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Auch Trauer verändert sich. Die großen Familiengrabstätten verschwanden mit der bürgerlichen Großfamilie.

© Doris Spiekermann-Klaas

Virtuelle Friedhöfe: Lebendiger trauern im Netz

Eine imaginäre Kerze anzünden, eine Pixel-Blume ans Grab legen, eine mitfühlende Botschaft hinterlassen – das Internet kann tatsächlich dabei helfen, die Sprachlosigkeit im Umgang mit dem Tod zu überwinden.

Irgendwann durchzog der Duft von frisch geschlagenem Kiefernholz die Wohnung von Michael Stanley Kibbee in Toronto, Kanada. Das war, als er begann, sich im Flur einen Sarg zu bauen. Es würde mit ihm nicht mehr lange gehen, das wusste er – er war schwer krebskrank –, und er wollte die Welt auf keinen Fall in einem der handelsüblichen Plüschsärge verlassen, sondern in Kiefer und auf Baumwolle gebettet. Die Sargfrage war nicht das Einzige, was er mit Blick auf sein frühzeitiges Sterben in Angriff nahm.

Zusammen mit einem Freund bastelte er im damals – es war Mitte der 1990er Jahre – gerade groß werdenden World Wide Web eine virtuelle Gedenkstätte. Einen Ort nur aus Bits und Bytes, an dem Menschen sich über alle räumlichen Grenzen hinweg an Verstorbene erinnern könnten; an dem es beispielsweise einem Sohn, der inzwischen in Australien lebt, möglich sein würde, dem in Kanada gestorbenen Vater Blumen, wenn auch keine realen, an einer Art Grab niederzulegen, einfach, in dem er den Computer anschaltet und eine entsprechende Mail schickt.

1995 ging der „World Wide Cemetery“ online, den ersten Eintrag formulierte Kibbee selbst zur Erinnerung an einen an Aids gestorbenen Freund, und als er im März 1997 mit 33 Jahren dann auch starb, war er auf seinem Internetfriedhof schon der 93. Tote. Aber dafür immer noch der erste, der sich in einem letzten irdischen Scherz selbst kondolierte.

Wäre das auf einem echten Friedhof auch passiert? Eine launige Bemerkung, von einem arthrosegebeugten Steinmetz ächzend in einen marmornen Grabstein gemeißelt? Kaum vorstellbar. Aber mit flinken Fingern ins Materielose getippt – warum nicht?

Das Internet hat die Trauerkultur erfasst, und es verändert sie. Facebookseiten überleben ihre Ersteller und werden von den Hinterbliebenen stehen gelassen, als Adresse für alle, die sich sichtbar erinnern wollen, für Nachrichten an Geburts- oder Todestagen. Gedenkseiten entstehen neu, mal als kollektive Erinnerungsorte beispielsweise für gefallene Soldaten und Kriegsopfer, mal als individuelle: von Eltern für verunfallte Kinder, von Enkeln für ihre lieb gehabten Großeltern, von Freunden für beste Freunde; schon gibt es Streitigkeiten darüber, wer von wem was an Daten, Informationen, Fotos, Videofilmchen posthum veröffentlichen darf. Gerade hat die Bundesregierung eine Webseite präsentiert, die unter der launigen Webadresse www.macht’s-gut.de Tipps für den vorausschauenden Umgang mit digitalen Hinterlassenschaften gibt. Und auch von der anderen, der steinernen Seite her kommen virtuelle News in Form von Apps, die Friedhofsbesucher zu Gräbern von Prominenten führen.

"Internetfriedhöfe sind riesige labyrinthische Erinnerungsstätten"

So wurde der in Stein gemeißelte Friedhof mancherorts von einer reinen Grabstätte zu einer Adresse für Geschichtsinteressierte, Naturfreunde oder sonstige Spaziergänger, während parallel dazu das Totengedenken ins Internet abwanderte. Ein regelrechter Bedeutungstausch, den Norbert Fischer, Professor am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Hamburg und seit Jahrzehnten mit Toten- und Trauerkultur befasst, höchst erfreulich findet. Er nennt die Internetfriedhöfe „riesige labyrinthische“ Erinnerungsstätten, „in deren bisweilen mehreren tausend Einträgen man beliebig ,spazieren‘ kann“. Dabei kommt man vorbei an Liebeserklärungen von Angehörigen wie auch an Beileidsbekundungen von gänzlich Unbeteiligten, die sich durch ein schlimmes Schicksal haben rühren lassen. Man kann seitenlange mit Bildern und Gedichten geschmückte Lebensbeschreibungen finden, die Jahr um Jahr fortgeschrieben werden, oder auch nur ganz schlichte Ein-Satz-Einträge. Denn, so Fischer: „Die Trauer im virtuellen Raum ermöglicht ganz neue Ausdrucksmöglichkeiten.“ Er hat festgestellt, dass diese Virtualität die Trauer von der sinnlichen in die kommunikative Ebene verschoben hat. Aus der Ferne eine imaginäre Kerze anzünden, eine Pixel-Blume ans Grab legen, eine mitfühlende Botschaft hinterlassen – das sei als niedrigschwellige Einladung zum Mitfühlen zudem besonders geeignet für jene durchaus wachsende Zahl von Menschen, die im Angesicht von Tod, Trauer und Trauernden durch Verhaltensunsicherheiten gelähmt sind und sich zurückziehen, weil sie nicht wissen, wie sie sich ausdrücken könnten.

