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Zeitungen

© dpa

Medien: Wozu noch Zeitungen?

Ein Lobgesang in drei Strophen, mit Haupt- und Nebenstimmen. Ein ausgezeichneter Wettbewerbsbeitrag.

Die Nostalgiker! Sie sagen, sie müssten das Papier rascheln hören, die Seiten zwischen ihren Fingern spüren, die Druckerschwärze riechen können. Sie gebrauchen Wörter wie „haptisch“ und „sinnlich erfahrbar“ und freuen sich, wenn ihre Fingerkuppen dunkel werden. Nostalgiker sitzen gerne im Café, breiten ihre Zeitung genüsslich vor sich aus und schlürfen dabei Milchkaffee, der die Gehirnzellen so wohlig kribbeln lässt. Zeitungen und Kaffee, das passt zusammen. Sind aus den Londoner Kaffeehäusern des 18. Jahrhunderts nicht Versicherungsunternehmen, Börsen und, ja natürlich, auch Zeitungshäuser entstanden, wurde in Pariser Cafés nicht die Revolution geschmiedet? Kaffeehäuser waren öffentliche Orte, Orte der Debatte, der Geselligkeit, des Austauschs von Neuigkeiten – und Zeitungen waren, Zeitungen sind gedruckte Cafés. Nostalgiker lieben so etwas.

Aber: Nur für Nostalgiker wird kein Verleger Zeitungsredaktionen finanzieren. Es muss mehr Gründe geben, warum Zeitungen unverzichtbar sind – auch gut 400 Jahre, nachdem ein Straßburger Drucker namens Johann Carolus mit seinem Blättchen die Geburtsstunde der Zeitung läutete. Bröckeln nicht die Leserzahlen, hat nicht ein amerikanischer Wissenschaftler ausgerechnet, dass es im Jahr 2043 in den USA keinen einzigen Zeitungsleser mehr geben wird, wenn sich der Auflagenschwund fortsetzt? Das Internet ist doch viel schneller, kommunikativer, bunter, beweglicher, eine Wundertüte! Wozu noch Zeitungen?

Lassen wir die Nostalgiker im Café oder Coffeeshop sitzen, mit ihren schwarzen Fingerkuppen und einem Tupfer Milchschaum auf der Zunge. Begeben wir uns auf einen Empfang, dorthin, wo moderne Menschen nützliche Netze knüpfen. Sie lese keine Zeitungen mehr, sagt die Event-Managerin: Morgens gucke sie ins Internet, klicke sich durch die Online-Ausgaben, da sei sie schneller und umfassender informiert als mit einem einzigen Frühstücksblatt vor der Nase. Der Pragmatiker schätzt an Zeitungen immerhin, dass man mit ihnen nasse Schuhe ausstopfen kann. Ein Publizistikprofessor wirft ein: Noch nie habe ein neues Medium ein altes komplett verdrängt! Die Psychologin erwähnt eine Studie, derzufolge Gelesenes besser behalten wird, wenn es von Papier aufgenommen wird statt vom Bildschirm. Erstauntes Raunen.

Auch ein Tageszeitungsredakteur ist in der Runde, etwas ausgelaugt wirkt er, aber mit einem verschwörerischen Flackern in den Augen klärt er die anderen auf: Online-Journalisten seien oft schlecht ausgebildet, schon aufgrund des Dauerbetriebs in Online-Medien mache da jeder alles, entsprechend unseriös sei das Ergebnis. Und was den sogenannten Bürgerjournalismus betreffe: Wer wolle schon ernsthaft lesen, was irgendein selbsternannter Schreiberling ohne jeden Qualitätsausweis und ohne Gegenleser in die Tasten gehauen hat? Oh ja, pflichten einige Umstehende bei: die seriöse Recherche und Nachrichtenselektion! Die Hintergrundberichte! Die Presse als vierte Gewalt im Staate, als Hüterin der Meinungsfreiheit, der Demokratie! (...)

Auf dem Heimweg singe ich meinen eigenen kleinen Lobgesang auf die Zeitung schlechthin. Zeitungen, trällere ich die erste Strophe in die Nacht, sind nur scheinbar altmodisch. In Wirklichkeit vereinen sie eine Vielzahl von Vorzügen, die sie gerade für den modernen, ungeduldigen, medienerfahrenen Menschen zu einer idealen Quelle von Information und Unterhaltung machen. Denn: Kein anderes Medium erlaubt es, sich so schnell und selbstbestimmt einen Überblick über das Tagesgeschehen zu verschaffen, dabei ganz nach Belieben Themen nur zu überfliegen oder aber genauer zu studieren; auch aus Gebieten, die einen nur schwach interessieren, vieles mitzukriegen, ohne dass man klicken oder eine Sendung zu Ende hören müsste. Eine erstaunliche Anzahl von Bits und Bytes bahnt sich den Weg in den Kopf beim Durchblättern einer Zeitung. Zeitungen waren immer schon mobil, man liest sie, wann und wo es gerade passt, und kann die Lektüre jederzeit unterbrechen: Zeitungsleser sind frei und unabhängig!

Zeitungen, so beginnt meine zweite Strophe, sind übersichtlich und überraschend. Der Leser weiß, was er wo zu erwarten hat – und stößt plötzlich auf ein langes Seite-Drei-Stück über den letzten auf Schreibmaschinen spezialisierten Laden in Berlin. Danach hätte er im Internet niemals gesucht, auch nicht Radio oder Fernsehen dafür angeschaltet. Aber jetzt nimmt er sich vielleicht die Zeit und genießt den süffigen Stil des Autors, der Autorin. Überhaupt, Sprache: Gute Zeitungen pflegen unterschiedliche Stile, Formen und damit Blicke auf die Welt. Zeitungsleser sind sprachverwöhnt!

Und, dritte Strophe: Zeitungen bilden Gemeinschaften, über die Grenzen der Generationen und special interest groups hinweg. Sie bieten Anknüpfungspunkte, geistige Heimat, Gesprächsstoff für alle – gerade weil sie in ihrem Umfang begrenzt sind und man nicht endlos weiterklicken, -hören, -schauen kann. Zeitungen halten Familien zusammen: Jeder kriegt einen Teil, der Kleinste die Kinderseite. Zeitungen sind wie Lebenspartner: Hat man sich für eine entschieden, gewöhnt man sich an sie mit allen ihren Macken.

Eine konsequent nicht-monogame Beziehung: Selbstverständlich holt sich der Zeitungsleser seine Bilder aus dem Fernsehen, hört im Auto Radio, sucht im Internet nach speziellen oder brandaktuellen Infos, selbstverständlich müssen die Zeitungsmacher sich der neuen Medienwelt anpassen, interaktiver, einladender, auch: demütiger werden. Aber: Gäbe es nur die anderen Medien, dann müsste die Zeitung dringend erfunden werden! Das ist meine Schlussnote.

Durch die Glasscheibe eines Cafés erkenne ich einen meiner nostalgischen Bekannten, den Kopf über die Zeitung gebeugt. Ich klopfe an die Scheibe, er blickt mich an, mit Augen, in denen noch ein Text hängt, leicht benommen und doch konzentriert, irgendwie glücklich. Wozu noch Zeitungen?, ist mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen, und der allerletzte: Ist doch klar.

Dieser Text ist die leicht gekürzte Version des Wettbewerbsbeitrags.

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