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Eine WDR-Doku zeigt das Verstehen und Nichtverstehen in einer Schulklasse, die nicht nur für das Ruhrgebiet typisch ist.

© SWR

Schul-Dokus: Anschauungsunterricht

Dokumentarfilme zum Thema Schule, Minderheiten und Kampf im Klassenzimmer haben Konjunktur. Was Politiker daraus lernen können.

Von Caroline Fetscher

Michael seufzt. Eigentlich, eher leise, freut er sich auch. Denn es gibt Leute, die sich um den zehnjährigen „Problemschüler“ bemühen. So erzählt er: „Die Lehrerin sagt immer, ruhig, bleib ruhig, atme mal ein bisschen.“ Der Junge mit dem Eigensinn im Gesicht ist nicht ruhig, er stört. Am Anfang der Dokumentarfilms „Menschenskinder“, der am Montagabend im SWR Fernsehen ausgestrahlt wird, sitzen Michael und seine Mitschüler in einer Runde. Im Gesprächskreis, „geht es einfach nur so ums Menschsein“, klärt die Lehrerin auf. Es gehe darum, miteinander zu reden, anstatt zu rüpeln und zu prügeln. Ein Mädchen, gekleidet in Hellblau, ringt um Fassung. Denn die anderen haben einen Club gegründet: „Da dürfen fast alle Jungens und Mädchen dabei sein, außer ich.“ Sie weint.

Tag für Tag haben es die Lehrer mit dem Trotz, der Wut, der Angst, den Tränen der Grundschüler zu tun, mit Lügen und Lachen, Verstellung und Ehrlichkeit. In einem Wort: mit Emotionen. Der Ludwigsburger Filmemacher Jai Wanigesinghe begab sich für „Menschenskinder“ über Monate in die dritte Klasse einer normalen Schule der deutschen Provinz. Sein Film schildert, wie Lehrer, Erzieher versuchen, das Ausagieren ihrer Schüler durch das Element der Verständigung zu verändern oder wie eine Therapeutin Kindern Vertrauen durch den Umgang mit Hunden beibringt. „Ich-Stärke“, sagt die Schulleiterin, das solle Schule vermitteln, so dass Kinder ihrer Wahrnehmung trauen und sich auszudrücken lernen.

Dreharbeiten an so heiklen Orten wie Schulen brauchen Nervenstärke. Der Regisseur weiß nicht, wie es weitergeht mit dem schwierigen Michael, ob plötzlich Schluss sein muss mit dem Filmen. Mit Engelsgeduld gelingt es Wanigesinghe, die Atmosphäre eines Konflikts einzufangen, ohne die Beteiligten preiszugeben. Man liest in den Mienen und Gesten der jungen Protagonisten enorm viel Individuelles. Ganze Entwürfe für Leben und Lernen zeichnen sich ab. Ebenso bewundert man die türkisch-deutsche Lehrerin, die mit Michael, Jessica und den anderen ein zivilisiertes Lernklima schafft, gegen alle Widerstände.

Seit es durch preisgekrönte Kino-Produktionen wie „Sein und Haben“ (Frankreich 2002) oder „Die Klasse“ (Frankreich 2008) nobilitiert wurde, hat das Genre der Schul-Dokumentation auch im Fernsehen mehr an Fahrt aufgenommen. Wie sehr sich der Schauplatz Schule eignet, gesellschaftlichen Sprengstoff, Spannungen zwischen Gruppen und Generationen zu spiegeln, machte vor allem „Die Klasse“ klar, worin ein Französischlehrer mit den Schülern aus bildungsfernen Banlieus von Paris um Sprache und Hoffnung kämpft.

In Deutschland ging Nicole Rosenbachs Dokumentation „Hart und herzlich. Eine türkische Lehrerin gibt nicht auf“ (WDR, 23.9., 22 Uhr 30) genau die Konfliktlinien nach, die in der aktuellen Debatte um Migranten und Integration erhitzt sind wie Kurzschlusskabel. Hier, in diesen Filmen, ist Wirklichkeit zu sehen, wie Politiker und Nichtlehrer sie nie erleben. Betül Durmaz, die oftmals Eltern ihrer Gelsenkirchener Förderschüler aufsucht, um zu erfahren, wie es ihnen zu Hause ergeht, wird von Schülern geschätzt, während sie für fundamentalistische Familien mit ihrer Weltoffenheit eine Bedrohung darstellt. Wenn die kosovarische Mutter von Elvira der Lehrerin darlegt, für Elvira – die so gern Tanz lernen würde – sei „nur Koran“ wichtig, stößt auch Durmaz an ihre Grenzen. Wie Musik Grenzen lösen kann, beweist die in diesem Jahr produzierte WDR-Dokumentation „Jedem Kind ein Instrument - Ein Jahr mit vier Tönen“, für die Regisseur Boris Becker ein Jahr lang an drei Grundschulen des Ruhrgebiets unterwegs war. Wenn das Instrument, zunächst Symbol für eine fremde Welt, dem Kind näher und lieber wird, dann, das ist an den Klängen zu hören und am Vergnügen der Musizierenden zu sehen, öffnen sich wohl tatsächlich innere Türen.

