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Glückssucher. Die von James Franco gespielten Zwillingsbrüder Vincent (re.) und Frankie Martino haben in den 1970ern ihr Revier in der 42nd Street in New York.

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Serie über den Start der New Yorker Pornoindustrie: Vincents Revier

Mit „The Deuce“ ist den Machern von „The Wire“ wieder ein grandioses Gesellschaftspanorama gelungen.

Manchmal fragt man sich ja in historischen Filmen und Serien, wie die das hinkriegen, mit Kostümen, Ausstattung, Straßenzügen, detailgenauen Frisuren. Dystopien und Fantasy-Serien wie „Game of Thrones“ oder „The Walking Dead“ haben’s da im Grunde leichter, weil sie keiner Zeit anzugehören scheinen. „The Deuce“, eine neue Serie auf Sky über den Aufstieg der New Yorker Pornoindustrie mit James Franco in der Hauptrolle, lässt die US-Metropole der 1970er Jahre auferstehen. Ähnlich wie es die Werber-Serie „Mad Men“ mit den schicken 1960er Jahren getan hat. Nach Sichtung der ersten Folgen entsteht der Eindruck, so und nicht anders muss es gewesen sein.

So und nicht anders müssen sich die von James Franco („127 Hours“, „Howl“)) gespielten Zwillingsbrüder Vincent und Frankie Martino gefühlt haben, in der 42nd Street, im Zentrum New Yorks, Richtung Times Square. Dort, wo heute Touristen nach Karten für das nächste Musicaltheater anstehen, hatten vor 40, 50 Jahren Prostituierte ihr Revier. Im Hinterhof liefen Sexfilmchen, vorne verkauften Dealer mit Wahnsinnsfrisuren aus dicken Cadillacs heraus ihren Stoff. Die Straße hieß „The Deuce“. Jeder Müllbeutel, jede verwehte Papiertüte auf ihr knistert so, sieht so aus, wie sie in den 1970er Jahren geknistert und ausgesehen haben muss.

Hier nun versuchen Barkeeper Vincent und Kleinganove Frankie ihr Glück. Gute Serien zeichnen sich ja bekanntlich nicht nur durch gute Requisite (Francos Schnauzer ist allerdings beachtlich), sondern auch durch eine realistische Zeichnung der Figuren aus, deren Persönlichkeiten und Beziehungen untereinander über die gesamten Staffeln hinweg entwickelt werden.

Geburtstag mit dem Callgirl

Alleine die Anlage dieser beiden unterschiedlichen Brüder-Charaktere, die sich vom Äußeren her kaum unterscheiden, trägt für mindestens eine Staffel. Vincent, der im Grunde anständige Typ mit weißem Hemd und moralischem Kompass, der an der Bar in der 42. Straße, zwischen Prostituierten und Zuhältern, vom bürgerlichen Leben mit Frau und Kind zu Hause träumt. Frankie, der nichts Bürgerliches auf die Reihe kriegt, und von Glück reden kann, das er wegen seiner krummen Geschäfte noch nicht dingfest gemacht oder von der Mafia umgelegt wurde.

Ihr weiblicher Widerpart ist die Prostituierte Candy, gespielt von Maggie Gyllenhaal („The Honourable Woman“), die hier gegen ihren zierlichen Typ besetzt ist. Candy arbeitet ohne Zuhälter, sie schlägt sich alleine durch. Nach getaner Arbeit rupft sie im Appartement ihre Perücke herunter und besucht ihren Sohn, den sie abgegeben hat, da er von ihrer beruflichen Existenz nichts wissen soll. Auch eine eher tragische Heldin, mit moralischem Kompass. Das eine oder andere geschäftliche Gespräch mit Jugendlichen, die mit dem Callgirl ihren Geburtstag und ihr „erstes Mal“ feiern wollen, gehört zu den amüsanteren Momenten.

Buch und Regie (unter anderem: James Franco) lassen sich viel Zeit, die Figuren einzuführen. Zigarettenqualm, Soul, Schuhputzer, Autokarossen, ein fulminantes Set, die heruntergekommene Ecke aus dem New York der 70er. Die Serie „Vinyl“, produziert von Martin Scorsese, über den Aufstieg der Plattenindustrie hat das ähnlich dreckig-überwältigend hingekriegt.

Prostituierte und Porno hin, Platten her – vielleicht ist es ganz gut, dass ein von seinem Präsidenten scheinbar in Schockstarre versetztes Land Serien über Jahre des Aufbruchs vorgesetzt bekommt. Hinter „The Deuce“ stehen David Simon und George Pelecanos, die mit der Krimi-Saga „The Wire“ in den 2000er Jahren, dem Auge für Zeitkolorit und lebensnahe Milieustudien Serienstandards setzten. Viele halten „The Wire“ für die beste Serie aller Zeiten.

Irgendwann, gegen Ende des fast 90minütigen Piloten von „The Deuce“ wird klar: All die Glückssucher, die Barkeeper, Ganoven, Zuhälter und Prostituierten – zu ihnen gesellt sich noch mit Lori (Emily Meade) ein etwas überzeichnetes Mädchen aus der Provinz – werden zueinander finden. Es entsteht ein neuer Industriezweig, der Frauen wie Candy von der Straße in die Filmstudios holt, um Sexfilme zu drehen. Pornofilme à la „Deep Throat“ fundieren ein neues Genre. Damit keine Missverständnisse aufkommen: „The Deuce“ ist beileibe nichts für Voyeure. Es ist vor allem ein grandioses Gesellschaftspanorama.

„The Deuce“, ab 11. September auf Sky (der Pilot steht auf Sky Ticket)

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