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Medien: Doku-Serie "schwarzwaldhaus1902.de": Mit Zungenpiercing und Sense

Der Schlag auf den Kopf des Huhns war das Schlimmste. Nicht der anschließende Hieb mit dem Beil, nicht das Ausnehmen.

Der Schlag auf den Kopf des Huhns war das Schlimmste. Nicht der anschließende Hieb mit dem Beil, nicht das Ausnehmen. Nur "wie es versucht hat, den Kopf hochzuheben". Hähnchenfleisch, das scheint nach diesem grenzwertigen Erlebnis sicher, wird es in den nächsten Wochen nicht geben.

Marianne und Ismail Boro auf dem Weg in die Vergangenheit. Gestern morgen, sechs Uhr, hatten die Berliner eine Zeitschranke zu durchschreiten. Rein äußerlich zeigte sich das beim Kleiderwechsel: Ohne Unterwäsche, wie das eben im Jahr 1902 war, und mit "megaschweren" Leinenröcken, sagt eine Boro-Tochter mit Zungen-Piercing, ist sie mit ihrer Familie in die abgelegene Hütte im Süd-Schwarzwald eingezogen.

Leben wie vor 100 Jahren. Der Südwestrundfunk (SWR) begleitet zehn Wochen lang die Dokumentation unter "schwarzwaldhaus1902.de": Der ausgewählte Hof ist zurückgebaut und präpariert. Überall in Haus und Stall gucken Kameras aus den Balken. "Big Brother" unterm Strohdach? Projektleiter Rolf Schlenker betont den wissenschaftlichen Anspruch: Das Leben der fünfköpfigen Familie - Marianne, 45, Ismail, 47, Reya-Anna, 18, Sera-Ermine, 15, und Akay-Mathias, 11 Jahre alt - wird vom Freiburger Volkskundler Werner Metzger begleitet, der das Ganze "zwischen Klamauk und Wissenschaft" ansiedelt. "Was dem einen sein Container, ist dem anderen sein Bollenhut", sagt er. Für problematisch hält der Professor nicht unbedingt, dass da eine Familie versucht, die "Lebensbewältigungspraktiken" des Jahres 1902 nachzuvollziehen, sondern die Tatsache, dass der kulturelle Kontext völlig unbeachtet bleibt. So tauchte damals "das Gespenst eines Weltkrieges in der Spätphase des Imperialismus auf, auch waren die Menschen "tief religiös". Einfach Kleider auszutauschen, das reiche nicht.

Die Boros, die sehr wohl "darauf geschaut haben, wer die Dokumentation initiiert", fühlen sich bestens vorbereitet. Vier Tage wurden sie im Schwarzwälder Freilicht-Museum "Vogtsbauernhof" bei Gutach unterrichtet. Sie haben gemolken, geschlachtet, auf einer gemauerten Feuerstelle gekocht, im Zuber gewaschen, mit dem "Deuchelbohrer" hantiert und die Sense geschwungen, so dass Ismail Boro, der schon den Berlin-Marathon lief, an Stellen Muskelkater hat, "die ich gar nicht kenne". Auch Tochter Reya, noch in knallengen Caprihosen und Bustier, zeigt auf ihre empfindlichen Daumenballen. Zu Hause, im Norden Berlins, hatte sich der Boro-Nachwuchs einen Gummi-Euter unter den Tisch geschnallt und ist, den einstieligen Melkschemel unter dem Hintern, gleich "komplett umgefallen". "Mama stellt sich das romantisch vor", sagt Sera. Die aber verneint. Marianne Hege-Boro, die handfeste in Sweater-Weste und Turnschuhe gekleidete Heilpraktikerin mit Bioladen-Sozialisation, ist in ihrer Familie zwar bekannt für verrückte Ideen. Blauäugig aber kann man sie kaum nennen. "Ich sehe mich in einer wunderschönen Tracht über Blumenwiesen wandeln und Heilkräuter sammeln, sagte sie im Deutschland-Radio. Sie habe sich aber auch ausgiebig über "die andere Seite" informiert. Eine Schwarzwaldbäuerin habe den Boros in tiefstem Dialekt von den alten Zeiten erzählt und Tipps gegeben. Zum Beispiel, dass Frischkäse am besten schmeckt, "wenn er knackt" und deshalb Maden drin sind, und dass früher frische Eier während der Legeperiode durch Einlegen in Kalkwasser haltbar gemacht wurden.

Die fünf Stadtmenschen machen sich Mut. Auch sie hätten nicht immer so gut gelebt wie heute, berichten die Eltern und begreifen es als "große Chance", dies ihren Kindern vermitteln zu können. "Wir benutzen zu Hause auch Kernseife", sagt Ismail, im wahren Leben promovierter Ingenieur der Umwelttechnik. Der Pfeifenraucher benutzt seit gestern ein Schmauchgerät aus dem Jahr 1902. Ihren schottischen Schäferhund und den Riesenschnauzer haben sie aus der "Zivilisation" mitgebracht. Auch die Hunde müssen sich auf Frischfleisch umstellen. Drei Ziegen, drei Kühe, ein Schwein und Hühner - das ist das tierische Nahrungsangebot für die fünf Menschen.

Die Ferien an der Costa Brava und in Lloret de Mar hatten die Mädchen schon gebucht, als der SWR sich aus 650 Bewerberfamilien für die Boros aus Berlin entschied. "Ich bin stolz auf meine Familie", sagt Marianne. Gerade für Teenager sei es keineswegs eine Selbstverständlichkeit, Disko und bequemes Leben gegen schwielenträchtige Schufterei einzutauschen. Es sei eine Familie, die sich nichts vorgemacht habe, die in sich stabil sei und den Doku-Einsatz auf der Schwarzwaldhöhe "nicht als Erholungsurlaub sieht", begründet SWR-Redakteurin Stefanie von Ehrenstein die Wahl. Eine gewisse Eloquenz bürge zudem für eine gute Vermittlung des Erlebten, man sei schließlich im Öffentlich-Rechtlichen. Im Herbst 2002 wird die vierteilige Doku-Serie "schwarzwaldhaus1902.de" in der ARD ausgestrahlt. "Es wird hart, aber wir werden das selbstverständlich hinkriegen", sagt Ismail Boro. Vor fünf Uhr aufstehen, den ganzen Tag arbeiten und bei Sonnenuntergang ins Bett - der elfjährige Akay strahlt: "Für mich und meinen Vater werden das die besten Wochen der Welt."

Gabi Renz

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