Herausragend sind auch die Dokumentationen „Herr Lengwenus – Der Schulleiter“ (NDR, 2009) und „Der Die Das“, 2008 von Sophie Narr als Abschlussarbeit an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf gedreht. Auch der Hamburger Björn Lengwenus und sein Kollegium sind im Alltag mit den Sorgen von Schülern aus dysfunktionalen Familien, dem Mangel an Motivation, Disziplin und Hoffnung konfrontiert. Er solle „Vaterersatz spielen“, für 28 Schüler, „das ist einfach zu viel“, gesteht einer der Lehrer. Im Einzelgespräch ermutigt Schulleiter Lengwenus eine Schülerin, die zwischen den geschiedenen Eltern hin und her pendelt, sie möge die Schule nicht aufgeben. Diesen Herrn Lengwenus, unaufdringlich, ruhig, mögen die Schüler, ohne dass aus ihm ein überhöhtes Ideal wird.

„Der Die Das“ widmet sich den ganz Jungen, den Erstklässlern der Anna-Lindh- Grundschule im Berliner Wedding. Ihre Eltern kommen aus Bosnien, aus der Türkei, aus Nigeria oder Deutschland. Sie sollen lernen und tasten sich in die Welt der Wörter und Zahlen vor. Fuat träumt vom Autofahren mit dem Vater, der die Familie verlassen hat, Sanita kommt zu spät, niemand hat den Wecker gestellt. Mit ihren Ängsten bleiben die Kinder oft allein. Was Chancen bedeuten, Lernen und Größerwerden, ist den meisten nicht vor Augen. Doch dann kommt irgendwann „Das Jahr der Entscheidung“, wie Maike Conways 2009 für die ZDF-Reihe „37 Grad“ gedrehter Film über die vierte Klasse einer Grundschule heißt. Alle haben sie die Weggabelung erreicht, die zu Gymnasium, Realschule oder Hauptschule führt. Ein Jahr lang begleitete die Regisseurin vier Kinder durch Stress und die Sorge, ob sie es an ihre Wunsch-Schule schaffen.

Existenzieller noch wird es in „Die Hartz-IV-Schule“ von Eva Müller (WDR, 2007), wo zwei Drittel der Kinder der Wattenscheider Fröbelschule Eltern ohne Arbeit haben. Als 2006 nur zwei Schüler aus dem Abschlussjahrgang eine Lehrstelle erhielten, zog die Schulleitung die Konsequenz: Vorbereitung auf den Papierkrieg zum Antrag auf Hartz IV. Vollends alarmierend ist die Dokumentation „Kampf im Klassenzimmer“ (WDR, 16.9., 22 Uhr) über eine Hauptschule in Essen. Die Minderheit der deutschen Schüler wird gemobbt von einer türkisch-libanesischen Mehrheit, die deutsche Mädchen „als Schlampen“ bezeichnen, und Jungen, die Gewalt ablehnen als „Weicheier“. Die Regisseurinnen Nicola Graef und Güner Balci kommentieren nicht aus dem Off – die Argumente der Schläger sprechen für sich.

Es wäre zu wünschen, dass Politiker, die niemals Zeit haben, hunderte von Stunden an Schulen zu verbringen, sich zumindest aus dem aktuellen Genre dieser Schuldokumentationen mit anderen Bildern und Eindrücken versorgen als mit Statistiken und Budgets. Den Anfang der Schul-Dokumentarfilme machte übrigens einst Alexander Kluge. „Lehrer im Wandel“ hieß der schwarz-weiße Kurzfilm von 1962. Mit seiner Collage zu den Lebensgeschichten dreier Lehrer wollte Kluge nachweisen, dass die Gesellschaft Bildung eigentlich nicht will, dass man es zu tun hat mit einer „bildungsfeindlichen Haltung der staatlichen Elite“.

„Menschenskinder“, SWR, 23 Uhr 30. Weitere Schul-Dokus folgen im

September im WDR

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