zum Hauptinhalt
1977, bei der Beerdigung der Stammheim-Gefangenen: Astrid Frühwein (Emma Jane) und Wilhelm Jordan (Elias Popp). Was haben sie mit dem Mordfall 2017 zu tun?

© SWR/Sabine Hackenberg

"Tatort" zu 40 Jahre Deutscher Herbst: Im Angesicht der RAF

Furios: Dominik Graf schreibt im Stuttgarter „Tatort“ die jüngere deutsche Geschichte um. Über eine Szene dürfte besonders heftig diskutiert werden.

Was geschah in der Nacht zum 18. Oktober 1977 im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim? Wie fanden Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in ihren Gefängniszellen den Tod? Es ist eine ziemlich unglaubliche Geschichte, die uns Regisseur Dominik Graf im neuen „Tatort“ erzählt: Es müssen keine Selbstmorde gewesen sein, die Terroristen könnten auch vom Staat umgebracht worden sein.

Eine Provokation, ein Kraftakt, den sich die ARD da zu 40 Jahren Deutscher Herbst in die Primetime geholt hat. Die historische Situation in Stuttgart-Stammheim als Hintergrund für einen auf zwei Zeitebenen spielenden „Tatort: Der rote Schatten“. Ein 90-minütiger Parforceritt, ausgehend von einer in der Badewanne ertrunkenen Frau, im Herbst 2017. War es Mord? Ein Unfall?

Der Ex-Mann hält ihren neuen Lebensgefährten (Hannes Jaenicke) für schuldig. Der säuft, hat einige Schwerstdelikte begangen und zudem noch die Terroristin Astrid Frühwein in seiner Gartenlaube versteckt, wird vom Staat aber offenbar permanent geschützt. Die Ermittlungen führen die beiden Stuttgarter „Tatort“-Kommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) über 40 Jahre zurück.

„Tatort“ goes Zeitgeschichte also. Am 18. Oktober 1977 werden die RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis Stuttgart-Stammheim tot aufgefunden, offenbar Suizid. Zuvor hat die RAF Arbeitgeberpräsident Schleyer entführt, um deren Freilassung zu erwirken. Aber der Staat lässt sich nicht erpressen. Auch nicht im Fall der von Palästinensern entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“, deren Passagiere von der Eliteeinheit GSG 9 in Mogadischu befreit werden. Die Entführer töten Schleyer. Baader, Ensslin und Raspe bringen sich um, so die anerkannte Lesart. Wie sie im Gefängnis an Waffen gekommen sind, ist nicht endgültig geklärt. Viele offene Fragen.

„Viel zu viel Schlamperei und Vertuschung der staatlichen Behörden"

Da lassen sich die Autoren Dominik Graf und Raul Grothe in ihrem Krimi nicht zweimal bitten. Alleine die Szene, in der ein altgedienter Insider des Verfassungsschutzes Kommissar Lannert gegenüber andeutet, was sich damals in den Stammheimer Gefängniszellen auch abgespielt haben könnte (Maskierte dringen ein, erschießen Baader und Raspe, hängen die sich heftig wehrende Ensslin ans Fensterkreuz), wird Diskussionen hervorrufen. Da tischt einer von Deutschlands exzellenten Regisseuren („Im Angesicht des Verbrechens“) alles auf: Verschwörungstheorien, „Tagesschau“-Szenen von den RAF-Morden an Buback und Schleyer, Fake-Doku-Bilder, Liebe zwischen V-Mann und Terroristin, der Verfassungsschutz, der Delikte eines Ex-Mitarbeiters deckt, eine Staatsanwältin (Carolina Vera), die mit jüngeren Männern schläft und sich damit angreifbar macht. Formal ist das natürlich vom Feinsten.

Ein Cineasten-Krimi im True-Crime-Modus. In Graf-Filme kann man mittendrin reinschalten, man weiß sofort, wer gedreht hat: schnelle Schnitte, ungewöhnliche Perspektiven (Kamera: Hendrik A. Kley, Jakob Beurle), Parallelmontagen, auffallende Tonspur, drastische Sexszenen. Wer die Gemütlichkeit des Münsteraner „Tatorts“ gewohnt ist, bleibt hier nicht lange dabei.

Mitunter ächzt dieser Politthriller aber auch unter seiner eigenen Anstrengung oder besser Versuchung, deutsche jüngere Geschichte umschreiben zu können, im steten Bemühen, Fiktives und Dokumentarisches unter einen Hut zu bringen. Da hilft es, an Hitchcock zu denken. Der übersprang gerne mal Details, wenn es der Erzähldichte dient. Oder dem Eifer des Regisseurs. „Das Thema und die RAF-Zeit wurden überwiegend einseitig aufgearbeitet“, sagt Dominik Graf im Interview der Deutschen Presse-Agentur. „Viel zu viel Schlamperei und Vertuschung der staatlichen Behörden wurde und wird bei uns nach wie vor unter den Teppich gekehrt.“

Peng! Eine der auffälligsten „Tatort“-Folgen diesen Jahres jedenfalls – und eine Wiederentdeckung: Hannes Jaenicke als Lover des Opfers und Ex-V-Mann Wilhelm Jordan. Höchst fies und verdächtig. Auf so eine sinistre Rolle dürfte der Schauspieler lange gewartet haben.

„Tatort: Der rote Schatten“, Sonntag, ARD, 20 Uhr 15

Zur Startseite