die Vorhersage und das tatsächliche Eintreffen. Was ich damals gesagt habe, war noch eine abstrakte Betrachtung, für die Menschen noch nicht richtig wahrnehmbar, weil die entsprechenden Erfahrungen gefehlt haben. Inzwischen aber hat man sie erfahren, deswegen stößt das Thema bei den Usern auf eine so große Resonanz.“ Und auf die Resonanz derer, die vor vier Jahren den Experten hörten? „Diese Gesichter bei den Herrn Volksvertretern zeigen ganz klar, was sie davon halten“, lautet der Kommentar eines Facebook-Users auf das Video. Nämlich nichts. Oder nichts verstehend. Der Umgang mit dem neuen Machtgefühl der Netzgemeinde hätte möglicherweise schon politische Aufmerksamkeit und entsprechendes Reagieren erfordert. Die Politik jedoch habe damals, 2010, nichts verstanden und tue es auch heute nicht. Er habe, erinnert sich Kruse, auf die Politiker wie ein Alien gewirkt. An der Ignoranz scheint sich wenig geändert zu haben, vor zwei Jahren blamierte sich Kanzlerin Merkel mit der bahnbrechenden Aussage, dass das Internet „Neuland für uns“ sei. Wo anderenorts mittels der Macht des Netzes Revolutionen angezettelt werden oder, ex negativo, die Macht erkannt wird und derart gefürchtet ist, dass es abgeschaltet wird, verschläft die Politik in Deutschland die Entwicklung einer Generation, die erstmalige Machterfahrungen durch das Internet erlebt. Es ist eine Generation, deren Internetaffine sich zu 84 Prozent in sozialen Netzwerken tummeln, wie eine ARD/ZDF-Studie aus dem Jahr 2012 ergab. Und das trotz NSA, trotz Datenmissbrauch durch Google, Facebook und Konsorten. Der Kommunikation im Netz tut dies keinen Abbruch. Weil die Bedrohung, wie Mario Sixtus, Preisträger des Grimme Online Award und als Blogger eine der bekanntesten Stimmen im Netz, meint, zu abstrakt und fern ist. Das Furchtpotenzial sei mit der Angst vor Radioaktivität vergleichbar, ähnlich weit weg, schnell wieder vergessen, der gläserne User outet sich nach kurzer Aufregung munter weiter.

Tripadvisor ist zur wichtigsten Informationsquelle bei Reiseempfehlungen geworden

