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Maulana Rumi: Der tanzende Derwisch

Er predigte Leidenschaft, Wein und Gesang: Der islamische Mystiker, Dichter und Philosoph Maulana Rumi wurde 1207 geboren. Sein Werk wird heute gefeiert, seine Sinnenfreude nicht.

Plötzlich an diesem Sommerabend ist die berühmte Blaue Moschee in Istanbul nicht mehr blau, sondern rot. Dann pink. Lila. Grün. Orange. Bestrahlt von bunten Scheinwerfern. Auf der Leinwand des zum Freilichtkino umgestalteten Vorplatzes erscheinen tanzende Derwische. Sie drehen und drehen und drehen sich um die eigene Achse, wie die Planeten und Sterne sich drehen, bis sie in Trance geraten. Drehend offenbart sich Allah, drehend erkennen ihn die Sufis, den rechten Arm zum Himmel geneigt, den linken zur Erde. Drehend nehmen sie von Gott, drehend geben sie der Erde, drehend löst sich ihr Ego in Allah auf. Neugierig schauen türkische, deutsche, britische und japanische Touristen zu, nicht jedem wird sich erschließen, dass der wilde Wirbel eine ekstatische Form des Gebets ist.

Aus den Lautsprechern erzählt eine Tenorstimme vom Leben des Ordensbegründers der Tanzenden Derwische. Ein Meister war er, ein Maulana oder auf Türkisch Mevlana. Am 30. September 1207 wurde Dschellaleddin Balkhi, wie sein Name auf Persisch heißt, in der Stadt Balkh im heutigen Afghanistan geboren. Dschalaluddin Rumi, wie ihn die Türken nennen, lebte und starb im heute türkischen Konya – „Rumi“ bedeutete „aus Ost-Rom“, also Byzanz.

Stolz auf dieses kulturelle Erbe hat die türkische Regierung bei der Unesco ein Gedenkjahr für den Meister durchgesetzt, anlässlich seines 800. Geburtstags. In Konya wurde bereits im Frühjahr ein Rumi-Kongress abgehalten, weitere Veranstaltungen gab und gibt es unter anderem in Istanbul, Paris, Amsterdam, New York, Jakarta, Kairo, Sydney, Damaskus und auf der Frankfurter Buchmesse. Das Werk dieses Mannes, der die Liebe pries und die religiöse Toleranz, der alle orthodoxen islamischen Verbote übertrat und Wein, Leidenschaft und Gesang predigte, wäre heute besser geeignet denn je, als Brücke zwischen Morgen- und Abendland zu dienen. Nur verbiegen es die Islamisten bis zur Unkenntlichkeit. Und im Westen ist es nach wie vor wenig bekannt. Vielleicht weil der Meister das heute so beliebte Klischee des gefährlichen Moslems und des „unreformierbaren“ Islam nicht bedient?

Ausgerechnet dort, wo man die Sprache des auf Persisch schreibenden Dichters spricht, wird er kaum gefeiert. In Kabul gab es eine kleine Konferenz, auf der seine Gedichte rezitiert wurden. Und die Iraner haben wahrscheinlich viel zu viel Angst vor dem subversiven Erbe dieses sinnenfreudigen Rebells und Reformators. Das einzige, was dem Kulturverantwortlichen des iranischen Parlaments einfiel, war der Satz, Maulana sei „ein iranischer Dichter“ gewesen, „und wir sind stolz auf seine Persönlichkeit.“ Maulana Rumi – ein „iranischer Dichter“? In dieser Logik war auch Gandhi ein iranischer Politiker, denn das Persische Reich reichte einst bis Indien. Gegen eine solche nationalistische Denkweise hätte sich der Meister selbst am meisten verwahrt. Bereits im 13. Jahrhundert war er so etwas wie ein Vordenker der Globalisierung wie sein folgendes Gedicht zeigt:

Die Menschheit besteht aus Gliedern eines Körpers / Und sie ist aus einer Essenz gemacht. / Wenn ein Glied durch das Schicksal schmerzt, / Werden andere Glieder keine Ruhe finden ./ Wenn du vom Leid anderer nichts wissen willst, / Bist du nicht berechtigt, dich Mensch zu nennen.

