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Geschichte: des Ostens Traumschiff

Der Luxusliner fuhr zum Lob des Sozialismus. Doch schon bald durfte die „Fritz Heckert“ keinen Hafen im Westen mehr anlaufen: Viele DDR-Bürger nutzten die Reise zur Flucht. Der Passagier Harald Gümbel war einer von ihnen.

Links ein muskulöser Arbeiter im Karohemd, rechts eine fröhlich winkende Traktoristin mit Kopftuch, in der Mitte drei Worte: Der Sozialismus siegt. Das ist die Kulisse, vor der Walter Ulbricht im Juli 1958 den Aufbruch in die Zukunft verspricht. Der SED-Chef hat zum Parteitag gerufen, und 4000 Genossen sind in eine ehemalige Viehhalle am Prenzlauer Berg gekommen. Fünf Stunden redet Ulbricht am ersten Sitzungstag, fünf Stunden, in denen er verkündet, dass die „Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung“ gegenüber der westlichen Konkurrenz in den nächsten Jahren „eindeutig“ bewiesen werden soll. Die Delegierten klatschen. 4000 Menschen haben in der Woche vor dem Parteitag die DDR verlassen.

Zwei Tage darauf wird der Parteisekretär der Wismarer Mathias-Thesen-Werft aufs Podium geschickt. Das Hemd proletarisch weit geöffnet, schlägt er den Delegierten im Saal und den Menschen draußen im Land vor, was längst beschlossene Sache ist: Der FDGB, die ostdeutsche Einheitsgewerkschaft, soll ein Kreuzfahrtschiff bekommen – ein Urlauberschiff für Arbeiter und Bauern. Ein Schiff, das zeigt, wie gut es den Menschen in der DDR geht, ein sozialistisches Traumschiff.

Für den Chemiestudenten Harald Gümbel aus Leipzig ist der Bau lediglich eine der periodisch wiederkehrenden Propagandaaktionen. Ulbrichts Rede von der Überlegenheit des Sozialismus nimmt der 23-Jährige nicht ernst. „Die ganze Republik hat sich über diese Sprüche amüsiert, geglaubt hat’s niemand“, sagt Gümbel.

Harald Gümbel wohnt heute in der Nähe von Hannover. Draußen riecht es nach Pferden und frisch gemähtem Gras, im Hausflur erinnern Pokale daran, dass Gümbel in jüngeren Jahren ein erfolgreicher Bogenschütze war. Kraft, Konzentration und Körperbeherrschung zeichnen einen guten Bogenschützen aus. Kraft, Konzentration und Körperbeherrschung hat Harald Gümbel gebraucht, damals, als er die DDR verließ. Ausgerechnet das Urlauberschiff, dieses Symbol sozialistischer Zukunftsgewissheit, hat ihm dabei geholfen.

Bald nach dem Parteitag wird in Wismar mit dem Bau des Schiffes begonnen. „Fritz Heckert“ soll es heißen, nach einem kommunistischen Gewerkschaftsführer. Es fehlt an Material, Arbeitskräften und auch an Geld. Doch was sind die Zwänge der Gegenwart gegenüber den Zukunftsentwürfen der Partei. Eine „Solidaritätsaktion“ wird ins Leben gerufen. Junge Pioniere gehen mit Spendenbüchsen von Haus zu Haus, im Radio singen die „Vier Brummers“ ihr Lied vom Urlauberschiff („Unsere Braut ist die See, ich schiffe mit dem FDGB.“) Ein Dresdener Betrieb produziert hunderttausende Modellschiffchen für die Badewannen der Republik – bis die Produktion wegen Kunststoffmangels eingestellt werden muss.

Spenden in Millionenhöhe gehen auf einem Sonderkonto des FDGB ein. Eine Schiffstombola – „jedes 4. Los gewinnt“ – wirbt mit wertvollen Sachpreisen: Fernsehtruhen, Motorrädern und Kühlschränken. Besonders Engagierte nehmen Urlaub, um beim Bau mit anzupacken.

Es werde nicht bei einem Schiff bleiben, kündigt die SED-Führung an. Bis Mitte der 60er Jahre sollen drei weitere „schwimmende Ferienpaläste“ über die Meere schippern. Tatsächlich wird Anfang 1960 ein erstes Schiff in Dienst gestellt – die ehemals schwedische „Stockholm“, die nun unter dem Namen „Völkerfreundschaft“ mit FDGB-Urlaubern nach Ägypten und Griechenland fährt. Im April 1961 ist auch die „Fritz Heckert“ klar zur ersten Reise. „Dieses herrliche Schiff zeugt vom kühnen Vorwärtsschreiten der Werktätigen unserer Republik auf dem Wege zum Sieg des Sozialismus, zu Wohlstand, Glück und Frieden“, heißt es bei der Übergabe.

