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Brand mit Todesfolge. Im „Tatort: Land in dieser Zeit“ am Sonntag um 20 Uhr 15 arbeiten sich Forensiker Uhlich (Sascha Nathan, links) und die Kommissare Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) in die rechte Szene vor.

© HR/Degeto/Bettina Müller

Warum gibt's so viele Kriminalfilme im TV?: „Im Krimi haben wir Kontrolle über unsere Angst“

Warum geben sich Millionen Zuschauer die Kugel? Ein Gespräch mit dem Fernsehforscher Joachim von Gottberg über Ursachen und Wirkungen der Krimi-Sucht.

Herr von Gottberg, bei welchem Krimi in dieser Fernsehwoche haben Sie sich die Kugel gegeben?

Angesichts der Feiertage habe ich nur am zweiten Weihnachtstag den Münchner „Tatort: Klingelingeling“ gesehen. Die Kugel musste ich mir deshalb nicht geben, auch wenn mich die Story nicht besonders angesprochen hat. Auch bei diesem „Tatort“ ist auffällig: Kommissare sind einsame Wölfe, meist ohne Familie. Sie sind genervt, dass sie den Heiligen Abend bei ihrer verschrobenen Mutter verbringen müssen, die dann auch noch absagt. Gerade der „Tatort“ bemüht sich, auf aktuelle persönliche Problemsituationen, aber auch auf soziale Trends einzugehen. Deshalb konnte er sich wahrscheinlich so gut halten. Am 1. Januar gab es dann den „Polizeiruf 110: Angst heiligt die Mittel“. Hier ging es um eine sexuell missbrauchte und dann getötete Obdachlose, und der Verdacht richtete sich sofort gegen zwei vorbestrafte Sexualtäter. Bald stellte sich heraus, dass die Nachbarn das Verbrechen inszeniert hatten, um die beiden loswerden. Hier sehen wir die etwas offensichtliche Botschaft: Triff keine Vorverurteilungen, auch Straftäter verdienen eine zweite Chance.

Was treibt den Krimitrend mehr an: die steigende Nachfrage des Publikums oder das steigende Angebot der Sender?

Das hängt wohl ein wenig von der Altersgruppe ab. Schon bei Kindern ab acht Jahren sind kleine Kriminalhandlungen beliebt. Wir haben früher mit Begeisterung Enyd Blyton gelesen, in deren Romanen fünf Freunde kleine Kriminalfälle lösen und und dabei auch schon mal in Gefahr geraten. Aber auch „Die Drei Fragezeichen“ oder „Die Pfefferkörner“ im Kinderkanal lösen Kriminalfälle und werden gerne gesehen. Hier lernen Kinder einerseits, zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch zu unterscheiden, andererseits handelt es sich aber auch um kleine Emanzipationsgeschichten, weil die jungen Detektive über sich selbst hinauswachsen.

Was macht dann den Krimi für Erwachsene aus?

In erster Linie geht es um das Verhandeln von Moral. Ausgang der Handlung ist der brutale Mord, der das normative Gleichgewicht durcheinanderbringt. Damit wird Aufmerksamkeit und Interesse erzeugt. Je gravierender der Verstoß, desto stärker ist unser Interesse, dass die Tat gerächt wird und der Täter entweder hinter Gitter kommt oder getötet wird. Damit ist die Normalität wiederhergestellt. Auffällig ist, dass vor allen Dingen in den gegenwärtig sehr erfolgreichen skandinavischen Krimis die Details des Tötens und das Leiden des Opfers immer größeren Raum einnehmen. Wir wissen aus den Nachrichten und der Berichterstattung, dass es überall auf der Welt eine hohe Brutalität und menschenverachtende Morde gibt. Das beschäftigt uns, und wir wollen die dadurch hervorgerufenen Fantasiebilder konkretisieren. Das halten wir nur aus, weil unser Bedürfnis nach einem „guten Ausgang“ in der Regel bedient wird. Gleichzeitig schauen wir medial in den Abgrund des brutalen Verbrechens und sind sehr glücklich darüber, dass es uns vergleichsweise gut geht.

Deutsche Fernsehkultur ist Todeskultur – übertrieben?

