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Digitalisierung: Was von uns übrig bleibt

Digitale Daten sind schwierig zu löschen - aber ebenso schwierig zu bewahren. Was wird dann unser Vermächtnis?

Von Anna Sauerbrey

Es sirrt. Ein Geräusch aus einer anderen Zeit, so wie das Geräusch, eine Kassette zurückzuspulen. Auf dem Bildschirm wird eine Liste von Dateien länger. Das blaue Licht fällt auf das Laufwerk, das jemand ausgebaut hat, so dass man dem Lesearm zusehen kann, wie er emsig über die Magnetplatte fährt. Vor und zurück. Vor und zurück. „Floppy-Disk“, sagt Matthias Wickenhöfer und schüttelt ein wenig amüsiert den Kopf. „5,25 Zoll“. Er nimmt eines der schwarzen Quadrate von einem Stapel. Es steckt in einer Papierhülle, auf der steht „Memorex“. „Die hat gerade ein Kunde vorbeigebracht. Sehen wir aber nicht mehr oft.“ Data Recovery, die Firma von Matthias Wickenhöfer, rettet Daten – oder zerstört sie, je nach Wunsch. Die Räume in einem Gewerbegebiet in Steglitz sind voll mit Computern und Lesegeräten, Ersatzteilen, Messinstrumenten und Kabeln. Hierher kommen Leute, die versehentlich etwas gelöscht haben. Oder aber sichergehen wollen, dass etwas wirklich nicht mehr auf der Festplatte ist, etwa, weil sie ihren Computer verkaufen möchten. „Noch können wir Floppy-Disks auslesen“, sagt Wickenhöfer. „In ein paar Jahren ist das vorbei. Dann wird man dafür keine Laufwerke mehr finden.“

Was bleibt von uns? Ein Datenwust oder gar nichts?

Wickenhöfer kennt sich aus mit der Vergänglichkeit von Daten – und auch mit ihrer Zähigkeit. Es ist schwierig, einmal erzeugte Daten wieder loszuwerden und die Menschheit produziert immer mehr. Gleichzeitig ist das Digitale flüchtig, sonst bräuchte es nicht die vielen Firmen, die sich auf Datenrettung spezialisieren. Was werden unsere Ahnen von uns finden? Einen unüberschaubaren Datenwust – oder vielleicht nichts? Was ist das überhaupt, Daten?

Die digitalen Daten die die Menschen hinterlassen, sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von bewusst gespeicherten Dokumenten bis zu unbewusst erzeugten, etwa Bildern von Überwachungskameras, auf denen man zu sehen ist, Daten in sozialen Netzwerken, aus Kreditkartentransaktionen oder GPS-Leitsystemen. Studien, die versuchen, den Datenbestand der Menschheit zu beziffern, gehen von unterschiedlichen Definitionen aus. Martin Hilbert und Priscila López etwa zählen in einem Artikel, der dieses Jahr in Science erschien, nur, was mit der Absicht, es zu bewahren für eine bestimmten Zeitraum gespeichert wurde und definieren eine Information als ein Bit, als eine Null oder eine Eins.

Wir produzieren immer mehr digitale Daten

Das auf IT-Prognosen spezialisierte Marktforschungsinstitut IDC, das Informationen ebenfalls in Bits berechnet, schätzt in einer Studie für den amerikanischen Hard- und Softwarehersteller EMC, dass noch im Jahr 2011 die Marke von 1,8 Zettabyte überschritten wird. Das sind 1,8 Billionen Gigabyte, die Speicherkapazität von 200 Milliarden HD-Filmen von zwei Stunden Länge. Diese Schätzung ist nur eine Annäherung. Einig sind sich die Experten aber in einem Punkt: Das Phänomen ist neu, aber wächst rasant. Noch im Jahr 2000, schreiben Hilbert und López, waren ein Viertel der

technisch gespeicherten Daten digitale Daten. Der Rest waren etwa Tonbänder oder Filme. 2007 lagerten dann schon mehr als die Hälfte aller technisch gespeicherten Daten der Menschheit auf Festplatten und das Wachstum geht weiter. Papier spielt als Datenträger keine Rolle mehr. 2007 lag sein Anteil nur noch bei 0.007 Prozent.

Produziert werden die Daten von uns, von Einzelpersonen. Die Marktforscher von IDC schätzten 2008, dass der digitale Fußabdruck jedes Menschen, also die gespeicherten Informationen pro Kopf, etwa 45 Gigabyte groß ist. Nur die Hälfte seien intentional produzierte Daten. Die Kommunikation ist dabei nicht mitgezählt. Allein 1&1, zu dem die kostenlosen Mail-Angebote GMX und Web.de gehören, leitet jeden Monat 5 Milliarden E-Mails über seine Server.

