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Medien: Kommt uns bloß nicht zu nahe!

Warum Reality-TV beim Zuschauer versagen kann

Als in den 90er Jahren der Reality-Boom aus Amerika hierher rüberschwappte, ging es noch um echte Kinder, die in echte Brunnen gefallen waren oder um wirkliche Verbrecher, die von kamerabewehrten Hubschraubern gejagt wurden, und die Empörung war entsprechend groß. Inzwischen ist das Genre manierlicher geworden, es hat Spiel- und Doku-Elemente angelagert und so seine Anpassungsfähigkeit bewiesen. Das Reale an „Reality“ sind immer noch die Echtmenschen, die im Mittelpunkt stehen, allerdings inzwischen gecastet, gestylt, betreut und durch Proben geschleust von TV-Profis. Damit setzt das Format die schon abgehakte Interaktivität fort, es öffnet Fernsehen seinen Zuschauern, die sich vor Kameras beim Wohnen, Singen, Arbeitsuchen und (nach Möglichkeit) Verlieben beobachten lassen können. Allerdings ist das einzig Echte die zuweilen durchschlagende Unbeholfenheit der Menschen, die da verschönt oder verschreckt werden, alles andere ist abgefeimtes Business.

Wie hat das deutsche Publikum die jüngsten Reality-Überfälle „The Swan – Endlich schön“, „Big Boss“, „Bachelorette“ verkraftet? Die Dschungelshow wurde ein weiteres Mal angenommen, wohl wegen des Schadenfreudefaktors, der es eben meist bringt. Im Großen und Ganzen aber zeigt der Daumen nach unten. Offenbar hat das Volk mehr von echten Profis, die nicht irgendwo „rausgeholt“ werden müssen, sondern die ihrerseits den Zuschauer rausholen aus seinem Sorgensumpf.

Über „Big Brother“ wurde gewitzelt, dass sich schon Kandidaten gemeldet hätten, die lebenslang in Containern hocken wollten; jetzt müsse man nur noch die Kameras abbauen, dann dürfe das Experiment getrost starten. Die Ablehnung, auf die „Hire and Fire“ und „Kämpf um deine Frau!“ gestoßen sind, spricht dafür, dass das Publikum den latenten Zynismus dieser Programme spürt und sich dagegen wehrt. Dass ausgerechnet das Fernsehen sich zum Big Spender von Arbeitsplätzen und geretteten Ehen aufwirft, ist ja auch absurd. Aber diese Absurdität liefert einen wichtigen Gesichtspunkt. Möchte nicht jedermann einen guten Job? Ein attraktives Aussehen? Ein Zuhause für sein Herz? An diesen Urwünschen setzt „Reality“ an, es spielt mit ihnen, malt die Erfüllung aus und führt sie an inszenierten Fällen vor. Wenn die Macher dabei zu weit gehen und durch die Härte der Auslesekriterien die Zuschauer düpieren – die entweder selbst arbeitslos sind oder jemand kennen, dem es droht oder der es ist - dann kriegen sie die Quittung.

Beim „Superstar“ konnte man es noch hinnehmen, wenn die Jury bei der Kritik in einen Ton der offenen Beleidigung verfiel, denn kein Mensch muss Popstar sein. Bei der Frage: Job ja oder nein, hört die Gemütlichkeit auf. Auch Ehe ja oder nein, ist schon ein ernsteres Thema. Schönheit ja oder nein, ist zu sehr Geschmackssache, als dass sich da eine einhellige Meinung herausdestillieren ließe. Für alle genannten Sendungen gilt, dass ihre Herkunft aus dem angelsächsischen Raum sie für das deutsche Publikum keineswegs prädestiniert hat, dass sie in Richtung auf mehr Konzilianz hätten korrigiert werden müssen. Drüben ist man bittereren Spott gewohnt als hier. Weshalb man auch mehr Spaß an allerlei Bloßstellungen hat als im schneller peinlich berührten Germany.

Die Deutschen mögen es nicht, wenn man sich über ihre Urwünsche lustig macht. Ein Leben ohne Strom und Wasser – das wünscht sich niemand, das war aber mal Alltag, und daran erinnert zu werden, macht unsereins Freude. Während die Privatsender für ihre hochschrillen Extremformate mit mageren Quoten bestraft wurden, verbucht die ARD mit „Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus“ Erfolge. Geschichtsstunde in der TV-Zeitmaschine, ein Trip in Zustände, als Menschen noch mit Tieren lebten und Herren und Knechte von Gott gewollt waren – diese Variante von „Reality“ kommt an.

Man kann nun spekulieren, dass in Zeiten des gestrichenen Weihnachtsgeldes immer noch die Genugtuung bleibt: Wir haben Elektrizität, eine Sitzecke und - Fernsehen! Aber das ist es wahrscheinlich nicht nur, was das „Gutshaus“ so beliebt macht. Die „Reality“ ist hier eine echte mecklenburgische Flur, die Aufgabe – Rückversetzung in Lebensverhältnisse von vor hundert Jahren – wirft bildungsmäßig einen Mehrwert ab, ohne dass das Vergnügen dadurch getrübt würde. Und kein Urwunsch wird lächerlich gemacht, abgesehen vielleicht von der sehr allgemeinen Sehnsucht, nicht nach vorn, sondern – durchaus mit leichtem Schauder – zurückzuschauen.

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