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Jahrbuch Fernsehen 2004: Die Helden der Tele-Arbeit

RTL ist ein autarkes System: Es schafft sich die „Stars“, die es braucht, selbst. Das erinnert an die Sowjetunion

Wenn die Deutschen heute „Privatfernsehen“ sagen, denken die meisten von ihnen an die Senderfamilie von RTL, vor allem an den Hauptsender RTL und an RTL 2. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hatte einen Bildungsauftrag. Also kam es darauf an, ein möglichst unpädagogisches Programm zu entwerfen, ein Programm, das nichts voraussetzt und nichts erreichen möchte, außer, eingeschaltet zu werden. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen war das, was man zu Hause mit den Eltern gesehen hatte. Jetzt musste man ein Programm für die Jungen machen. Dieses Programm musste einer Mehrheit der jüngeren Deutschen das Gefühl vermitteln, okay zu sein – und zwar genau so, wie sie jetzt gerade waren, kein bisschen klüger oder kultivierter oder politisch interessierter. Wir leben in der besten aller möglichen Welten: mit diesem Glauben zieht Voltaires „Candide“ hinaus. Die gleiche Haltung hat auch RTL.

In den Wirren nach der großen Revolution (der Einführung des Privatfernsehens vor 20 Jahren) setzte sich, ähnlich wie 1917 in Russland, das radikalste Programm durch. RTL war revolutionär in seiner kompromisslos proletarischen, antibürgerlichen, jugendbewegten Haltung.

RTL hat, wie die KPdSU unter Lenin, ein in sich geschlossenes System errichtet. Das System RTL. In den Castingshows erschafft sich RTL heute seine Ereignisse, seine Skandale, seine Nachrichten und seine Prominenten zu großen Teilen selber. Der zur Berühmtheit entschlossene Mensch, der sich in den geschlossenen Raum irgendeiner RTL- Show begibt, sagen wir: den Container, wird zum Lieferanten für Skandale und Nachrichten durch das, was er im Container tut. Wenn er wieder herauskommt, wird er „Star“ genannt und ist, solange das Publikum ihn mag, Rohstoff für Talkshows oder Klatschmagazine. Die Show selber wird von ausführlichen Vor- und Nachberichten begleitet wie ein Fußballspiel. Am Ende taugt der Darsteller vielleicht noch für eine Jury oder um seinem Nachfolgern in der nächsten Show viel Glück zu wünschen.

Es ist ein Kreislauf, ein geschlossenes und hocheffizientes System. Klassische Programmbestandteile wie die Krimi-Serie oder der Spielfilm werden in der Welt von RTL immer unwichtiger.

Frühzeitig geschlossene Verträge sorgen dafür, dass die so genannten Stars nicht zu selbstbewusst oder teuer werden. Das Kräfteverhältnis zwischen den Darstellern, dem Publikum und dem sendenden Medium ist anders als früher. Der klassische Fernseh-Star, nehmen wir Hans-Joachim Kulenkampff oder Thomas Gottschalk, besitzt als Publikumsliebling Macht. Er kann mit einem Senderwechsel kokettieren oder ihn vollziehen, er kann auf seine Sendungen Einfluss nehmen. Der Intendant muss vorsichtig mit ihm umgehen.

Daniel Küblböck kann nicht wirklich zu Sat 1 oder Radio Bremen wechseln. Costa Cordalis oder er sind auf dem Höhepunkt ihres Ruhms auch außerhalb des Systems RTL gefragte Leute, in den Talkshows, bei Kerner oder Beckmann zum Beispiel, aber ihr Status bleibt doch an RTL gekettet. Niemand wird etwas für sie tun, wenn nicht RTL es tut oder „Bild“, der gedruckte Arm von RTL.

