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Computer

© Kitty Kleist-Heinrich

Schummelnde Schüler: Der Copy-Schock

Markieren, kopieren, einfügen: drei Tastengriffe, und Dein ist Mein, wozu noch selber denken? Wie das Internet aus Schülern Betrüger macht – und aus Lehrern Detektive.

Von Maris Hubschmid

Nur zu gut weiß Justus* noch, wie jener Moment war. Er musste zu dem Lehrer an den Tisch kommen, der schob ihm ein Blatt Papier hin, das nun direkt neben der Facharbeit lag, die Justus geschrieben hatte. „Gräuliches Recyclingpapier, wie es in Schulen halt verwendet wird“, erinnert sich Justus. Auch an den fragenden Blick des Lehrers, die hochgezogene Braue. Daran, wie er, Justus, sich vorbeugt und im grellen Neonlicht des Klassenzimmers sofort erkennt, um was es sich handelt: einen Ausdruck der Quelle, aus der er seine Facharbeit kopiert hatte.

„Die Papierqualität war das Einzige, was die Seiten voneinander unterschied“, sagt Justus. „Ein Scheißgefühl war das. Mir war heiß und kalt zugleich.“

Er war aufgeflogen mit seinem Schummelversuch, dem anstrengungslosen Abschreiben. Die Quelle war online verfügbar, sie zu kopieren bedurfte es nur dreier Computerbefehle. Markieren, kopieren, einfügen: Copy and Paste.

Nun ist das Schummeln so alt wie die Schule und noch älter. Neu aber ist, dass junge Menschen über das Internet Zugang zu Inhalten jeglicher Art haben. Das erleichtert Recherche und Quellenfindung, aber auch Betrug. Das Wissensportal Wikipedia ist meist nur der Anfang. „Deine fertige Hausaufgabe gibt es doch schon!“, wirbt zum Beispiel der Anbieter „hausaufgabe.de“, „Warum also selbst abmühen?“ Gedichtinterpretationen, Referate und Aufsätze stehen zur Verfügung. Die Versuchung, sich zu bedienen, ist groß.

Referate und Hausarbeiten sind keine Literatur, wie „Axolotl Roadkill“ von Helene Hegemann es ist, der aus Zitaten und Plagiaten zusammengesetzte Bestsellerroman, der für den Leipziger Buchpreis nominiert war. Sie werden nicht freiwillig verfasst, und zweitens sollen sie beweisen, dass die Schüler verstanden haben, was Lehrer ihnen beibringen wollten. Dennoch steht die Hegemann-Debatte für eine Copy-and- Paste-Kultur, die das Bildungswesen entscheidend verändert.

Früher griffen Plagiatoren ins hauseigene Bücherregal, gingen in die Bibliothek oder liehen sich zur Inspiration die Arbeiten der Kommilitonen aus. Heute reicht es, Suchmaschinen zu kennen, zu googeln. Die Anonymität der Internetsurfer lässt die Hemmschwelle schwinden – wie auch die Angst vorm Erwischtwerden.

Doch immer mehr Lehrkräfte an Schulen und Universitäten wissen genau, wie sie die Schummel-Schüler mit deren Waffen schlagen können. Sie tauschen sich in Internetforen aus und helfen beim Aufspüren von Plagiatsfällen. Im Internet surfen, das können sie auch.

Die Universität Münster griff 2005 zu einer radikalen Maßnahme. Sie drohte Plagiatoren mit einem Bußgeld von bis zu 50 000 Euro. Viele Lehrer und Dozenten verwenden inzwischen Programme wie „Plagiarism Finder“, die das Aufdecken von Plagiatsfällen erleichtern sollen. Rund 10 000 Lizenzen hat der Hersteller bislang an Gymnasien und Universitäten verkauft. „Der Plagiarism Finder bedeutet ein gutes Stück Waffengleichheit im Kampf zwischen Korrektor und Plagiator“, sagt ein Nutzer auf Lehrer-Online.

