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Mit Zivilcourage versuchen Albert (Jan Josef Liefers, links) und Henny (Anna Loos) einen von der SA drangsalierten Passanten zu beschützen.

© ARD Degeto/UFA Filmproduktion/F.

"Nacht über Berlin": … und der Terror nimmt seinen Lauf

Lustknaben an Tischen, Reden im Reichstag, Alltag im Wedding: Der ARD-Film „Nacht über Berlin“ erinnert an das Ende der Weimarer Republik.

Am Anfang steht die Enge. Der Folterkeller. Schläge ins Gesicht und einen Eimer Wasser hinterher, „jetzt gib’s endlich zu, du und deine Genossen, ihr habt den Reichstag angezündet!“

Gleich danach: unendliche Weite. Sonne fällt auf die Landstraße, links das Meer und rechts auch. Die Frau auf dem Motorrad gibt sich der Freiheit hin, sie streckt beide Arme, und in einem Anflug von Glückseligkeit schließt sie die Augen. Das Leben ist schön. Da kommt die schwarze Katze, von links, wie es sich für einen Unheilsboten gehört. Die Frau schreckt auf, sie reißt den Lenker zur Seite, die Maschine gerät ins Schleudern. Blick zurück über Lenker und Schulter, direkt in die Augen der schwarzen Katze.

Nein, diese Geschichte wird nicht gut enden. Wie ja auch die tatsächliche Geschichte nicht gut endete. Damals in den Wirren der Jahre 1932 und 33, in den letzten Monaten der Republik von Weimar.

Anna Loos spielt die Frau auf dem Motorrad. Henny Dallgow, eine Tochter aus bürgerlichem Haus, sie tanzt und singt und verwaltet ihr Vermögen. Mit Politik hat sie nicht viel im Sinn, bis sie am Ende dieser Motorradfahrt den Mann trifft, der für ein paar kurze Wochen lang ihr Leben in eine andere Bahn schleudern wird. Albert Goldmann (Jan Josef Liefers), Arzt und Reichstagsabgeordneter mit sozialdemokratischem Parteibuch. Goldmann ist Jude, einer von denen, die sich für Religion nicht mal am Rande interessieren und nach der Maxime leben: „Ich bin nicht Jude, sondern Deutscher.“ Widerwillig lässt er sich von seinem jüngeren Bruder, dem Kommunisten Edwin, für einen Kurierdienst einspannen, bei dem er beinahe auffliegt und in den Armen von Henny Dallgow landet.

Es ist keine Liebe auf den ersten Blick. Henny macht sich lustig über den Mann mit dem schlecht sitzenden Anzug und der albernen Mütze und über den Reichstag, „dieses Parlament ohne Macht und ohne Sinn, da wird nur gequasselt und keiner hört zu“. Albert steht irritiert und angewidert vor ihrer Welt, in der auch die strammen SA-Leute zur Kundschaft gehören. „Hast du nie gehört, wie die Nazis über uns Juden reden?“ – „Ach, das meinen die doch nicht so.“ Beim Anblick der braunen Horden verspürt sie allenfalls ästhetisches Unbehagen. Das ändert sich. Zögerlich erst, als Albert sie mit dem Elend in seiner Weddinger Praxis konfrontiert. Fordernder, als ein SA-Trupp das Interieur ihres Ballhauses kurz und klein schlägt. Und ganz entscheidend, als ihr aufgeht, welche unheilvollen Allianzen im Hintergrund wirken. Aber da ist es schon zu spät.

Das Ehepaar Loos/Liefers stand schon öfter gemeinsam vor der Kamera, aber noch nie für einen so anspruchsvollen Film wie „Nacht über Berlin“, er läuft heute um 20 Uhr 15 im Ersten zum 80. Jahrestag des Reichstagsbrandes am 27. Februar 1933. „Uns war wichtig, dass das keine Pilcher-Geschichte wird“, sagt Jan Josef Liefers. „Da hätten wir nicht mitgemacht.“

Beide widerstehen der Versuchung allzu großer Vertrautheit, ihre Figuren wahren ihre Neugierde auf einander. Liefers’ Goldmann ist idealistisch und verletzlich und dank sparsamer Mimik doch weit entfernt vom Abziehbild. Seine Frau spielt selbstbewusst und fordernd ihren Part als Henny, die sich alle paar Minuten eine Zigarette ansteckt, mit ihrem Motorrad durch Berlin kurvt und auch sonst ihr eigenes Leben lebt. „Es gab ja damals extrem moderne Frauen“, erzählt Anna Loos. „Aber mit den Nazis wurde das alles auf null gestellt.“

Mit Liebe und Hingabe zum Detail setzt der Regisseur Friedemann Fromm diese letzten Tage der ersten deutschen Demokratie in Szene. Keine Ahnung ob es in allen Einzelheiten so gewesen ist, man kann ja keinen mehr fragen, aber es fühlt sich authentisch an. Die Redeschlachten im holzgetäfelten Reichstag. Der Alltag im Wedding, wo sich der Arzt Goldmann schwindsüchtigen Kindern mit der gleichen Hingabe widmet wie den Schusswunden der Kommunisten. Das für immer verloren gegangene jüdische Leben in Berlin. Die Dekadenz im Ballhaus, wo Frauen an den Tischen koksen und SA-Männer mit ihren Lustknaben knutschen.