In virtuellen Gemeinden erfahren die Menschen Zugehörigkeitsgefühle, Bestätigungen und Unterstützung. Diese neue Generation wächst mit dem Selbstverständnis auf, Mitglied einer kollektiven Intelligenz zu sein, in die sie ihre eigenen Expertisen einbringt. Sie betätigen sich etwa als Warentester oder als Reiseexperten. Längst schon zählt Tripadvisor zur wichtigsten Quelle, wenn es um Reiseinformationen geht. „Leute, meidet Zimmer 20 im Hotel Smaragd, da ist direkt die Küche nebenan, es stinkt dort.“ Antworten auf Fragen werden nicht mehr auf den Webseiten der Anbieter gesucht, sondern bei sozialen Communities. In diese setzt man mehr Vertrauen als in Versprechungen aus Wirtschaft oder Politik oder Meldungen gängiger Medien. Die von Peter Kruse angesprochenen Aufschaukelungsprozesse verleihen den Usern eine besondere Macht. Etliche Unternehmen bekamen sie schmerzhaft zu spüren. Etwa Vodafone vor zwei Jahren, als sich eine Kundin auf ihrer Facebook-Seite über die vermeintlich zu hohen Rechnungen beschwerte. In den folgenden zwei Wochen wurde der Eintrag 150 000 Mal geliked, was bei der Facebookgemeinde Zustimmung bedeutet, und 15 000 Mal kommentiert. Gegen derartige Abstrafungen im Netz sind die Unternehmen inzwischen gut gewappnet. Zwar können sie diese nicht verhindern, aber vorausahnen und entsprechend reagieren, indem sie den Bock zum Gärtner machen. „Mit jungem Personal, das die spezielle Sprache des Netzes versteht, tauchen die Unternehmen in die sozialen Communities ein und sensibilisieren sich auf diese Weise für die Bedürfnisse ihrer Kunden“, erklärt Jörg Blumtritt, ehemaliger Geschäftsführer Deutschlands größter Mediaagentur Mediacom und Vorsitzender der AG Social Media. Parallel zu der neu empfundenen Stärke wächst bei der jungen Generation das Bedürfnis, sich an politischen Prozessen zu beteiligen. Die Menschen fordern zunehmend Transparenz und Mitspracherecht, wie eine Bertelsmannstudie aus dem Jahr 2012 erbrachte. Allerdings, und es ist erstaunlich, dass die statistischen Zahlen in der Pressemitteilung so und nicht anders ausgelegt worden waren, lehnt knapp die Hälfte der Befragten politische Teilnahme via Internet ab. Eine genaue Betrachtung des Originaldatenbandes verweist indes auf einen unveröffentlichten und eklatanten Unterschied zwischen den Generationen. Demzufolge würden 80 Prozent der 14- bis 29-Jährigen das Internet nutzen, um politischen Einfluss zu nehmen, doppelt so viele wie die 50plus- Generation. Und dabei meint es die junge Generation gemäß einer 2013 erstellten Studie der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg durchaus ernst. Online-Partizipation, E-Partizipation genannt, ist bei den 22- bis 35-Jährigen mitnichten reiner Zeitvertreib, Sensationslust oder Selbstdarstellung, sondern soll überwiegend als Hinweis auf Missstände verstanden werden. Online-Petitionen haben derzeit Hochkonjunktur. Auch sie sind Ausdruck eines neuen Mitsprachebedürfnisses und Machtempfindens. Einfach, unkompliziert, mit ein paar Klicks werden Unmut, Engagement und Beschwerden ausgedrückt. So protestierten beispielsweise mehr als 122 000 Menschen erfolgreich mit einem Campact-Appell gegen die baurechtliche Privilegierung von Riesenställen. Netzpetitionen thematisieren nahezu alles und jeden. Dass hier durchaus auch Pseudoengagisten Ablasshandlungen betreiben, steht außer Zweifel, gemäß dem Motto: Fühl dich besser mit drei Klicks auf Seiten wie https://www.campact.de/ oder open petition. Auf EU-Ebene hat man die Brisanz augenscheinlich erkannt. Dort ahnt man nicht nur, wie bedeutend E-Partizipation inzwischen geworden ist, man spürt auch, wie wichtig der enge Dialog zwischen Usern und der Politik ist. Langsam stellt man sich darauf ein, dass die Menschen eine neue, unausweichliche Richtung angeben: Politiker werden sich zunehmend in soziale Communities begeben müssen, um den Umgang mit der neuen Generation zu lernen. Nicht umgekehrt. Und Deutschland? „Deutschland liegt zurück“, hatte man damals die EnqueteKommission aus dem Jahr 2010 betitelt. 2014 scheint es nicht anders zu sein. Die deutsche Politik wirkt netzfern und alles andere als gut gerüstet für die Ansprüche ihrer jungen Bürger. Das Übel beginnt bereits bei der Wurzel, allein schon beim Wort Partizipation. „Die Bevölkerung hat wenige Möglichkeiten zielführender Beeinflussung von Projekten. Das Bundesinnenministerium hat ein 96-seitiges Handbuch zur Bürgerbeteiligung herausgebracht, das allerdings gedruckt nicht erhältlich ist, also der Öffentlichkeit weitgehend vorenthalten wird“ , behauptete die Bundeszentrale für politische Bildung jüngst. Und gibt man auf der Webseite eben dieser Bundeszentrale das Stichwort Partizipation in die Suchmaske ein, erscheint ein Text aus dem Jahr 2009. Dort steht: „Bürgerentscheide, Volksentscheide, Petition, eine Eingabe an die zuständigen Stellen.“ Eingabe per Post oder zu Fuß? Das klingt in den heutigen Zeiten realitätsfern. Die Machtverschiebung, wie Professor Kruse sie vor vier Jahren prognostiziert hatte, ist in den Köpfen der Politiker nicht angekommen. „Nach der Enquete ist nichts passiert, kein Nachhaken, niemand mehr hat sich bei mir gemeldet“, erklärt Kruse. Eine Anfrage des Tagesspiegels bei der Pressestelle der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, ob und welche Schlussfolgerungen aus der damaligen Kommission gezogen wurden, blieb unbeantwortet. Wenigstens gab es 2012 einen Bundeskongress zum Thema „Zeitalter der Partizipation“. Als solches könnte dieses Jahrzehnt durchaus in die Geschichtsbücher eingehen. Doch was brachte dieser Kongress? „Nichts“, sagt Sebastian Basedow, Politiker von Bündnis 90/Die Grünen, Spezialist für E-Partizipation bei Zebralog und Mitbegründer des Vereins Netzdemokraten e.V. „Da fehlt das nötige Gespür für die Menschen im Netz und die Umwälzung, die da gerade stattfindet. Bis auf wenige, meist auf lokaler Ebene engagierte Politiker, wird auf Bundesebene nicht verstanden, dass es keine Modeerscheinung ist, was hier passiert. Und wenn sich Politiker mal mit den besten Absichten in die sozialen Medien stürzen, sieht das meistens furchtbar aus“, erklärt Mario Sixtus. „Copy and Paste aus der Wahlkampfbroschüre. Die Innenansichten und neuen Kommunikationswege der jungen Menschen interessieren da nicht. Hier versäumen die Politiker was Elementares!“

