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Starker Tobak in der „Lindenstraße“. Orkan (Hüseyin Ekici, rechts) hat Andy (Jo Bolling) mit einem Bierglas schwer verletzt. Orkan droht die Abschiebung in die Türkei. Foto: WDR

© WDR/Michael Palm

Interview: „Ich weiß nicht, was mit Merkel los ist“

"Lindenstraße"-Erfinder Hans W. Geißendörfer über Klischee-Türken, Guttenberg und darüber, warum er kein Interesse am "Tatort" hat.

Herr Geißendörfer, fahren Sie U- oder S-Bahn?

Sehr selten, am meisten noch in London. Wieso?

Was würden Sie tun, wenn Ihnen ein Typ wie Orkan, der türkische „Bierglas-Schläger“ aus der „Lindenstraße“, in der U-Bahn gegenüber sitzt?

Ich würde ihm in die Augen gucken. Für mich ist das kein Problem. In der Londoner U-Bahn haben Sie laufend die ganze Welt vor sich.

In der „Lindenstraße“ haben viele Zuschauer und Bewohner aber schon ein Problem mit der neuesten Figur, dem Orkan, der den Taxifahrer Andy Zenker mit einem Bierglas blind geschlagen hat..

…ja, der Kleinkriminelle, ein Türke. Klar, das war uns von Anfang an bewusst. Wir haben da ziemlich ins Schwarze getroffen (lacht). Am Anfang dieser Figur stand Angela Merkel mit ihrem Satz, dass die Multikulti-Gesellschaft gescheitert sei. Wir wollten dem jetzt einfach eine Integrationsgeschichte entgegensetzen, mit einem jungen klischeehaften Typ.

Aufklären wollen mit der krassen Darstellung von Klischees. Eine Provokation. Und das bei einem Ihrer Lieblingsthemen: Integration. Wie soll das gehen?

Mit Vorverurteilung. Wir wollten dem Zuschauer bewusst nicht zumuten, aufgrund einer gewissen äußeren Erscheinung des Türken seine eigenen Vorurteile aufzubauen. Orkan kommt ja schon befleckt in die „Lindenstraße“. Jetzt geht es darum, diesen Flecken auf lange Geschichten hin auszuwaschen, zu zeigen, dass das ein ganz normaler Typ ist, der es vielleicht etwas schwieriger hat als junge Deutsche, die hier aufwachsen. Der aber alle Qualitäten hat, ein wichtiges und nützliches Mitglied unserer Gesellschaft zu werden. Das ist eine Reinigungsgeschichte.

Die viele Zuschauer maßlos aufregt, auch in Internet-Foren.

Dadurch werden wir ja in unserem Ansinnen bestätigt. Klar kommen bei dieser Sache auch Rechtspopulisten zum Zuge. Da kommt eben mal nicht eine arme anatolische Familie und klopft an die Türe, sondern ein selbstbewusster junger Mann, der schon Schaden angerichtet hat. Wir wissen schon, was wir tun. Einer unserer Autoren, der Michael Meisheit, ist mit einer Türkin verheiratet.

Auf jeden Fall ist das wieder ein aktuelles gesellschaftspolitisches Thema, wie es die „Lindenstraße“ seit 25 Jahren an die Zuschauer zu bringen sucht. Der türkische Premier Erdogan hat diese Woche gesagt, türkische Kinder in Deutschland bräuchten sich nicht zu assimilieren.

Das hat mich sehr erschrocken. Auch dieser fast schon enthusiastische, fehlgeleitete Applaus, den man im Fernsehen sehen konnte bei seiner Rede in Düsseldorf. Das kann ja nicht im Sinne einer wirklich kreativen und positiven Integration der Deutsch-Türken sein. Als Türke solle man auch türkisch können, dagegen ist ja nichts zu sagen. Erdogan hat da aber schon einen herben Akzent gesetzt, was die Kanzlerin dann wieder genial weggespült hat. Ich weiß nicht, was mit der Frau los ist.

Sie können das ja alles in der nächsten „Lindenstraße“-Folge noch aktuell einbauen. Erdogan, Gaddafi, Guttenberg, Merkel, wen nehmen Sie?