Als Justus vor drei Jahren sein Facharbeitsthema in das Suchbegriffsfeld eingab und auf Enter drückte, habe er zunächst „nur mal gucken“ wollen, was es „dazu schon so gab. Überblick verschaffen und so“. Justus sitzt an der Theke des Lokals, in dem er jobbt, er ist jetzt Student, hat einen zweiten Anlauf ein Jahr später zum Abitur gewagt und es geschafft. „Natürlich an einer anderen Schule“, sagt Justus, „das komplette Kollegium wusste ja Bescheid.“ Die hätten ihn behandelt wie einen Schwerverbrecher. „Ich hab mir das Thema schon ein bisschen in der Hoffnung gekrallt, dass man dazu einiges findet im Netz“, gibt er zu, „nicht erst lange Bücher wälzen muss.“ Seine Augen werben um Verständnis, seine Gestik fordert Bestätigung. Er ist bemüht, sein Gegenüber ins Boot zu holen. „Na ja, und da seh’ ich: Ein Baden-Württemberger hat die Frage genauestens beackert. Super gründlich, einfach perfekt, keine Ergänzungsmöglichkeiten.“ Er stockt, lächelt verschämt. „Ich habe noch gedacht, die Süddeutschen, die haben hohe Unterrichtsstandards, das ist ein Qualitätsprodukt.“ Schicksal sei das gewesen. „Da hätte jeder zugegriffen“, sagt er.

Für Hans-Walter Hoge, den 63-jährigen Direktor des Gymnasiums Lerchenfeld in Hamburg, steht eins außer Frage: „Es gibt kaum noch Skrupel beim Klauen“, sagt er. Weil ihm in den vergangenen Jahren immer häufiger Arbeiten vorgelegt wurden, die von A bis Z abgekupfert waren, lässt er seine Schüler inzwischen schriftlich erklären, dass sie nur die Quellen verwendet haben, die sie auch als Quelle nennen. Vielleicht hat er damit die Grundlage für einen neuen und angemessenen Umgang gelegt. „Natürlich hat es das Plagiat schon während meiner Schulzeit gegeben“, sagt Hoge und schiebt die randlose Brille den Nasenrücken hoch. „Der Unterschied ist, dass beim Abschreiben damals der Text über die Hand doch auch irgendwie ins Hirn des Plagiators gelangte. Das ist heute anders, wenn man mit wenigen Klicks ganze Seiten übernehmen kann.“ Das Lerchenfeld ist eine übersichtliche Schule, Hoge kennt seine Schüler persönlich. „Ich will nicht sagen, dass die Plagiatoren moralische Bedenken gegenüber Urheber und Aufgabensteller beiseiteschieben“, sagt er: „Sie haben gar keine.“ Einen Grund dafür sieht Hoge im schier unendlichen Angebot des Internets. „Es liegt so viel rum, dass schon das Aufsammeln und Finden im Selbstverständnis der Plagiatoren als kreativer Akt gilt.“

Es verschieben sich Maßstäbe. Dein und Mein wird neu definiert, wie vielleicht auch das Du und Ich. So weit jedenfalls wagt sich Michael Bongardt, der geschäftsführende Direktor des Instituts für Vergleichende Ethik in Berlin, vor: „Das Verständnis von Identität insgesamt wandelt sich“, sagt er. „Es ist gang und gäbe, dass junge Menschen in Internetforen unter Fantasienamen Meinungen verbreiten. Wer solche Pseudonyme benutzt, distanziert sich von dem, was er produziert.“ Denker und Erdachtes gehören nicht mehr untrennbar zusammen. Deshalb bedienen sich laut Bongardt „viele wie selbstverständlich fremder Inhalte“. Und bewegen sich so zu einer mittelalterlichen Mentalität zurück, nach der geistige Äußerungen der Allgemeinheit gehören.

Überlegungen dieser Art sind Justus fremd. Er fühlte sich ertappt, ja. Aber schlechtes Gewissen? Eher versteht er die ganze Aufregung nicht. „Jeder holt sich 80 Prozent seiner Referate aus dem Netz. Ich dachte: Wenn’s alle machen, wieso soll das verwerflich sein?“ Im Studium laufe es jetzt nicht anders als damals in der Schule. „Auf dem Campus stellt sich keiner die Frage, ob er kopieren soll – sondern wo.“ Wie die anderen, so auch er. „Ich hab doch gar keine Wahl“, rechtfertigt er den Ideenklau. „Studieren ist hart. Ständig wollen sie Leistungen sehn. Da heißt es dopen oder abkupfern“.