So ist eine sonderbare neue Daseinsform entstanden, Personen, die „Stars“ genannt werden und dabei weit gehend machtlose Angestelltenexistenzen sind, angewiesen auf fremde Songs, auf Manager, die sie sich nicht ausgesucht haben, auf Sendungen, die ihrem Einfluss völlig entzogen sind. Sie sind traurige Helden wie einst die gefeierten Arbeiterhelden in der Sowjetunion, die Stachanows, harte Malocher, die ihr Plansoll übererfüllt hatten und deren Bild in jeder Fabrik hing. Auch sie waren auf ihre Art Stars. Ihr Ruhm aber war in Wirklichkeit der Ruhm des Systems. Sie hatten nichts, was ihnen gehörte.

Kurz nach dem Ende der vorerst letzten, nur mäßig erfolgreichen Staffel von „Deutschland sucht den Superstar“ geschah etwas Bezeichnendes. Die Siegerin, Elli, eine Frau mit grellrot gefärbtem Haar und Brille, erklärte, dass sie die Musik von Dieter Bohlen nicht möge. Bohlen ist als farbigster Charakter in der Jury und als echter Prominenter ein nur schwer ersetzbarer Teil des Systems. Und Elli tat nur das, was in der frühen Popgeschichte von Stars immer erwartet wurde, sie zeigte Individualismus und rebellierte gegen Autoritäten. Über „Bild“ ließ Bohlen ihr bestellen: „Mal sehen, wo sie am Jahresende steht. Sie kann ja immer noch Lehrerin werden.“

Die Einführung des Privatfernsehens bedeutete: Ungeheuer viel Sendezeit, die gefüllt werden muss, und zwar auf attraktive Weise. Die Probleme der Fernsehmacher ähnelten denen eines Fabrikanten, der einen unverhofften Großauftrag bekommt oder denen eines Landwirts, dessen Ackerfläche sich durch eine Erbschaft plötzlich verzehnfacht hat. Man denkt in so einer Situation über neue Fertigungsmethoden oder eine neue Produktionsweise nach.

Die Prominenten, die man sich selber herstellt, waren eine Antwort des Privatfernsehens auf dieses Problem. Man kann sie vom Band rollen lassen wie Autos, man kann sie in den Shows verwenden, in den Talkrunden, in den Klatschmagazinen, sie können in den Nachrichten vorkommen oder in den Kochsendungen, einfach überall. Das Band, von dem die Prominenten laufen, lässt sich schneller oder langsamer stellen, ja nach Bedarf stellt man ältere oder jüngere Prominente her, klügere oder dümmere. Man muss dazu nur das Motto der Castingshow leicht verändern. Die Shows stellen also auf industrielle Weise einen Artikel der Unterhaltungsbranche her. Wenn wir sie sehen, schauen wir in eine Fabrikhalle. Die Shows sind in „Staffeln“ unterteilt, das erinnert an die Baureihen der Autoindustrie, A-Klasse, C-Klasse. Während die dritte Staffel gerade frisch vom Band läuft, tingelt die erste, inzwischen veraltete Staffel gerade durch die Nachtklubs von Mallorca.

Selbstverständlich kommen die Prominenten nicht nur von Fließbändern des Senders, es können auch Friseure sein, Autoren, Freundinnen von Prominenten, Künstler jeder Art, Kriminelle, möglich ist alles. Ein großer Teil des Prominentenaufkommens besteht aus dem Fernsehpersonal, den Moderatoren und Ansagern. Ein Prominenter ist derjenige, der im Fernsehen vorkommt, und weil er im Fernsehen vorkommt, ist er prominent. Auch hier zeigt sich ein geschlossenes System, das von sich selber zehrt und auf sich selber verweist. Es ist ein ökologisch korrekter Kreislauf, in dem nichts weggeworfen wird, was sich noch verwenden lässt.

Weit ist der Weg von Romy Schneider zu Mariella Ahrens. Verbreitet ist deshalb die These, dass der „Prominente“ bei uns den Platz besetzt hat, auf dem früher der „Star“ saß. Den Prominenten kennt das Publikum, einige identifizieren sich mit ihm. Den Star verehrt man. Vom Star zum Prominenten – eine Bewegung wie ein Kamerazoom. Aus Distanz wird Nähe. Der Star braucht die Distanz, damit man seine Defekte nicht sieht. Abstürze und Niederlagen werden heroisch inszeniert oder vertuscht, alles andere schadet. Den Prominenten dagegen machen seine Defekte nur „menschlich“, oder er baut sogar seine ganze Karriere auf angeblichen oder tatsächlich Defekten auf, wie Verona Feldbusch.

