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KRITISCH gesehen: Unterdruck im Talkreaktor

Anne Will. ARD.

Anne Will. ARD. Man hörte die Parteipolitiker geradezu an der Studiotür kratzen. Anne Will wollte sie am Sonntagabend nicht reinlassen. Hätten die Linken, die Liberalen, die Konservativen und „Atom-Sirene“ Claudia Roth on top die Talksessel besetzt, wäre es im Studio zum Meinungs-GAU gekommen. Eindeutig. Es hätte in einer solchen Runde nur eines Zündler-Satzes bedurft, wie ihn – überraschenderweise – der ZDF-Journalist Wolfgang Herles rausließ: „Bei einigen versagen jetzt offensichtlich die Kühlsysteme im Kopf.“ Der Liebhaber der Atomkraft, der lieber als „Freund der Vernunft“ gepriesen werden möchte, hatte sich am Stell-Stamm-Tisch kurz mit der Anti-AKW-Aktivistin und Dokumentarfilmerin Sigrid Klausmann-Sittler duelliert.

Da war Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) aber auf Zack. Er verurteilte „die parteipolitische Kapitalisierung der Not“ aufs Schärfste, der ARD-Journalist und Diplom-Physiker Ranga Yogeshwar stöhnte über die „schändliche, alte, unausgegorene Debatte“. Altbischof Wolfgang Huber war noch betroffener als er eingangs betroffen war; Takahiro Shinyo, Japans Botschafter in Deutschland, schwieg zu diesem Diskussiönchen eisern.

„Anne Will“, Redaktion und Moderatorin, sie hätten es sich ganz einfach machen können. Sie hätten die hysterischste Fernsehdiskussion des Jahres haben können. Stattdessen ein Potpourri aus ein bisschen Information, ein bisschen Analyse, ein bisschen Meinung. Heißt: Eine Mischung aus „Brennpunkt“, „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ – doch keine Talkshow als Streit der Meinungen über die Zukunft der Atomkraft in Deutschland. Es war eine mutige Entscheidung, Aspekte und Facetten des Themas aufzufächern und damit auf das teutonische Epizentrum der Katastrophe zu verzichten.

Vielleicht war es der Respekt vor dem Botschafter als dem Repräsentanten eines Volkes in höchster Not, was das Zähnefletschen verhinderte. Shinyo sprach immer wieder vom „Lernen“, das mit den Vorgängen beim AKW Fukushima und dem möglichen GAU zu verbinden sei. Yogeshwar positionierte sich in klarsten Worten gegen ein „zweites Tschernobyl“, Umweltminister Röttgen bestätigte mit langen Sätzen erneut die Oberseminaristen-Rolle im Kabinett Merkel und seinen Spitznamen „Muttis Liebling“. Hier spätestens hätte Will aus ihrer gutwilligen Zuhörer-Rolle ausbrechen müssen und mit harter Hand den CDU-Politiker auf luzide Aussagen zur Zukunft der „Brückentechnologie“ festlegen müssen.

Zu diesem Zeitpunkt war die Talkshow, die keine Talkshow war, längst beim Scherzen mit einer Jung-Deutschen in Tokio („kein Blumentopf umgefallen“), in Betroffenen-Morast und Konfusion gelandet. „Bad Boy“ Herles beleidigte Huber sehr grob ob dessen angeblicher Moral-Trompeterei aus der AltbischofsWarte, Klausmann-Sittler bebte vor Empörung. Ob sich Botschafter Shinyo, der – „Lost in Translation“ – durchaus einen Dolmetscher vertragen hätte, vor der „German Angst“ mehr zu fürchten begann als vorm GAU in der Heimat? Der Zuschauer wird es nie erfahren.

Nicht zu überhören war nach 60 Minuten das lauter gewordene Gebrüll der Atompolitiker in den Parteien. Die große Abrechnung wird kommen, das ist sicher, der Druck im Kessel steigt unaufhörlich. Weswegen nur eine Frage bleibt: In welchem Talkreaktor kommt es zur Meinungsschmelze? Joachim Huber

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