Es ist noch nicht lange her, da saß in Berlin ein 18-jähriger Schüler vor einem dreiköpfigen Lehrerausschuss und musste sich rechtfertigen. Der Vorwurf: Er hatte abgeschrieben. Das kostete ihn die Abiturzulassung für dieses Schuljahr, eine harte Konsequenz gemessen daran, dass das Vergehen als alltäglich gilt.

Der Lehrer, der diese Strafe für richtig hält, will mangelndes Unrechtsbewusstsein als Erklärung dafür aber nicht gelten lassen. Er sagt: „Wenn ein Schüler schreibt: Da und da habe ich überzeugende Argumente gefunden, die führe ich jetzt auf, reicht das vielleicht für eine Zwei!“ Die Schüler seien ja aufgefordert, Quellen anzugeben. „Wenn da dann zig Webseiten aufgeführt sind, nur ausgerechnet die eine nicht, von der zwei Drittel der Arbeit wörtlich übernommen wurden, ist das keine Nachlässigkeit.“ Und er wird sauer, wenn er merkt, dass ihn jemand zu täuschen versucht. „Dann frag ich mich: Für wie blöd halten die mich?“ Dass jene aufgeflogene 20-seitige Facharbeit so nicht aus der Feder des Schülers stammte, war ihm schnell klar. Inhalt und Schreibstil passten nicht.

Laut Justus ist das Eins-zu-eins-Übernehmen ein typischer Anfängerfehler. Man müsse schon darauf achten, dass der Text nicht vor Fremdwörtern und Fachvokabular strotze. Er ist sich sicher, dass er heute raffinierter schummeln würde: „Man muss halt wissen, mit welchem Dozenten man’s machen kann.“ Die meisten wüssten das schon ganz gut, fügt er hinzu. Copy and Paste sei in seinem Semester wahrscheinlich die am meisten gebrauchte Tastenkombination.

Tatsächlich ist die Bereitschaft groß, sich mit fremden Federn zu schmücken. 2005 gaben im Rahmen einer Studie neun von zehn Studenten an, das Abschreiben in Betracht zu ziehen.

Dabei entlässt das große Plagiatsspiel am Ende nur Verlierer. Der Urheber wird beklaut, der Lehrer getäuscht, und auch der Schüler, der Student bringt sich um den Lernerfolg, das Begreifen eines Sachverhalts, die Freude am Selbstgedachten.

Der Berliner Lehrer würde gern einen anderen Weg gehen: nicht das Abschreiben im Nachhinein bestrafen, sondern die Schüler besser auf den richtigen Umgang mit dem Medium Internet vorbereiten. Deshalb bietet er einen Kurs „Wissenschaftliches Arbeiten“ an, der Grundlagen des Recherchierens und Zitierens vermitteln soll. Die Teilnahme ist freiwillig. Wenn Verlag und Kritiker auf die „Sharing-Kultur“ des Internets verweisen und eine plagiierende 18-Jährige zur Hauptstadtprinzessin erheben, könne er das nicht ändern, sagt der Lehrer. Aber wenigstens wolle er dazu beitragen, dass sich die Missachtung fremden geistigen Eigentums bei seinen Schülern nicht festsetzt.

Der nicht versetzte Schüler ließ das Angebot ungenutzt. Er hatte zunächst heftig bestritten, abgeschrieben zu haben.Die Quelle sei ihm unbekannt und etwaige Übereinstimmung rein zufällig. Dann überlegte er es sich anders, sagte, er habe nur vergessen, die Quelle zu nennen. Er bekniete den Lehrer und den zuständigen Abteilungslehrer, ihn doch zum Abitur zuzulassen. Die beiden blieben hart. Ob der Schüler einen zweiten Anlauf wagt, wissen sie nicht. Er hat sich seit drei Wochen nicht in der Schule blicken lassen.

*) Name geändert

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