Wer war dieser Meister Rumi? Er stammte aus einer angesehenen Familie im Norden Afghanistans. Seine Mutter soll eine Fürstentochter gewesen sein, sein Vater ein bekannter Prediger und Jurist. 1219, als er zwölf war, fielen die Mongolen unter Dschingis Khan in seine Heimat ein. Sein Vater zog es vor, mit der Familie eine Pilgerfahrt nach Mekka anzutreten. Danach zogen sie weiter Richtung Anatolien und lebten sieben Jahre im heutigen Karaman. Dort starb seine Mutter, ihr Grabmal wurde eine Wallfahrtsstätte. Dort heiratete der Meister 1225, seine Frau gebar ihm zwei Söhne. Dort bot der Sultan dem Vater an, Gelehrter an der Universität von Konya zu werden. Rumi studierte Theologie und übernahm nach seines Vaters Tod im Jahre 1230 dessen Lehrstuhl. Ein Sufimeister führte ihn in die islamische Mystik ein.

Schon damals galt Maulana Rumi als großer Gelehrter, dennoch war sein Leben bis dahin eher unspektakulär verlaufen. Das änderte sich 1244, als er dem um viele Jahre älteren Derwisch Schams-i Tabrisi („Sonne aus Täbris“) begegnete. Die beiden müssen vergessen haben, dass es eine Welt um sie herum gab, so rauschhaft war ihre Liebe, so extraordinär war ihre körperliche und geistige Beziehung. Einige Verse, die Maulana Rumi für seinen Freund Schams dichtete, lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:

Die Teile meines Körpers ergriff der holde Freund / Von mir blieb nur der Name, das andere ist er!

Oder:

Freund mir, Loch mir, schmerzende Liebe mir / Freund bist du, Loch bist du, Hüter mir / Licht bist du, streng bist du, Schatz von Mansur bist du / Paradiesvogel bist du, Es dürstet nach deinem Schnabel mich.

Den Einwohnern Konyas blieb diese nach dem Islam verbotene Liebschaft nicht verborgen. Offenbar wagten sie es nicht, den damals schon berühmten Meister Rumi deshalb anzugreifen. Doch Schams floh nach etwa zwei Jahren aus der Stadt. Eifersucht und Neid der Leute auf ihre Freundschaft, so die offizielle Lesart, seien zu groß geworden. Nach einiger Zeit kehrte Schams zurück, verschwand aber erneut. Womöglich wurde er ermordet, manche behaupten sogar, von Rumis eigenen Söhnen. Sein Sohn beschrieb den Zustand seines Vaters so: „Nach der Trennung war der Scheich wie ein Verrückter. Er hatte früher Gesetze der Scharia gepredigt, nun ist er ein in Liebe versunkener Dichter geworden. Er war ein Frommer, nun ist er ein betrunkener Kneipenwirt. Doch er ist nicht betrunken vom Wein der Trauben, derjenige, der dem Licht Gottes angehört, der trinkt nichts anderes als vom Wein des Göttlichen Lichts.“

Maulana Rumis Sehnsucht nach dem verlorenen Freund war unstillbar, er ersann immer neue Liebesverse, bis ein 1400 Seiten und 1121 Gedichte umfassendes Werk entstanden war: „Diwan-i Schams-i Tabrisi“, der Diwan von Schams. Der Meister, der die Zeilen seinem Schüler in einem Zeitraum von 30 Jahren diktierte, sah in der Liebe die Hauptkraft des Universums, und seine Verse schwelgten geradezu vor mystischer Liebestrunkenheit. Sein Liebster war für ihn die Leiter in den Himmel. Ob er in seinen Zeilen Allah meinte, den Freund oder einen seiner beiden späteren Geliebten, ist kaum zu unterscheiden. Für Rumi selbst hätte in diesem Unterscheiden wohl auch kein Sinn bestanden, denn wie allen Sufis ging es ihm darum, durch Liebe Gott näher zu kommen.

