zum Hauptinhalt
Am Online-Pranger.

© imago

Aufruf zur Selbstjustiz: Am Online-Pranger

„Gebt das Schwein raus“, „Lasst die Fäuste fliegen“: Gerade nach Verbrechen an Kindern wird häufig der Ruf nach Selbstjustiz laut. Warum gerade die sozialen Medien schnell zum Online-Pranger werden.

Sie taten es als Neugier ab, auch weil einige auf Bäume kletterten. Aber so ganz wohl wird der Handvoll Polizeibeamten nicht gewesen sein, als sich im März 2012 ein wütender Mob von etwa 50 Menschen vor dem kleinen Polizeikommissariat in Emden versammelte. Gegen 22 Uhr hörten die Beamten die ersten Rufe von draußen: „Gebt das Schwein raus.“

Knapp eine Woche zuvor war in der knapp 50 000-Einwohner-Stadt Emden die Leiche der elfjährigen Lena in einem Parkhaus gefunden worden. Mord an einem Kind, dazu der Verdacht sexuellen Missbrauchs – die Emder waren geschockt. Schnell war ein Verdächtiger gefunden, 17 Jahre alt, Berufsschüler. Die Situation hätte sich beruhigen können, wenn da nicht diese Nachricht bei Facebook gewesen wäre.

„Nachbarn des Verdächtigen beobachteten die Verhaftung und posteten das bei Facebook“, sagt der zuständige Oberstaatsanwalt Klaus Visser. Die Diskussion bei Facebook schaukelte sich schnell hoch. „Ab zur Polizeiwache, lasst uns das Schwein mit Steinen beschmeißen“, schrieb einer. Kurz darauf bildete sich der Mob, der den Kopf des vermeintlichen Täters forderte. Erst um vier Uhr in der Nacht zerstreute er sich allmählich. Der 17-Jährige, so stellte sich kurze Zeit später heraus, war unschuldig.

Aufruf zur Selbstjustiz in sozialen Netzwerken – diese Fälle häufen sich, nicht nur in Deutschland. Als 2013 beim Boston-Marathon eine Bombe detonierte, drei Menschen tötete und mehr als 260 verletzte, verbreiteten sich Fotos vom Tatort und Theorien über mögliche Täter im Internet. Bei reddit, einem sozialen Netzwerk, das in der Netzgemeinde eine hohe Glaubwürdigkeit genießt, sammelten tausende User unter dem Titel „Find Boston Bombers“ Indizien und Fotos, die bei der Überführung des Täters helfen sollten. Der Marathon war ein Medienereignis, am Rande der Veranstaltung filmten die Zuschauer, machten Fotos. Wenn nur genug Leute ihre Handyfotos zusammentrugen, müsste ein Bild des Täters doch dabei sein. Die Intention mag gut gewesen sein, doch entwickelte sich daraus eine Art Hexenjagd, ein Online-Pranger. Eine junge Frau meinte, einen der beiden Verdächtigen – das FBI hatte selbst Bilder im Internet veröffentlicht – zu erkennen. Sie mutmaßte, dass es der 22-jährige Student Sunil Tripathi sei.

reddit zeigte 2012 wie Breaking News im Internet aussehen können

Was dann passierte, zeigt die grundlegende Gefahr, die in sozialen Netzwerken bei der Aufklärung von Straftaten entstehen kann. Gerade reddit ist im Jahr zuvor während des Attentats in einem Kino in Aurora bekannt geworden. Die ganze Nacht über trugen User Augenzeugenberichte zusammen und zeigten so, wie Breaking News im Jahr 2012 aussehen könnten. Das hatten die amerikanischen Medien im Falle des Boston-Marathons nicht vergessen. Reddit war zu einer Quelle für Journalisten geworden. Und so fanden sich mehrere Übertragungswagen und Printjournalisten vor dem Haus der Familie Tripathi ein, um herauszufinden, was an den Beschuldigungen dran sei.

Nichts, wie sich nachher herausstellte. Sunil Tripathi wurde kurz darauf tot aufgefunden. Und auch wenn kein direkter Bezug zwischen seinem Tod und der Online-Diffamierung nachzuweisen ist, war der Schaden für die Familie nicht mehr rückgängig zu machen. Doch was bewegt Menschen dazu, Leute an den Pranger zu stellen?

„Die gefühlte Gerechtigkeit des Einzelnen ist verletzt“, sagt Dr. Ulrich Wagner,

Professor für Sozialpsychologie an der Universität Marburg. „Dazu kommt häufig ein Grundmisstrauen dieser Personen in die Strafverfolgung.“ Gerade bei extremen Straftaten, wie etwa dem Anschlag auf den Boston-Marathon, empfänden Menschen die Strafen, wenn der Täter denn gefasst wird, als nicht hart genug. Dazu gehörten auch Fälle wie Kindesmissbrauch und -tötung. Wie im Fall des achtjährigen Armani, der vor rund fünf Wochen tot in einem Bach bei Freiburg gefunden wurde.

