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Zeitungszeugen

© ddp

"Zeitungszeugen": Altpapier von gestern – Bildung für heute?

Nachrichten aus dem "Dritten Reich" am Kiosk: Der britische Verleger Peter McGee lässt das Altpapier der Großeltern nachdrucken und verkauft es 76 Jahre später als Historiensammlung. Wie die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler oder der Reichstagsbrand in der deutschen Presselandschaft vermittelt wurde, kann nun jeder nachlesen - inklusive einer aktuellen Kommentierung von Historikern.

Am 30. Januar 1933 wurde eine 35-köpfige Schmugglerbande gefasst, in Prag legte ein eintägiger Proteststreik die ganze Stadt lahm, holländische Matrosen meuterten in Surabaya. Doch das Ereignis des Tages war die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler – der Vorgang dominierte die Schlagzeilen des Tages. Nachzulesen in den Zeitungen des Tages, die der britische Verleger Peter McGee seit dieser Woche nacxh 76 Jahren wieder auf den deutschen Markt bringt.

Die Idee ist simpel: Ein Ereignis, drei Darstellungen. Wie die Machtübernahme der Nationalsozialisten in der deutschen Presse dargestellt wurde, sollen die Ausgaben des Tages zeigen. Die erste Ausgabe von McGees Historiensammlung "Zeitungszeugen" umfasst die kommunistische Zeitung "Der Kämpfer", die deutsch-nationale "Deutsche Allgemeine Zeitung" und das nationalsozialistische Blatt "Der Angriff". Wöchentlich will der britische Verlag "Albertas Limited" Nachdrucke historischer Zeitungen von 1933 – 1945 veröffentlichen. Ähnliche Geschichtsprojekte gab es bereits in acht anderen Ländern. McGee wirbt mit dem Slogan "Historische Zeitungen erstmals vollständig nachgedruckt".

Keine Propaganda sondern Aufklärung

"Reinen Tisch machen!" fordert Joseph Goebbels im "Angriff": "Man muss sich nun endgültig mit der Tatsache abfinden, dass der Nationalsozialismus keine halben Lösungen versuchen wird, und dass er noch viel weniger eine Verantwortung übernehmen kann ohne entsprechende Machtfülle. Wir sind bereit den kranken deutschen Volkskörper zu heilen und ihn wieder lebensfähig zu machen." Und auch die "Deutsche Allgemeine Zeitung" steht den Rechten positiv gegenüber: "Die deutsche Rechte stand seit Jahren im Vorhof der Macht. Endlich ist sie eingetreten. (…) Die Führer der deutschen Rechten müssen jetzt untereinander einig bleiben und sich mit den Millionen ihrer Anhänger um Hindenburg scharen zum Neubau des Reichs."

Nazi-Propaganda frei am Kiosk? Ist das politisch korrekt? Ja, denn in den Augen der Macher handelt es sich eben gerade nicht um Propaganda: "Wir zeigen, was man über die Vorgänge im Dritten Reich wissen konnte, wenn man es wissen wollte", erklärt Sandra Paweronschitz, Chefredakteurin der deutschen Ausgabe. Die Zeitungszeugen sollen einen Beitrag zu einer sachkundigen Diskussion über die NS-Zeit leisten.

Keine Bedenken wegen Rechtsextremisten

Paweronschitz allerdings stellt hohe Anforderungen an das eigene Projekt, wenn sie tatsächlich zeigen will, dass sich jeder über die Ereignisse im Dritten Reich hätte informieren können. Zwar ruft der kommunistische "Kämpfer" am 30. Januar zu Massendemonstrationen und Massenstreiks gegen die neue Regierung auf - "Verhindert die Papen-Hitler-Diktatur!", heißt es dort – doch lässt sich zu diesem Zeitpunkt schon erahnen, dass das nicht so bleiben wird. Mit zunehmender Machtfülle der Nationalsozialisten wurden die Zeitungen gleichgeschaltet. Wer anderes Gedankengut verbreitete, riskierte das eigene Leben. Aus diesem Grund sollen den späteren Ausgaben von "Zeitzeugen" auch deutsche Exilzeitungen beigefügt werden.

Bedenken, Rechtsextremisten könnten das brisante Material horten oder im Devotionalienhandel in der Szene verbreiten, hat der Verlag nicht - der Hintergrund der heutigen Neonazis sei ein gänzlich anderer. Außerdem: Wer nach Originalquellen aus dem "Dritten Reich" sucht, wird auch an anderer Stelle fündig. Goebbels Tagesbücher etwa sind ganz normal im Handel erhältlich.

Skeptisch zeigt sich der Publizist Ralph Giordano trotzdem: "Das bedeutet aber, fürchte ich, dass es immer noch genügend Leute gibt, die die Original-Nachrichten eher begrüßen, als das, was dahinter steckt, abzulehnen, auch wenn sie das nicht öffentlich bekunden werden." Jede Ausgabe besteht nicht nur aus den drei Nachdrucken der Originalzeitungen - in einer Beilage ordnen Historiker die jeweiligen politischen Ereignisse ein. Charlotte Knobloch, die Präsidentin des Zentralrats der Juden, ist ähnlich kritisch wie Giordano: "Wenn nur die Zeitungen und die darin auch enthaltene nationalsozialistische Propaganda, die deutlich abgesetzt von den Kommentierungen veröffentlicht wird, zur Kenntnis genommen würden, wäre dies fatal."

Historiker ordnen die Nachrichten ein

Weitere Reaktionen auf das Projekt sind vorsichtig optimistisch: "Geschichte erlebbar zu machen, ist ein wichtiges Unterfangen. Zeitungszeugen kann dazu mit klug ausgewählten Zeitungs-Nachdrucken und historisch relevanten Kommentaren einen wichtigen Beitrag leisten", so der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel. Ähnlich wie er äußern sich viele.

McGee jedenfalls hat Großes vor mit seinem Projekt: Von der ersten Auflage wurden 300.000 Exemplare gedruckt. "‚Zeitungszeugen’ soll auch von Menschen gelesen werden, die niemals ein Fachbuch für Zeitgeschichte lesen würden, die aber trotzdem großen Wert auf die Qualität der aufbereiteten Information legen. 'Zeitungszeugen' ist eine machtvolle Idee", so McGee. Zum Vergleich: Eine Ausgabe der "Zeit" wird knapp 500.000 Mal verkauft.

Nicole Scharfschwerdt

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