Robert Bräuer, einer der Mitarbeiter von Data Recovery, steckt die Chipkarte einer Digitalkamera in ein Lesegerät und öffnet die Dateienverwaltung. Auf der Karte ist nur eine Datei, ein Urlaubsfoto aus Afrika. Es zeigt einen Elefanten. Dann startet Bräuer „R-Studio“, ein Programm zur Datenrettung. In einem Fenster erscheint ein feines Schachbrettmuster aus grauen und violetten Quadraten. Das Programm überprüft, welche Segmente des Chips beschrieben sind und welche nicht.

Nach wenigen Sekunden erscheinen auf dem Bildschirm weitere Dateien. Neben dem Elefanten sind jetzt auch Zebras, Warzenschweine und Giraffen zu sehen. Zauberei ist das nicht. Werden Daten nur „in den Papierkorb“ verschoben, wird das magnetische Muster des Speichermediums nicht verändert. Der Computer löscht die Datei lediglich aus dem Index, so dass sie für den Nutzer nicht mehr sichtbar ist. Erst dadurch, dass der Computer aus Platzgründen nach und nach ältere Daten überschreibt, verschwinden sie.

Die meisten Datenträger haben nur eine kurze Haltbarkeit

Im Nebenraum zieht Matthias Wickenhöfer einen handtellergroßen, grauen-metallenen Brocken aus einem Plastikbeutel: Reste eines bei einem Brand geschmolzenen Computergehäuses. Die magnetische Fläche war noch intakt, die Daten rekonstruierbar. Wer seine Daten ganz sicher loswerden will, muss handfest werden. Dazu rät, ganz behördenuntypisch, sogar das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik: „Wenn Sie schon immer mal eine Festplatte von innen sehen wollten, wäre dies genau der richtige Zeitpunkt. Richten Sie am Objekt möglichst maximalen Schaden an“, schreiben die Experten auf ihrer Webseite und raten zu Schutzkleidung.

Einmal da, immer da also? Keineswegs. Eine mittelalterliche Urkunde, geschrieben auf zu Schreibmaterial verarbeiteter Tierhaut, hält sich bei umsichtiger Lagerung problemlos viele hundert Jahre. Eine Festplatte hingegen kann schon nach drei Jahren ihr Leben aushauchen. Eine gut gelagerte CD hält 10 bis 20 Jahre, lässt man sie in der Sonne auf der Fensterbank liegen, sind die Daten vielleicht schon nach einem halben Jahr verloren. Hinzu kommen ständig wechselnde Speichermedien und ständig neue Standards für die Schnittstellen, über die man Daten von einem alten auf ein neueres Gerät überträgt. „Es geht alles kaputt, von der Glühbirne bis zur Oma“, sagt Wickenhöfer. „Es wird schwieriger, Dinge von Generation zu Generation weiterzugeben.“ Momentan nimmt außerdem die Datenproduktion schneller zu als das verfügbare Speichervolumen. Laut der zitierten IDC-Studie überstieg im Jahr 2007 erstmals die Produktion die Kapazität – es muss also gelöscht werden.

Auch die Archive bereiten sich auf eine Datenflut vor

Eine konkrete Gefahr für das Vermächtnis des Menschen sieht Kerstin Schenke dennoch nicht. Die Archivarin arbeitet für das Bundesarchiv in Koblenz und berät Behörden beim Umgang mit elektronischen Akten. Die ersten vollständig digitalen Nachlässe von Privatpersonen seien bereits im Bundesarchiv eingegangen, sagt sie. Die Archive sind längst dabei, sich auf das Zeitalter der E-Akten einzustellen, denn auch Behörden werden in Zukunft vermehrt digitale Unterlagen weiterreichen. Das Problem mit unterschiedlichen Formaten und Datenträgern ist bekannt. Das Bundesarchiv nimmt elektronische Daten vor allem in einem Format namens Pdf/A auf. „Das ist ein Iso-Standard, der über lange Zeit stabil bleibt“, sagt Kerstin Schenke. Gespeichert wird sowohl auf Festplatten als auch auf Magnetbändern.

Die elektronische Bearbeitung führt in den Behörden ebenfalls zu einer Vermehrung der Daten, sagt Kerstin Schenke. Obwohl digitale Daten weniger Platz einnehmen, wird das Bundesarchiv weiterhin aussortieren. Nur, was historisch relevant ist, wird aufbewahrt. Momentan kämpfe man allerdings eher noch mit einer Revolution der 70er Jahre: Damals ließ das Kopiergerät die Akten anschwellen.

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