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Medien: US-Fernsehen und Politik: Nur 24 Wörter

Mit wenigen kurzen Sätzen zweimal am Tag die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, damit abends ein Heer von Kommentatoren beschäftigt ist: So ungefähr lautet die Arbeitsplatzbeschreibung des neuen amerikanischen Präsidenten. Falls George W.

Mit wenigen kurzen Sätzen zweimal am Tag die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, damit abends ein Heer von Kommentatoren beschäftigt ist: So ungefähr lautet die Arbeitsplatzbeschreibung des neuen amerikanischen Präsidenten. Falls George W. Bush gegen dieses Gebot verstößt, werden wir dafür sorgen, dass er garantiert nicht wiedergewählt wird: So ungefähr lautet die Drohung der amerikanischen Nachrichtensender. Davon gibt es im Kabelnetz von Washington D. C. gleich fünf: Rund um die Uhr versorgen CNN (mit zwei Programmen), C-SPAN (ebenfalls zwei Programme), Fox News Channel, MSNBC und NewsChannel 8 die Zuschauer mit Nachrichten, Interviews und Expertenrunden. Also muss etwas passieren - und zwar täglich.

Kaum eine Aussage von George W. Bush hat die Medien so alarmiert wie dessen Andeutung, er könne sich vorstellen, selbst als Präsident regelmäßig auf seine Farm in Crawford/Texas zu fahren, um sich dort in aller Abgeschiedenheit zu entspannen.

Politik hat sich durch das Fernsehen verändert. Sie ist schneller, lauter, hektischer geworden. Die Nachrichtensender verstärken nur einen Trend. Als George Washington vor mehr als 200 Jahren seine Inaugurations-Rede hielt, tat er das vor wenigen Notablen in einem kleinen Raum. Der zweite Satz seiner Rede bestand aus 87 Worten, der dritte aus 69 Worten. Solchen Verschachtelungen würde heutzutage kaum noch jemand folgen können. Damals lag bei einer Inaugurations-Rede die durchschnittliche Wortzahl pro Satz bei 44 (von Washington bis Buchanan), dann betrug sie 34 (von Lincoln bis Wilson) und hat sich seitdem bei 25 eingependelt. George W. Bush hat bei seiner Amtseinführung 14 Minuten lang geredet, keiner seiner Sätze war länger als 24 Worte. Kurze Sätze lassen sich im Fernsehen besser zitieren als lange.

Im Jahre 1917, als in Europa gerade der Erste Weltkrieg begonnen hatte, überlegte US-Präsident Woodrow Wilson einige Wochen lang, was er zu den Ereignissen auf dem Alten Kontinent sagen soll. Das wäre heute unvorstellbar. Ein Präsident, der nicht spätestens am Abend desselben Tages zu einer krisenhaften Situation Stellung bezieht, wäre sofort weg vom Fenster. Harry Truman hat sich im Durchschnitt 88 Mal pro Jahr an die Nation gewandt, Ronald Reagan 320 Mal und Bill Clinton bereits 550 Mal. George W. Bush wird selbst diesen Rekord brechen müssen, um als Medien-Präsident in der Medien-Gesellschaft bestehen zu können. Dabei ist weniger interessant, was passiert, als vielmehr, dass überhaupt etwas passiert, was sich als Ereignis medial inszenieren lässt.

Für die Nachrichtensender kam der Durchbruch vor zehn Jahren, als CNN täglich vom Golfkrieg berichtete. Seitdem sind in den USA nicht nur ständig neue Nachrichtensender gegründet worden, sondern es hat sich für die Zuschauer auch der Eindruck verfestigt, man könne jederzeit bei jedem Ereignis live dabei sein. Dadurch verstärkt sich der Druck auf die Sender, möglichst als Erstes über ein Ereignis zu berichten. Das führt zu grotesken Szenen. In der Wahlnacht etwa wurde zunächst Al Gore zum Sieger gekürt, dann George W. Bush. Erst später räumten die Sprecher kleinlaut ein: Wir wissen nicht, wer der Sieger ist.

Oder am Tag, als das Oberste Gericht in Washington seine Entscheidung im Fall "Bush versus Gore" bekannt gab: Seit dem frühen Vormittag hieß es auf sämtlichen Kanälen, das Urteil könne jeden Augenblick gefällt werden. Alle zehn Minuten wurde vor das Gerichtsgebäude geschaltet, wo ein frierender Reporter verzweifelt im Kaffeesatz las. Er habe gerade ein unbekanntes Auto kommen sehen, es sei also möglich, dass die Richter sich Essen haben bringen lassen, was wiederum darauf hindeute, dass es länger dauern könne, was allerdings dem Eindruck widerspräche, den der Gerichts-Pressesprecher am Morgen zu erwecken versucht habe. Die Wahrheit war: Kein Mensch wusste, wann die Richter ihr Urteil bekannt geben würden. Als es dann am späten Abend so weit war, rissen sich die Reporter live um die gedruckten Exemplare, interpretierten laut und wirr vor sich hin, mal sah es gut aus für Gore, mal für Bush, keiner jedenfalls nahm sich die Zeit, das Urteil einfach in Ruhe durchzulesen, auszuwerten und das Ergebnis dann zu präsentieren. Es war kein Spektakel, was die Nachrichtensender veranstalteten, es war das blanke Chaos.

Aber selbst mit einem Präsidenten, der seine Amtsgeschäfte dem Rhythmus der Nachrichtensender angepasst hat, lassen sich nicht 24 Stunden Sendezeit füllen. Fox News Channel und MSNBC zeigen deshalb besonders in den Abendstunden zwischen 20 und 23 Uhr recht erfolgreich mehrere Gesprächsrunden zu politischen Fragen. Darauf hat CNN vor vier Wochen reagiert. Wolf Blitzer und Greta von Susteren moderieren nun hintereinander eine Mischung aus Nachrichten und Interviews. Die Nachfrage nach "Talking Heads" - nach Zeitungs-Kommentatoren, ehemaligen Politikern und unabhängigen Parteistrategen - ist enorm gestiegen. Daraus wiederum ist eine neue politische Elite entstanden, die dem Zuschauer die Ereignisse, die er sieht, deutet. Im Wahlkampf waren die drei Debatten zwischen Al Gore und George W. Bush weit weniger spannend als das Davor und Danach. In feinen Nuancen ließen die Analysten keinen Aspekt des Duells außer Acht. Man fühlte sich eher an ein Fußball-Weltmeisterschaftsspiel erinnert als an Politik.

Zur Freude der Politikerklasse und zum Entsetzen der Nachrichtensender haben Medienexperten jedoch herausgefunden, dass ständige Präsenz von Personen den Zuschauer abstumpfen lässt. Das nennen sie den Ich-kann-ihn-nicht-mehr-sehen-Effekt. Die neue Devise heißt: Gezielt präsent sein und sich gezielt rar machen. George W. Bush wird seine Ranch nicht verkaufen müssen.

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