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Netflix startet: Fernsehen wird anders

Neues Fernsehen braucht originelles Programm. Aber wie weit darf die Individualisierung gehen? Sie fordert die öffentlichen-rechtlichen heraus und könnte den Charakter des Fernsehens verändern. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Joachim Huber

Der erste Eindruck: Fernseh-Deutschland hat auf den Videodienst Netflix gewartet wie weiland die deutschen Frolleins auf die Nylonstrümpfe. Beide Produkte stammen aus den USA, beide sind der Schönheit gewidmet. Nylonstrümpfe machen Frauenbeine attraktiver, Netflix das Fernsehen. Die Polyamidfaser hat global reüssiert, die Expansion des Streamingportals hat erst begonnen. Was als DVD-Vertrieb im kalifornischen Los Gatos gegründet wurde, wird heute in 40 Ländern angeboten: Serien, Kinofilme, Dokumentationen, werbefrei und wann und wo der Abo-Kunde sie sehen will.

Seit Dienstag auch in Deutschland. Netflix startet als Hoffnungsträger. Das lineare Fernsehen von ARD, RTL, Sat 1 und ZDF gilt vielen als erstarrt. Das 21. „Tatort“-Fahnderduo, „Soko“-Kriminetten allüberall, die Castingshow „Deutschland sucht den Superstar“ mit Heino (!) als Juror in der zwölften Auflage, die erfolgreichsten Serien „Um Himmels Willen“ und „In aller Freundschaft“ hätten auch im Schwarz-Weiß-Fernsehen der 60er Jahre laufen können. Das anspruchsvolle Fernsehpublikum will das nicht länger ertragen. In den DVD-Abteilungen der Mediamärkte werden die kreativ wie innovativ ehrgeizigen Erzählserien made in USA schuberweise rausgetragen. Also genau die Produkte, mit denen das neue Portal lockt: „House of Cards“, „Fargo“, „Orange is the New Black“.

Popcorn ohne Verfallsdatum

Netflix, Maxdome, Sky Snap – das sollen maßgeschneiderte Versprechen für Menschen sein, die vom Fernsehen mehr erwarten, als sie von ARD bis RTL bekommen. Da lohnt der genaue Blick: Die Programmkataloge der Videodienste versammeln im Großen und Ganzen bislang die Titel, die längst im Fernsehen oder im Kino gelaufen sind. Ohne Hype betrachtet bietet die neue Verteiltechnik mobile Videotheken- und Mediathekenware – TV-Popcorn ohne Verfallsdatum.

Das wird die Zukunft nicht sein können. Die Zahlungsbereitschaft zum Pay-per-View oder zum Abo wird entscheidend vom Angebot abhängen: Neues Fernsehen braucht originelles Programm. Dafür braucht es Geld. Laut Prognose liegt es zum Abruf bereit. Die Beratungsgesellschaft Accenture glaubt, das Umsatzvolumen der Branche in Deutschland werde von aktuell 170 Millionen Euro bis 2018 auf 450 Millionen Euro emporschnellen. Die von der eigenen Routine gelangweilten Kreativen, ob Schauspieler oder Produzenten, jubeln schon. Netflix ist ein Weckruf. Dass zur Transpiration des Immergleichen die Inspiration des Wagemutigen kommt.

TV-Lagerfeuer sind erloschen

Wie viel Abbruch steckt im Aufbruch? Die Videodienste brauchen zum Geldverdienen und zum Produzieren einen Massenmarkt. Auch das wird die Katalogpolitik bestimmen, zugleich müssen Netflix & Co. eingeschliffene Zuschauergewohnheiten überwinden. Der ganz große Teil des Publikums ist bei der Programmwahl so aktiv wie der Zeigefinger auf der Fernbedienung. Das öffentlich-rechtliche Pay-TV wie das werbefinanzierte Free-TV, beide Systeme werden nicht untergehen. Vielleicht verändern sich Funktion und Nachfrage. Information, politische News, Showunterhaltung, EventSport – das werden die auf Serien- und Filmfiktion hin orientierten Portale nicht bieten. Das Programmsortiment wird sich erweitern im Fernseh-Supermarkt. Mehr denn je werden die Kunden das Sagen haben. Sie wollen Wahlfreiheit.

Eine Dimension des sich weiter spreizenden Fernsehmarktes darf nicht aus den Augen geraten. Wenn jeder zu jeder Zeit sieht, was er will, was wird dann aus dem Gemeinschaftserlebnis Fernsehen? Nur noch beim Live-Fußball, beim „Tatort“ und bei der „Tagesschau“ um 20 Uhr richtet sich eine Mehrheit der Zuschauer auf eine einzige Fernsehsendung aus. Die allermeisten TV-Lagerfeuer sind erloschen. Vielleicht verliert das Medium Fernsehen seinen Charakter als Volksmedium, wenn die Individualnutzung weiter um sich greift. Einerseits. Andererseits werden die Videodienste im Erfolgsfalle das öffentlich-rechtliche Fernsehen herausfordern: dass ARD und ZDF sich auf Strahlkraft und Attraktivität jener Sendungen konzentrieren, die das Gesellschaftsfernsehen für die Fernsehgesellschaft liefern muss.

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