Diese Aussage ist sicherlich übertrieben. Richtig ist, dass vor allem das ZDF eine gewisse Präferenz für Krimis aufweist, in der ARD gehört der „Tatort“ zu den beliebtesten Sendungen. Aber bei vielen anderen Kanälen hat die Fiktion ziemlich an Boden verloren. Dazu gehören auch die Krimis. Casting- oder Spielshows oder Menschen, die beim Essen oder beim Einkaufen beobachtet werden, gehören dort eher zu den Trends. Richtig ist aber, dass Darstellungen vom Töten bei uns allen eine schauerlich-schöne Faszination auslösen. Wir erfahren medial zwar täglich von unglaublich vielen Tötungen, aber die meisten von uns haben in ihrer Realität noch nie einen Toten gesehen. Der Tod findet in Pflegeheimen und Krankenhäusern statt. Wir beschäftigen uns mit ihm lieber über die sichere Distanz der Mattscheibe.

Woher kommt diese Faszination des Krimis? Bei den Machern wie bei den Zuschauern?

Die Macher probieren etwas, und sie bleiben dabei, wenn die Zuschauer einschalten und sie setzen das Programm ab, wenn es den Zuschauern nicht gefällt. Die Macher mögen Krimis, weil man mit ihnen fast alle menschlichen Dramen spannend erzählen kann. Und Zuschauer lieben Moralgeschichten, vor allem, wenn der dargestellte Konflikt moralisch nicht eindeutig zu beantworten ist. Hinzu kommt, dass unser Leben doch meist in sehr geordneten und nicht immer furchtbar spannenden Bahnen verläuft. Krimis bieten so etwas wie ein Ersatzabenteuer. Der Zuschauer besiegt das Böse praktisch symbolisch, indem er sich für 90 Minuten mit dem medialen Kommissar identifiziert.

Joachim von Gottberg ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen in Berlin und Chefredakteur von "tv diskurs".
Joachim von Gottberg ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen in Berlin und Chefredakteur von "tv diskurs".

© Promo

Der optimierte Lebensalltag versucht Gewalt und Gefahr zu bannen. Abends, im Fernsehsessel wird flächendeckend und millionenfach der Gewalt im Fernsehen gehuldigt. Schizophren oder genau das richtige Wechselbad fürs eigene Gleichgewicht?

Das ist nicht schizophren, sondern absolut folgerichtig: Genau wie im Krimi gibt es in unserer Vergangenheit und Gegenwart sehr viel Gewalt, und wir versuchen alles, um diese zu reduzieren. Wenn Sie an die gegenwärtige Diskussion um die Stärkung der Rechte von Polizei und Strafverfolgungsbehörden auf der einen und dem Datenschutz auf der anderen Seite denken, finden wir ähnliche Diskurse auch in den Krimis. Wenn es um die Verfolgung eines Täters geht, dessen Gefährlichkeit der Zuschauer in eindringlichen Bildern vorher erfahren hat, vergisst selbst derjenige, der sich im realen Leben für mehr Datenschutz einsetzt, die Regeln der Strafprozessordnung: In fast jedem „Tatort“ wird in irgendeine Wohnung eingebrochen, es werden Daten illegal beschafft oder widerrechtlich genetisches Material besorgt. Der Zuschauer weiß dies, aber er macht es mit. Im Krimi haben wir die Möglichkeit, uns in Situationen hineinzuversetzen, die wir in der Wirklichkeit nicht haben wollen. Es ist eine Art Probehandlung, in der wir die Gefahr fühlen, aber letztlich Kontrolle über unsere Angst haben.

Aber es ist schon so, dass der „Tatort“ sinnstiftender für die Gesellschaft ist und mehr für Zusammenhalt sorgt als die Sonntagsmesse oder die Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin?

Der „Tatort“ hat einfach Tradition, er ist ein Stück „Sonntagabend-Ritual“. Durch seine Vielfältigkeit auf der einen und seine Zuverlässigkeit auf der anderen Seite spricht er viele Menschen an. Und er erzeugt regelmäßig Gefühle, wie beispielsweise der oben erwähnte „Tatort: Klingelingeling“, in dem ein neugeborenes Kind eine große Rolle spielt, das auf tragische Weise ums Leben kommt. Für Eltern ist die Geschichte kaum zu ertragen. Bei aller Verehrung für unsere Bundeskanzlerin: Ein solches Gefühl vermag sie ebenso wenig mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu erreichen wie der Pfarrer in der Sonntagsmesse.

