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Medien: Die Unruhe der Frau Seiler

Im Zweiteiler „Emilia“ zum seltenen Thema Jugendarbeit spielt Senta Berger die Pädagogin mit Herz

Das „Haus Lechthal“ bietet Jugendlichen, die Straftaten begangen haben und im Knast gelandet wären, gäbe es nicht das Konzept „Heim statt Haft“, eine „zweite Chance“ –- das ist das Milieu, auf das die Heldin Emilia Seiler (Senta Berger) und mit ihr die Zuschauer des Zweiteilers sich einzulassen haben. Dr. Seiler ist Referentin im bayerischen Sozialministerium, sie ist die Autorin des erwähnten Konzepts. Deshalb liegt es nahe, sie einzuladen, als das Haus Lechthal sein zehnjähriges Bestehen feiert. Was sie sieht, erschreckt die Referentin. Sie erkennt: Zwischen Theorie und Praxis klafft ein Abgrund. Und als sich die Gelegenheit bietet, wagt sie den Sprung an die Front und übernimmt die Leitung des Heims.

Hier wird sie kopfüber in all die Probleme gestürzt, die unsere Epoche mit ihrer Vergötzung ökonomischer Rationalität so aufwirft. Die Heimwerkstätten sind nicht rentabel, also sollen sie geschlossen werden. Der Koch ist zu teuer – also kriegt er die Kündigung. Herr Hartmann, der geschäftsführende Leiter, hat das Profitprinzip, nach dem sein „Betrieb“ arbeiten soll, gehorsam verinnerlicht, zum Entsetzen der Frau Seiler.

Und die Kids? Auch sie funktionieren nach diesem Prinzip, sie versuchen für sich möglichst viele Vorteile herauszuschlagen, sie lügen, sie dealen, sie verweigern sich. Bestürzt, empört, zum Äußersten entschlossen wirft Emilia sich in den Kampf um mehr Menschlichkeit. Niederlagen bedrücken sie, beugen sie aber nicht. Beharrlichkeit und Menschenliebe verschaffen ihr Etappensiege – und am Ende sieht die Welt ein wenig besser aus.

Sozialromantik wäre der Vorwurf, der sich bei einem solchen Stoff und bei einer überlebensguten Zentralfigur aufdrängen will – aber nein, er ist unberechtigt. Die Gefahr einer Verharmlosung der Realitäten im Knastvermeidungsheim wird gebannt. Man ist schließlich angetan von diesem Versuch, das Schicksal einer Randgruppe, die als Sparsamkeit getarnte Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft und die Tatkraft einer Einzeltäterin zu so einem soliden, streckenweise spannenden und dramaturgisch ehrgeizigen Zweiteiler zu verschränken. Senta Bergers Leistung wäre besonders herauszuheben. Sie spielt (wie auch in der ZDF-Reihe „Unter Verdacht“) eine Fachfrau in einer Funktion, die sie zunächst zu überfordern scheint. Anders als das Klischee es will, wächst sie aber nicht etwas über sich hinaus oder derart in ihre Rolle hinein, dass sie ihre Mitwelt durch verborgene Qualitäten, die jetzt endlich zum Vorschein kämen, verblüffte. Nein, sie bleibt im Grunde eine an sich selbst zweifelnde, in allerlei Fallen tappende, eher schwache Person, die oft nicht weiter weiß und immer wieder die Augen niederschlägt. Sie gewinnt, weil sie von ihrer Aufgabe erfüllt ist, weil sie weiß, dass die Kluft zwischen Theorie und Praxis nur durch persönlichen Einsatz überbrückt werden kann. „Sie geben nie Ruhe, wie?“ sagt Gegenspieler Hartmann (bravourös: Peter Sattmann) zu ihr und trifft damit den Punkt. Die Unruhe der Frau Seiler entstammt nicht dem Bedürfnis, sich zu profilieren und Pluspunkte zu sammeln, sondern dem Gefühl, dass die Welt nicht in Ordnung ist und dass es falsch ist, sich damit abzufinden.

Wer Senta Berger preist, muss auch Gabriela Sperl loben, denn sie ist es, die als Drehbuchautorin die Figur der Emilia entworfen hat. Tim Tragesers Regie hält die Waage zwischen unterhaltsamer Turbulenz und anklägerischer Sozialkritik. Am Ende dann ist der Zuschauer weniger geneigt, sich über die Erfolge der fiktiven Emilia zu freuen, als sich über die realen Zustände in Jugendheimen aufzuregen. Was bestimmt im Sinne der Erfinder ist.

„Emilia“, ARD, 20 Uhr 15, zweiter Teil am 6. 10.

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