Heutzutage wird darüber peinvoll geschwiegen. Nicht nur orthodoxe Muslime behaupten, seine Liebe zu Schams sei ausschließlich platonisch-geistiger Natur gewesen. Auch die deutsche Orientalistin Annemarie Schimmel, die dem Meister ihr Buch „Rumi – Ich bin Wind und du bist Feuer“ widmete, nannte die Liebe zwischen Rumi und Schams eine „maßlose geistige“. Homosexualität gebe es nicht im Iran, verkündete gerade erst der iranische Präsident Ahmadinedschad. Der iranische Schriftsteller Said Ali Salehi äußerte in einem Interview den „begründeten Verdacht“, Schams könne nur eine Frau gewesen sein. Und sein Dichterkollege Allama Jafari beklagte sich über die „vulgäre Sprache“ Rumis an „mindestens 80 Stellen“. Tatsächlich schrieb Meister Rumi offen und drastisch über Sex. In einem Gedicht beklagte er so die leibliche Not der Sklavinnen, die nur einen Esel zum Begatten hätten.

Der „Diwan“ war nur ein Teil von Rumis Werk. Seine sechs Bände umfassenden Oden, auf Persisch „Masnadwi“, nennen Bewunderer „den Koran in persischer Sprache“. Seine Leser aber warnte der Meister selbstbewusst: „Ich habe ,Masnadwi’ nicht geschrieben, damit du es auf die Schulter hängst wie die Hülle eines Degens, sondern es unter deine Füße stellst und in den Himmel steigst. Denn ,Masnadwi’ ist die vollendete Wahrheit.“

Runde 700 Jahre vor Sartres „Das Sein und das Nichts“ verfasste er für seine Schüler auch eine philosophische Vortragsreihe über das Sein und Nichtsein. Die vergleichsweise rohe Dialektik der griechischen Philosophie entwickelte er so weiter, dass später Hegel zu seinen Bewunderern zählte. Die Dinge, glaubte Rumi, könnten nur durch ihren Gegensatz erkannt werden, und jede Erscheinung trage in sich verborgen ihr Gegenteil. Selbst Schmerz und Leid seien ein Geschenk, sie brächten den Menschen weiter. Auch das folgende Gedicht ist wie ein Vorschein von Hegels späteren Gedanken:

Diese Welt ist durch Widerspruch gefestigt / Schau Dir die Materien an, bis sie sich auflösen / Widerspruch der Natur, Widerspruch des Werdens, Kampf der Heere / Widerspruch zwischen hastigen Passanten / Durch diesen Widerspruch begreif' andere Gegensätze / Winzige Teilchen oben und andere ruhen unten / Besehe dir ihren Kampf des Werdens. / Diese Welt ist ganz ein Widerspruch, wenn du sie dir anschaust / Teilchen gegen Teilchen wie Glaube gegen Unglaube.

Glaube gegen Unglaube – Meister Rumi lebte vor, dass man durch Praktiken, die einem strenggläubigen Muslim verboten waren – Weintrinken, Sinnenfreude, Gesang und Tanz – Gott näherkommen konnte. Er reformierte seine Religion zu einer Zeit, als in der christlichen Kirche an Reformation noch lange nicht zu denken war. Bis heute praktizieren die Sufis des Mevlana-Ordens, was der Meister tat, und bei ihren Tänzen sind auch Frauen beteiligt. Der Hauptsitz der Ordensstiftung liegt in der Türkei, doch der türkische Stolz auf Mevlana ist doppelbödig – Atatürk ließ 1925 sämtliche religiösen Orden und Gruppen verbieten, und erst seit 1954 darf der Tanz der Derwische wieder öffentlich gezeigt werden.