Diese Sprachlosigkeit werde im Internet überwunden, sagt Fischer. Vieles schreibe sich leichter, als es sich sage. Aber geht damit nicht einher, dass die Bereitschaft abnimmt, sich von Angesicht zu Angesicht mit der Trauer eines Menschen, mit leibhaftigen Menschen im Allgemeinen, auseinanderzusetzen? Das sieht Fischer nicht. Er glaubt vielmehr, dass im Internet Menschen kondolieren, die „sich sonst gar nicht geäußert hätten“. Das Gedenken 3.0 ergänze das reale, es ersetze es nicht.

Die Trauerkultur ist auch vor der digitalen Revolution schon ein steter Prozess gewesen, in dem sich gesellschaftliche Entwicklungen ablesen ließen. Seit dem späten 20. Jahrhundert veränderte sich das Aussehen der Friedhöfe in Folge und als Spiegel gesellschaftlicher Wandlungen. Die großen Familiengrabstätten verschwanden mit der klassisch-bürgerlichen Großfamilie, den an ihre Stelle tretenden Single- oder Kleinfamilienhaushalten reichten Einzelgrabsteine, und auch die anonyme Grabstätte oder die Bestattung im Rasengrab wurden immer beliebter. Die Hospizbewegung und die vielen jungen Aidstoten haben laut Fischer in den 1980er und 1990er Jahren die Themen Tod, Bestattung, Trauer aus dem Dunklen heraus in die Öffentlichkeit geholt und sie enttabuisiert. Es folgten Sammelgräber, Friedwälder und -parks, die Urne verdrängte den Sarg.

Diese Entmächtigung der Grabstätten ist danach immer mehr Ausdruck einer mobilen Gesellschaft geworden, in der Menschen ihre Leben über mehrere Orte, Länder gar verteilen, mit mehreren Partnern verbringen, so dass es am Ende keinen zwangsläufigen oder auch nur plausiblen Platz mehr für ihre letzte Ruhe gäbe, den pompös anzulegen sich anbietet. In diese Lücke stieß das Internet als von überall zugänglicher ortloser Ort vor.

Im Online-Friedhof "Strassederbesten" gibt es 24 000 Grabstätten

Dass diese moderne Art des Gedenkens Menschen mobilisiert, die sonst um Tod und Trauer lieber einen Bogen machen, dafür steht auch der Berliner Torsten Dittrich. 2007 erlitt eine Bekannte von ihm eine Fehlgeburt. Und weil es da noch die Unsitte gab, abgegangene Föten in den Klinikmüll zu entsorgen, gab es keine Leiche und keine Bestattung, also auch keinen Trauerort für dieses nie gewordene Leben. Da hatte Dittrich, als IT-Techniker von Berufs wegen internetaffin und seit längerem schon vom Wunsch getrieben, eine sinnvolle Internetseite zu bauen, endlich die Idee.

Mit einem Kollegen programmierte er eine virtuelle Gedenkseite. Unter dem Namen www.strassederbesten.de ging sie im November 2007 online. Die Fehlgeburt war der erste Eintrag, und der blieb nicht lange allein. Über soziale Netzwerke habe sich die Kunde von der neuen Seite rasant verbreitet, sagt Dittrich, 36, und das Feedback sei überwiegend positiv gewesen. Bis heute entstanden dort fast 24 000 Grabstätten. Damit hat Dittrich einen der größten Online-Friedhöfe geschaffen.

Die Opulenz der Einträge ist jedem selbst überlassen, die Plattform bietet verschiedene Features an, darunter auch eine tagesaktuelle Todestaggedenkliste. Außerdem gibt es ein Forum, in dem Trauernde in Kontakt treten und sich gegenseitig trösten können. Noch sei das alles ein Zusatzgeschäft, sagt Dittrich. Aber er plane, über Premium-Services Geld einzunehmen. Warum auch nicht, jedes Grab auf jedem realen Friedhof kostet ja auch.

Bisher zählte Dittrichs virtueller Friedhof rund 8,5 Millionen Besucher. Er selbst allerdings surft nicht gerne durch die Anzeigen. „Das macht schon traurig“, sagt er.

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