Der großartige Jürgen Tarrach spielt den Ballhausbesitzer Matze Belzig, grell geschminkt und doch mit klarem Blick für das, was kommen wird. Matze Belzig emigriert in die USA und verkauft das Ballhaus an Henny Dallgow. Wie nur wenige spürt der Mann, dass es die letzten Zuckungen der Goldenen Zwanziger sind. Zu Beginn der Dreißiger schimmert der Alltag längst braun.

Schon bei „Weissensee“ und „Die Wölfe“ hat Friedemann Fromm gezeigt, wie gut er sich darauf versteht, zeitgeschichtliche Stoffe zu adaptieren. Bei „Nacht über Berlin“ verantwortet er mit Rainer Berg auch das Drehbuch, es schlägt in der finalen Viertelstunde schwindelerregende Volten, in deren Folge der Arzt Goldmann sich neben dem Brandstifter Marinus van der Lubbe (beeindruckend wirr gespielt von Johannes Klaußner) wiederfindet. Hier geht die Regie an den äußersten Rand des Vorsatzes, eine theoretisch mögliche Geschichte zu erzählen. Es ist, aus pragmatischen Gründen, mal wieder eine Liebesgeschichte. „Wenn ich diese Zeit erzählen will, brauche ich dafür eine Geschichte“, argumentiert Fromm. „Ich will ja auch, dass die Menschen sich den Film angucken.“

Der Kriminalfall? Ist von untergeordneter Bedeutung. Ob nun der Niederländer van der Lubbe allein den Brand gelegt hat (wahrscheinlich) oder die Nazis tatkräftig mitgeholfen haben (nicht so wahrscheinlich), wird sich wohl nie restlos klären lassen. „Da hat keiner die Deutungshoheit“, sagt Fromm. „Fragen Sie fünf Historiker, und Sie bekommen zehn verschiedene Antworten.“

„Nacht über Berlin“ erhebt nicht den Anspruch eines Dokudramas. Es geht um den Alltag in den Wochen und Monaten vor einem der großen Wendepunkte der deutschen Geschichte. Deutschlands Schicksalstag ist ja nur bedingt der 30. Januar 1933 mit der formalen Übergabe der Macht an die braune Kamarilla. Die Republik ist zwar dem Tode geweiht, aber noch steckt ein Rest Leben in ihr. In diesen ersten Wochen ist Hitler noch ein Kanzler von Papens, Hugenbergs und Hindenburgs Gnaden. Es gibt noch kommunistische Parteibüros und oppositionelle Zeitungen. Erst der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. zum 28. Februar gibt Hitler den Vorwand zum großen Schlag gegen die verhasste Demokratie, er sieht „ein gottgegebenes Zeichen“ und die Gelegenheit, die „Kommunisten mit eiserner Faust zu vernichten“. Schon am nächsten Tag wird die Notverordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ erlassen. Jetzt wird aus der Machtübergabe die Machtergreifung. Der Terror nimmt seinen Lauf.

Ein letztes Mal tanzt die bunte Gesellschaft im Ballhaus. Die Nazis und die Opportunisten, in ein paar Wochen wird man sie Märzgefallene nennen, als nach den letzten Reichstagswahlen Hunderttausende in die NSDAP eintreten. Mitten drin bei diesem Tanz am Abgrund: Henny Dallgow und Albert Goldmann. Ihre Liebe wird, sie muss scheitern. „Die Liebe zählt zum Privatesten und Intimsten des menschlichen Seins“, sagt Jan Josef Liefers. „Aber die Gesellschaft geht in eine Richtung, in der es private Rückzugsgebiete nicht mehr gibt.“ Das Private der Liebenden wird politisch.

Am Ende steht wieder die Enge. Der Folterkeller. Schläge ins Gesicht und einen Eimer Wasser hinterher, „jetzt gib’s endlich zu, du und deine Genossen, ihr habt den Reichstag angezündet!“

„Nacht über Berlin“, 20 Uhr 15, ARD; „Nacht über Deutschland“, Dokumentation, 22 Uhr, ARD; auch die Talkshow „Anne Will“, 23 Uhr 15, ARD, nimmt das Thema auf: „80 Jahre nach Hitlers Machtergreifung – wie stabil ist unsere Demokratie heute?“

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