Musik und Tanz seien kein Teufelszeug, hielt Maulana Rumi den Vertretern des orthodoxen Islam entgegen. „Weise Menschen haben gesagt: Diese wunderschönen Töne, diese Melodie haben wir vom Himmel genommen. Die Musikinstrumente, die das Volk spielt und die lieblichen Lieder, die es singt, entspringen der Drehung der Himmelssphäre. Wir waren alle Teile von Adam. Wir haben diese Melodien im Paradies gehört.“ Die Zeilen, die sein „Masnadwi“ einleiten, werden bis heute in Afghanistan gesungen, begleitet vom sehnsuchtsvollen Klang einer Rohrflöte:

Hör auf der Flöte Lied, wie es erzählt / Und wie es klagt, vom Trennungsschmerz gequält: / „Seit man mich aus der Heimat Röhricht schnitt / weint alle Welt bei meinen Klagen mit.“

Alle muslimischen Bücher beginnen mit dem Satz „Im Namen Gottes des Allmächtigen“. Der Meister aber brach als Erster dieses Gesetz, indem er sein „Masnadwi“ mit diesem Flötenlied einleitete, mit seiner Klage um den verlorenen Freund. Für Rumi war der unorthodoxe Umgang mit der Tradition ebenso selbstverständlich wie religiöse Toleranz. „Ehre dem Herrn, dass er uns nicht unter den Christen erschuf“, predigte einmal ein Mullah in der Moschee von Konya. Rumi kommentierte spitzzüngig: „Er ist fehlgeleitet und führt andere fehl. Er wägt sich selbst gegen die Christen ab und ist überheblich, weil er sich vorstellt, ein Gramm schwerer zu sein.“ Und bei einer anderen Gelegenheit: „In dieser Welt gibt es versteckte Leitern, die Schritt für Schritt in den Himmel führen. Jede Gruppe hat eine andere Leiter. Jedes Vorgehen führt zu einem ihm eigenen Himmel.“

Dummheit konnte der Meister am wenigsten leiden. Eine seiner schönsten Geschichten im „Masnedwi“ handelt von Jesus, der auch im Islam als Prophet verehrt wird: „Jesus, Marias Sohn, lief auf die Berge zu, wie wenn er von einem Löwen verfolgt würde. Jemand rannte hinter ihm her und fragte: ,Niemand ist hinter dir her, warum fliehst du wie ein Vogel?’ (...) Jesus sagte: ,Ich fliehe vor dem Dummen. Halte mich nicht auf, so dass ich mich retten kann.’ (...)Darauf sagte der Mann: ,Oh, reine Seele, die so viele Wunder vollbringen kann. Vor wem hast du Angst?’ Jesus sagte: ,Ich sprach des Höchsten Namen über den Blinden, seine Augen öffneten sich. Ich sprach es zum Tauben, seine Ohren hörten wieder. Ich sprach es zum Berge, der wie ein Felsen war, er wurde gespalten. Ich habe es dem Toten gelesen, er wurde lebendig. Doch ich habe es hunderttausend Mal dem dummen Mann vorgelesen, es hat nichts genützt.’"

Anfang Dezember 1273 bebte in Konya die Erde. „Die Erde ist hungrig“, sagte Maulana Rumi. „Bald wird sie einen fetten Brocken bekommen und Ruhe geben.“ Am 17. Dezember starb er. Moslems, Juden und Christen weinten gemeinsam um ihn. Die ganze Stadtbevölkerung begleitete ihn zu seinem Grab – heute Mausoleum, Museum und Wallfahrtsort. Die grüne Kuppel erstrahlt in den Nächten so schön wie Istanbuls Blaue Moschee unter den bunten Scheinwerfern.

Mariam Notten, Ute Scheub

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