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Evolution of Dance

© tso

Medien: Kleine Lacher für Zwischendurch

Klicken, klicken, klicken – werktags zwischen neun und 17 Uhr boomen im Netz die Fünfminuten-Clips. Der Record-Klicker "Evolution of the Dance" ist erfolgreicher als Madonna.

An zweiter Stelle der Rangliste steht ein Mann namens Judson Laipply. Er lässt sich dabei zusehen, wie er sich zu zügig wechselnden Soundfetzen verrenkt, sich im Scheinwerferkegel durch die Musikgeschichte twistet und groovt. Die Leute kreischen. Das Video heißt „Evolution of Dance“. Über 100 Millionen Klicks hat es weltweit. Häufiger wurde auf der Plattform Youtube nur noch ein Clip der Sängerin Avril Lavigne angesehen. Ein bisschen seltener dagegen Musikvideos anderer Popstars wie Alicia Keys oder Rihanna – und der Clip, bei dem der Babybruder eines kleinen Jungen namens Charlie diesem in den Finger beißt und anschließend lacht, als wäre er eine Comicfigur in einem Zeichentrickfilm. Immerhin, das Video verzeichnet auch deutlich über 60 Millionen Aufrufe. Das ist, was sich die Leute am liebsten auf Youtube anschauen: Quatsch mit Musiksoße.

In den vergangenen Jahren hat sich im Internet dabei ein neues Format durchgesetzt: der flotte Fünfminüter, ein Unterhaltungshappen für zwischendurch, den Netznutzer im Vorbeigehen mitnehmen wie draußen auf der Straße den Donut oder Döner. Eigentlich ist der Fünfminüter in Deutschland ein Vierminüter, genaugenommen ein 4,3-Minüter – das haben die Statistiker der Firma Com score zumindest für den August 2008 festgestellt. In den USA ist es eher ein Dreiminüter, aber das Prinzip ist überall dasselbe.

Es ist ein Format, das Nutzer geschaffen haben, indem sie ihre Söhne beim Sich-gegenseitig-in-den-Finger-Beißen filmten oder ihre Lieblingsstellen aus ihren Lieblingsserien für Youtube zurechtschnitten. Besonders 2008 haben deutsche Medienunternehmen versucht, sich auf dieses Netzhappen-Format einzulassen. Erst kürzlich ist die letzte Folge der ersten „Pietshow“-Staffel gelaufen, die die Produktionsfirma Ufa mit dem Studentennetzwerk StudiVZ produziert hat, das wie der Tagesspiegel zur Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck gehört. Die Plattform Myspace hat die Websoap „Candy Girls“ geschaffen, deren Clips fünf bis zehn Minuten dauern. Für die zweite Staffel werden zurzeit Sponsoren geworben. Auch Schauspieler und TV-Komiker Christian Ulmen hat sich auf das neue Format spezialisiert. Im Stil des britischen Verwandlungs-Komikers Sacha Baron Cohen ist er im Gewand verschiedener schräger Charaktere durch Deutschland gezogen und zeigt nun auf ulmen.tv die Ergebnisse.

Sieht so also die Zukunft des Fernsehens aus, des Internetfernsehens oder wenigstens die des Online-Videos? Gegenfrage: Wird sich irgendjemand eine Internetverbindung zum Breitbild-Fernsehgerät ins Wohnzimmer legen lassen, um einen Abend lang professionelle und weniger professionelle Komiker wie Christian Ulmen, Judson Laipply oder Charlies Babybruder bei ihren durchschnittlich vierminütigen Verrenkungen zu beobachten? Dagegen spricht einiges. Denn derart dramatisch sinken die täglich konsumierten Fernsehminuten trotz starker Internetnutzung nicht. Vor allem aber erfüllt der Netzhappen eine völlig andere Funktion als der 90 Minuten lange Spielfilm, die Quizshow oder die Volksmusikgala: Er ist der kleine Lacher für Zwischendurch, den sich Kollegen oft als Link per E-Mail zuschicken, wie sie sich früher vielleicht Witze erzählt hätten – und er gehört eher ins Büro als ins Wohnzimmer.