Die Politik verschläft die Entwicklung der neuen Netz-Gemeinde

Woher rührt diese scheinbare Ignoranz? Hat man Angst, sich im „Neuland“ Internet zu verirren? Ist dort alles zu fremd, zu unheimlich? Und/oder wird es nicht besonders ernst genommen? Hintergrund ist ein politisches System, das sich gegen Wandel wehrt und, wie Kruse und Sixtus gleichermaßen erklären, ein krampfhaftes Festhalten an der Macht. Möglicherweise will sich die Politik auch nicht in die Karten schauen lassen und tastet sich heimlich langsam heran an dieses Neuland. Zu hoffen ist es, denn den Dialog mit der neuen Generation dahindümpeln lassen wie bisher, wird langfristig nicht weiterführen. Die neue Generation lernt im Netz Wehrhaftigkeit und Selbstbewusstsein. Weitermachen wie bisher, mit mangelnder Transparenz und Gesetzesbeschlüssen hinter verschlossenen Türen dürfte bald passé sein. Irgendwann wird hier ein Umdenken und Handeln erforderlich sein, nicht nur weil die Menschen dies einfordern, sondern auch, „weil die EU uns gesetzlich zwingen wird, das Thema voranzubringen“, wie Basedow prognostiziert. Hinzu kommt: Die politischen Aufschaukelungsprozesse werden mittel- und langfristig nicht im Netz verharren. Sie werden sich zunehmend auf das reale Leben übertragen. Online oder Offline, Virtualität oder Realität, die Grenzen verschwinden immer mehr. Menschen werden sich noch mehr im Internet synchronisieren, um sich im realen Leben zu treffen. Nicht nur zu einer Gartenparty, zu einem Flashmob, sondern auch zu Demonstrationen. Umgekehrt wandert ins Netz, was die Menschen im realen Leben bewegt. Jüngstes Beispiel: Das Online-Spiel „Zerstört Zerstört“, von „besorgten Berliner Bürgern“ entwickelt und ins Netz gestellt, lässt es den Gentrifizierungsprozess Berlins nicht nur virtuell nachvollziehen, es lädt auch zum Chatten ein und flankierte das Volksbegehren gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes. Der Einfluss auf die Entscheidung gegen die Bebauung dürfte erheblich gewesen sein. „Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir Vorhersagen machen“, hatte der Professor bei der Anhörung gewarnt. Das Fatale an Aufschaukelungen ist deren Unvorhersagbarkeit und Unkontrollierbarkeit. Die können dann eben auch auf Falschmeldungen und Verschwörungstheorien basieren, denen man Glauben schenkt. Unrühmliches Beispiel ist die virtuelle Gemeinde „Anonymus“ mit ihren Hetzkampagnen gegen die herkömmlichen Medien. „Man muss nah an den Menschen sein, muss wissen, was sie bewegt in solchen Systemen. Dann kann man zwar immer noch nicht genau vorhersagen, was passiert, aber man hat ein Gefühl für die Resonanzmuster der Gesellschaft. Es ist eine Frage der Empathie, des Einfühlungsvermögens in das, was die Menschen gerade bewegt“, so Peter Kruses Worte von 2010 an die Politiker. „Wir können es uns nicht erlauben, uns nicht zu verändern!“ In Anlehnung an Erlkönigs Drohung ans sterbende Kind hatte der Professor seine Rede beendet: „Und bist du nicht willig, so brauch ich Geduld.“ Die hat die Politik ja nun bewiesen. Und wurde überholt.

Christiane Tramitz

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