Der Übergang vom Star zum Prominenten entspricht dem Übergang von der Einzelfertigung zur Massenproduktion in der Industrie. Der Star ist das sozusagen in Handarbeit aufwendig hergestellte Einzelstück, sehr teuer, kompliziert zu handhaben. Der Prominente ist die vergleichsweise robuste, preisgünstige und überall leicht zu erwerbende Ware vom Fließband. Er hält natürlich nicht so lange wie der Star, es gibt bei der Produktion Ausschuss, das Produkt sieht oft ein bisschen billig aus, das alles lässt sich in der Massenproduktion nicht vermeiden.

Auch in der Welt der Stars gab es nicht nur Könige. Es war ein hochdifferenziertes System, mit Herzögen, Grafen und Baronen. An der Spitze, sagen wir, Romy Schneider und Liz Taylor, in der Mitte Mittelberühmtheiten wie Marie Versini oder Vivi Bach, am Ende der Hierarchie die so genannten „Starlets“. Auch in der Welt des Pop gab es von Anfang an eine differenzierte Hierarchie, die von Elvis und den Beatles hinabreichte bis zu den One-Hit-Wonders und denen, die vor allem durch Skurrilität auffielen: Sam the Sham and the Pharaos, The Crazy World of Arthur Brown.

Den Prominenten gab es schon vor dem Privatfernsehen, er war vielleicht ein bekannter Chirurg, eine Ansagerin, ein Fernsehkoch oder Miss Germany. Durch das Privatfernsehen aber ist der Prominente inzwischen eine Art gesellschaftliche Leitfigur geworden. Er hat alle Medien und alle Lebensbereiche erobert, die jeweiligen Spezialisten drängt er in die zweite Reihe. Der Prominente kocht in den Kochshows, nicht etwa Köche, der Prominente gibt in Fragebögen und Kolumnen Ratschläge zur richtigen Lebensführung, nicht etwa ein Philosoph, der Prominente gibt Literaturtipps, nicht etwa ein Literaturkritiker. Sogar für Fahrradtouren und Wandertipps sind manchmal Prominente zuständig. Prominente schreiben, oft mit Hilfe von Ghostwritern, Romane. Selbstverständlich kann ein sehr guter Koch, ein guter Romanautor oder ein Literaturkritiker selbst zum Prominenten aufsteigen, mit Hilfe des Fernsehens. Dann verbringt er einen Teil seiner Zeit in Shows, beim Ausfüllen von Fragebögen oder beim Verfassen von Tipps aller Art, mit Dingen, die wenig mit dem zu tun haben, was er besonders gut kann. Wenn er sich dem verweigert, wird seine Prominenz wieder nachlassen.

So macht das Promisyndrom ein wichtiges Element der kapitalistischen Entwicklung tendenziell wieder rückgängig: die Arbeitsteilung.

Im Sport sind Prominente überhaupt nicht zu verwenden. Es wird der deutschen Fußball-Nationalmannschaft nichts nützen, wenn sie Wolfgang Joop und Thomas Gottschalk für sich stürmen lässt. Auch bei den Rettungsschwimmern, den Notärzten oder den Restauratoren wird man niemals den Einsatz von Prominenten erleben, dort können Fehlgriffe böse Folgen haben. In solchen Branchen verlassen wir uns, trotz RTL, immer noch lieber auf die Ergebnisse der kapitalistischen Arbeitsteilung.

Der Beitrag von Harald Martenstein ist ein Vorabdruck aus dem „Jahrbuch Fernsehen 2004“ des Adolf Grimme Instituts in Marl (520 Seiten, 29 Euro).

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