„In Freiburg waren alle Menschen emotional beteiligt“, sagt Polizeisprecherin Laura Riske. Über 400 Hinweise aus der Bevölkerung gingen bei der Sonderkommission ein. Darunter auch ein Phantombild, das über Facebook und andere soziale Netzwerke geteilt wurde. Bisher Unbekannte stellten das Foto ins Netz, dazu die Aufforderung zur Selbstjustiz und „die Fäuste fliegen zu lassen, wenn der Mann angetroffen wird“.

In der Regel, sagt Riske, würde die Polizei nicht jedes Gerücht dementieren. In diesem Fall aber sahen sie sich zu einer Richtigstellung genötigt. „Überlegen Sie mal, Sie sähen dem Mann auf dem Bild ähnlich“, sagt Riske.

Es erscheint paradox: Die Polizei ist auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen, der Fall des getöteten Armani lief sogar bei „Akte XY ungelöst“. Mehr als 400 Hinweise sind bei der SoKo eingegangen. „Das bindet Personal“, sagt Riske, „das für die Ermittlungen wegfällt.“ Doch wenn diese Informationen nicht direkt vom Bürger an die Polizei gehen, sondern in sozialen Netzwerken geteilt werden, kann sich eine Eigendynamik entwickeln, die nicht mehr aufzuhalten ist – auch nicht durch die Polizei.

„Im Internet“, sagt Wagner, „besteht immer die Gefahr, dass sich Diskussionen hochschaukeln und in extremen Positionen enden.“ Das grundsätzliche Problem liege in der anonymen Kommunikation im Netz. Der Online-Austausch kann zu einem Risikoschub führen. Dieser Effekt beschreibt das Phänomen, dass sich individuelle risikante Entscheidungen durch die Interaktion in der Gruppe verändern – meist in Richtung einer größeren Risikobereitschaft.

Auf Facebook sieht man keine Mimik, hört keine Stimme

Das hängt mit der Natur der Online-Kommunikation zusammen. Die findet nur auf einem Kanal statt. „Man sieht bei Facebook keine Mimik, hört keine Stimme, kann nicht beurteilen, wie sicher sich der Gegenüber ist oder ob er nicht vielleicht Zweifel an seiner eigenen Aussage hegt“, sagt Wagner. Angenommen, jemand sagt in einem direkten Gespräch, dass man jeden Vergewaltiger hängen sollte. Auf dem Gesicht des Rezipienten könnte sich ein Ausdruck der Empörung zeigen. In der Online-Kommunikation gibt es das nicht.

Ein Problem, das auch die Polizeigewerkschaft erkannt hat. Die fordert höhere Strafen für Personen, die zur Selbstjustiz aufrufen oder Menschen in sozialen Netzwerken an den Pranger stellen. Nur ist diese Art der Strafverfolgung nicht so einfach. Noch immer benutzen viele User bei Facebook nicht ihren Klarnamen. Und selbst wenn: Die Server des sozialen Netzwerks stehen in den USA. Als die Oberstaatsanwaltschaft im Fall Lena eine Anfrage nach Amerika schickte, blieb diese unbeantwortet. „Nach dem 11. September haben die USA die Voraussetzungen für Rechtshilfegesuche geändert“, sagt Oberstaatsanwalt Klaus Visser. Nur bei schwerwiegenden Tatbeständen gibt die USA noch Auskunft. Die Polizei hatte in diesem Fall Screenshots der Facebook-Einträge, der Täter hat gestanden. Zwei Wochen Hausarrest waren die Folgen für ihn. Auch weil man letztlich nicht nachweisen konnte, dass der Mob vor dem Polizeikommissariat aufgrund von Facebook zustande kam. Bei der Verhandlung war Visser vor Gericht dabei, er erinnert sich noch genau daran, was der Richter sagte: „Das war ein Fall von leichtfertigem und unverantwortlichem Umgang mit sogenannten sozialen Medien.“

In Emden haben sie den Schock über die Tat bis heute nicht verwunden, im letzten Jahr lief ein Fernsehfilm dazu bei Sat 1, über drei Millionen Zuschauer, Titel: „Nichts mehr wie vorher“. Auch die Arbeit von Polizei und Staatsanwälten hat sich verändert. „Ich bin zu alt, um zu verstehen, dass sich Leute zu allem äußern müssen“, sagt Oberstaatsanwalt Visser. In Freiburg wiederum hat die Polizei Anfang des Jahres eine neue Kriminalinspektion ins Leben gerufen. Die Beamten vom „KI-5“ sollen sich verstärkt um Cyberkriminalität kümmern. Damit ihre Kollegen nicht noch häufiger von wütenden Mobs, die sich im Internet aufgeschaukelt haben, vor dem Polizeikommissariat überrascht werden.

Glossar: Aufruf zur Straftat

„Lasst die Fäuste fliegen, wenn der Mann angetroffen wird“ – nach dem Mord an dem achtjährigen Armani in Freiburg wurde über die sozialen Medien zur Selbstjustiz aufgerufen. Die Gesetzeslage in solchen Fällen ist jedoch eindeutig: Die öffentliche Aufforderung zu Straftaten gilt in Deutschland gemäß § 111 Strafgesetzbuch als Vergehen und kann mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft werden.

Zur Startseite