Das darf ich nicht verraten. Es gibt manchmal Zwänge, wo eine Aktualisierung der Folge nicht möglich ist. Wenn zum Beispiel Klausi Beimer jetzt einen Bart hat, können Sie nicht einfach dort reinschneiden und spielen, wo der Beimer vor vier Wochen gedreht hat.

Zu Guttenberg muss doch was kommen.

Wir haben ja in der „Lindenstraße“ einen, der das Gleiche gemacht hat wie Guttenberg: Carsten Flöter. Der hat vor Jahren seine Doktorarbeit ermogelt und wurde von seinem Stiefvater erpresst.

2010 war eines der schlechtesten „Lindenstraße“-Jahre, der Quote nach. 3,2 Millionen Zuschauer im Schnitt, zwölf Prozent Marktanteile. Soll das mit den polarisierenden Geschichten besser werden?

Seitdem Orkan drin ist, haben wir 300 000 Zuschauer mehr. Die Geschichten sind insgesamt sehr spannend, denken Sie an die Sache mit der Leihmutterschaft. Formal haben wir zugelegt. Der Look ist wunderbar. Mittlerweile machen uns die Regisseure fast ein kleines Fernsehspiel. Eines ist klar: Die „Lindenstraße“ hat eine Stammkundschaft von vier Millionen Zuschauern, die nach oben hin langsam wegstirbt und unten nicht automatisch erneuert wird. Ein Zwölfjähriger findet die „Lindenstraße“ viel schwieriger als vor 15 Jahren, weil das Konkurrenzprogramm größer ist.

Mit Orkan könnte sich das ändern.

Wir sind voller Hoffnung, dass wir den Quotenverlust auffangen können. Die meisten Jugendlichen haben den Billigtrash satt. Es könnte außerdem nicht schaden, wenn die ARD endlich mehr Werbung für die „Lindenstraße“ macht. Ich komme mir bei der ARD diesbezüglich vor wie ein Bettler.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Mehmet Kurtulus im Hamburger „Tatort“ kein Bein auf die Erde bekommt? Kurtulus' Figur Cenk Batu ist der unpopulärste „Tatort“-Ermittler überhaupt, muss jetzt nach nur sechs Fällen sogar Abschied nehmen.

Es fällt mir schwer, das zu beurteilen, weil ich den Mann, der das spielt, nicht kenne. Kann schon was dran sein an der These: Nur weil er Ausländer ist, kommt er nicht an. Dass der deutsche „Tatort“-Zuschauer sagt, es müssen deutsche Kommissare sein, was soll da ein Türke. Vielleicht hat dieser Cenk Batu aber einfach auch nicht das Charisma, das so eine Helden-Figur braucht.

Schreiben Sie doch mal einen „Tatort“.

Mir reicht die „Lindenstraße“.

Sie haben nach fünf Jahren wieder einen Kinofilm gedreht, eine tragische Liebesgeschichte, „In der Welt habt ihr Angst“, mit Anna Maria Mühe. Wie wichtig ist Ihnen die Regie-Arbeit?

Diese verschiedenen Klaviere zu bedienen ist ein ganz großer Gewinn, fast ein Privileg, das ich mir ja auch erarbeitet habe. Die „Lindenstraße“ ist für mich als Autor und Entwickler der epische Teil, der Fortsetzungsroman, die Kino-Arbeit eher das Gedicht. Im Kino müssen sie die Geschichte sehr konzentriert in 100 Minuten erzählen, bei der „Lindenstraße“ können sie neun Monate Schwangerschaft neun Monate eins zu eins erzählen. Ich möchte beides nicht missen.

Das Gespräch führte Markus Ehrenberg

„Lindenstraße“, Sonntag, 18 Uhr 50, ARD

Hans W. Geißendörfer, 69. Der Regisseur, Autor und Produzent erfand 1985 die ARD-Serie „Lindenstraße“. Am Donnerstag startete sein neuer Kinofilm „In der Welt habt ihr Angst“.

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