Die erste Fernsehwoche des Jahres 2017 ist mit Krimis zugepflastert. Dann aber zögert die ARD und verschiebt den „Tatort: Sturm“ vom 1. auf den 29. Januar 2017. Im Schlussbild können Kommissare und Polizisten ein Selbstmordattentat nicht verhindern. Sicherheit erweist sich als Illusion. Hat die ARD, auch mit Blick auf den Terroranschlag in Berlin, richtig gehandelt?

Grundsätzlich sollten wir uns nicht von Terroristen unser Leben diktieren lassen. Auf der anderen Seite sollte man angesichts der durch ein solches Attentat entstandenen Angst durch einen „Tatort“ nicht noch Öl aufs Feuer gießen. Wäre ich Programmdirektor gewesen, hätte ich den „Tatort“ wahrscheinlich ausgestrahlt, dennoch respektiere ich die Entscheidung des Senders.

Hat sich das Krimigenre verändert und erweitert oder ist es stehen geblieben und hat sich damit verkleinert?

Die Krimikultur verändert sich ständig. Auffallend ist, dass bei den Klassikern beispielsweise von Agatha Christie die Schattierungen von Gut und Böse viel schärfer gezeichnet waren. Heute gibt es auch im „Tatort“ Mörder, deren Handlung wir psychologisch verstehen oder sogar moralisch nachvollziehen würden, weil sich beispielsweise das Opfer auch sehr unmoralisch verhalten hat. In jedem Falle steht aber auch die Detaillierung des Tötens, aber auch der Umgang mit den Toten viel stärker im Mittelpunkt. Denken Sie an den Erfolg von Pathologen, die täglich selbstverständlich und zum Teil in äußerst lustiger Form Tote zerschneiden oder ihr Herz und Gehirn wiegen. In vielen modernen Thrillern lernen wir darüber hinaus eine ganze Menge, wenn sie beispielsweise an den Berliner Autoren Sebastian Fitzek denken, der in seinem Buch „Das Joshua-Profil“ (2015) vor den Folgen eines Datensystems warnt, das beabsichtigt, durch die Analyse der mit Daten erfassten Lebensumstände die kriminelle Energie von Menschen zu prognostizieren, um diese dann aus dem Verkehr zu ziehen.

Das zeigt: Krimis nehmen in unterhaltsamer und emotionalisierender Art Themen auf, die wir zwar auch in der Berichterstattung finden, aber gleich wieder vergessen. Gefühle behalten wir sehr viel länger als Fakten.

Was fehlt der deutschen Krimifiktion?

Man merkt den deutschen Krimis leider an, dass offenbar für die Drehbuchautoren immer weniger Geld ausgegeben wird. Es fehlt oft an einer sauberen psychologischen Zeichnung der Charaktere. Manchmal hat man das Gefühl, dass die Autoren oder Regisseure zu Beginn der Dreharbeiten das Ende der Geschichte noch nicht kannten. Hier liegen jedenfalls Optimierungsmöglichkeiten.

Teilen Sie die Prophezeiung fürs Fernsehprogramm von morgen. Morde. Mehr Morde. Und noch mehr Morde?

Wenn Sie an die Filme zurückdenken, die in der Zeit des Nazi-Horrors gedreht wurden, wurden damals viel heile Welt und wenig Tötungen gezeigt. Heute ist Gott sei Dank die Realität zumindest in Deutschland sehr viel friedlicher, insofern kann ich unter diesen Umständen mit den Toten im Fernsehen ganz gut leben. Aber ich glaube, jeder Trend hat einmal ein Ende. Meine Prognose: Gerade die öffentlich-rechtlichen Sender übertreiben es ein wenig mit den Krimis. Der quantitative Höhepunkt ist meines Erachtens überschritten.

Das Interview führte Joachim Huber.

Joachim von Gottberg ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen in Berlin und Chefredakteur von „tv diskurs“.

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