Der Netzhappen ist eine Art Witzeseite aus Bewegtbildern. Weil Internetnutzer im Web 2.0 ihre eigenen Beiträge einfacher veröffentlichen können, steigt der Anteil dieser Beiträge rasant an. Die kuriosen Kurzclips sind allerdings eher Teil des Arbeitsalltags als des Feierabends: 65 Prozent der Online-Videonutzer luden ihre Clips im Oktober zwischen Montag und Freitag herunter, neun bis 17 Uhr. „Der Werktag ist die Primetime des Online-Videos“, schließen die Marktforscher von Nielsen, die die Zahlen erhoben haben.

Werbung in kurzen Clips schwer zu plazieren

Im Augenblick scheint während dieser Primetime noch der Nutzer der Marktführer zu sein. Beispielsweise der Videoblogger, der seinen Kopf in die Webcam hält, über die eigene Befindlichkeit räsoniert, die neuesten Star-Abstürze ironisch kommentiert oder ausprobiert, ob Colaflaschen tatsächlich explodieren, wenn man bunte Drops hineinkippt.

Manche dieser Nutzer, wie der Amerikaner Michael Buckley mit seiner Celebrity-Klatsch-Show, verdienen so neuerdings ihren Lebensunterhalt, weil Youtube seit einem guten Jahr auf Wunsch Werbung für sie schaltet. Auch Medienkonzerne mühen sich im Fernsehvorreiterland USA, mit Webformaten Geld zu verdienen. Die Produktionskosten sind zwar äußerst gering – die Einnahmen allerdings meist noch viel geringer.

Denn die Aufmerksamkeit während der Arbeitsplatz-Primetime ist flüchtig. Anders als zu Hause vorm Fernseher stellt das Zappen keinen Prozess dar, der zumindest zeitweise bei einer bestimmten Sendung endet. Das mausgesteuerte Herumgehüpfe ist bei Youtube und Konkurrenz ein Dauerzustand. Knapp 90 Prozent der Online-Videonutzer verweilen gerade einmal zehn Sekunden bei einem Clip, stellt der Dienst Tubemogul fest. Eine Horrornachricht für Werbevermarkter: Wie soll in diesen zehn Sekunden ein 20-sekündiger Spot platziert werden?

Regisseurin und Drehbuchautorin Miriam Dehne, verantwortlich für die Myspace-Websoap „Candy Girls“, hat dem „Spiegel“ gesagt, dass sie sich vor den Dreharbeiten vorstellte, etwas für einen Menschen mit einer Aufmerksamkeitsstörung zu erzählen. Sie hat sich dann dafür entschieden, sich auf Wesentliches zu konzentrieren. Lange Frauenbeine, große Brüste in Bikinis. Die Dialoge klingen oft, als hätte man sie aus älteren Pornos herausgeschnitten, in denen es zwischen den Kopulationsszenen noch ironische Gaga-Gespräche gab. Dort sind sie mittlerweile wegrationalisiert worden.

Für Joel Berger, den Chef von Myspace Deutschland, repräsentieren die „Candy Girls“ trotzdem „den Übergang in eine neue Medienwelt.“ Sie sind in das Netzwerk eingebunden, man kann ihnen Nachrichten schreiben – wie auch bei der „Pietshow“. Fiktion und Realität sollen bei den zuschauergerecht zugeschnittenen Netzhappen verschwimmen. Die Charaktere treten ein wenig aus dem Browser-Bildschirmfenster heraus, damit die Nutzer näher herantreten. Ihre eigenen Profile mit Fotos von der jüngsten Party liegen ja nur ein paar Klicks entfernt. Es soll alles möglichst echt wirken, so wie im Sommer 2006 schon bei Lonelygirl15, dem Urmädchen der Websoap, des kommerziell genutzten Netzhappens. Sie schien so authentisch, wie sie in die Computerkamera hinein von ihren Küssen erzählte – und war doch eine Schauspielerin. Anfangs sahen Millionen zu, am Ende fast niemand mehr. Der nächste Klick könnte immer der interessantere sein.

Johannes Gernert

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