Trotz aller Jubelreden ist der angebliche Luxusliner ein eher schlichtes Schiff. Viele Passagiere müssen mit Vierbettkabinen vorliebnehmen, ein eigenes Bad hat keine der Kabinen. Bei bewegter See gerät der „weiße Schwan der Ostsee“ zudem schnell ins Schwanken, denn auf Stabilisatoren wurde aus Kostengründen verzichtet. Dafür besitzt die „Fritz Heckert“ als erstes Passagierschiff der Welt einen Freikolbengasturbinenantrieb. Die hochmoderne Technik ist so kompliziert wie ihr Name. Ausgerechnet die in der Bundesrepublik gekauften Gaserzeuger versagen immer wieder. Zudem macht die Anlage einen solchen Lärm, dass in einigen Kabinen gesundheitsschädliche Schallpegel erreicht werden.

Die meisten Passagiere sind trotzdem zufrieden. Für viele ist es die erste Auslandsreise überhaupt. Sie genießen die einfallsreiche Küche und den aufmerksamen Service – beides keine Selbstverständlichkeiten im Land der Bückware und Sättigungsbeilagen.

Auf dem Festland hat sich indes die Zukunft weniger rosig entwickelt als von Ulbricht vorhergesagt. Nach der im Eiltempo erzwungenen Kollektivierung der Landwirtschaft fehlen in den Geschäften selbst einfache Grundnahrungsmittel. Im Sommer 1961 erreicht der Flüchtlingsstrom einen neuen Höchststand.

Auch Harald Gümbel will in den Westen. Er hat sein Studium beendet und arbeitet inzwischen in einem chemischen Forschungsinstitut in Radebeul. Die Arbeit im Institut bereitet ihm Unbehagen. „Dauernd wurde man gezwungen, etwas anderes zu sagen, als man denkt. Man musste hohle Sprüche klopfen und hatte keine Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen“, erinnert er sich. Nur die Promotion will er noch zu Ende bringen.

Doch am 13. August 1961 lässt Ulbricht die Berliner Sektorengrenze schließen. Der Ausweg in den Westen ist abgeschnitten. „Mein erster Gedanke war: Scheiße, der ganze Plan ist kaputt.“ Er macht sich Vorwürfe. „Wie viele Freunde, ehemalige Klassenkameraden waren denn schon im Westen. Die haben nicht gewartet, die haben das Diplom gemacht oder nicht mal das, und sind dann gleich gegangen.“

Bald gibt es die ersten Toten an der innerdeutschen Grenze. Mit jedem Tag werden die Sperranlagen ein Stück weiter ausgebaut. Die meisten Menschen in der DDR arrangieren sich mit dem, was sie nicht ändern können – zumal sich die wirtschaftliche Lage allmählich bessert.

Gümbel will kein erzwungenes Arrangement. In Prag und Budapest sondiert er die Lage an den westlichen Botschaften. In Sassnitz schaut er sich am Anleger der Schwedenfähre um. Aber die Schlupflöcher in den Westen sind gut gesichert.

Im Sommer 1964 – inzwischen ist er promoviert – findet er endlich, wonach er sucht: Im Reisebüro am Leipziger Markt bucht er eine Einzelkabine auf der „Fritz Heckert“. Die Fahrt soll ohne Zwischenhalt von Rostock durchs Mittelmeer in den rumänischen Schwarzmeerhafen Constanza gehen. Nachdem Anfang 1962 insgesamt 26 Passagiere und Besatzungsmitglieder in Nordafrika nicht vom Landgang zurückkehrten, darf das Urlauberschiff nicht mehr im Westen anlegen.

Gümbel bereitet sich sorgfältig auf die Reise vor. Er geht ins Radebeuler Freibad, um vom Fünfmeterbrett zu springen. „Das hatte ich nicht drauf als Kind. Da habe ich so lange trainiert, bis ich es ohne größere Angst geschafft habe. Ich wollte ja über Bord.“ Die „Fritz Heckert“ soll sein Sprungbrett in den Westen werden.

Am 26. September 1964 schifft er sich im Rostocker Hafen ein. Eine Passkontrolleinheit der Staatssicherheit inspiziert das Gepäck. Die Uniformierten suchen nach verdächtigen Gegenständen: Seekarten, Wäscheleinen, Schwimmflossen. Die Mannschaft durchsucht das Schiff nach blinden Passagieren. Kapitän, Politoffizier und Parteisekretär haben einen „Maßnahmeplan“ entworfen. An neuralgischen Punkten sollen zuverlässige Besatzungsmitglieder die Reling bewachen, ein Rettungsboot wird klargemacht. Eigentlich ist die Route der „Fritz Heckert“ eine Abfolge von neuralgischen Punkten. Ob im Fehmarn-Belt, der Straße von Messina oder im Bosporus – immer wieder war es zu „Absprüngen“ gekommen.

Die Bordkappelle spielt „Muss i' denn zum Städtele hinaus“, dann geht es an der Mole von Warnemünde vorbei hinaus in die Ostsee. Die Passagiere werfen einen ersten Blick auf die westliche Welt. „Dänemark, Langeland, da habe ich große Augen gemacht. Da konnte man hinspucken“, erinnert Harald Gümbel sich.

Am dritten Reisetag feiert er seinen 30. Geburtstag. Das Wetter ist schlecht, viele Passagiere liegen seekrank in ihren Kojen. Gümbel verhält sich unauffällig, politische Gespräche vermeidet er.

Gibraltar kommt in Sicht, der Kapitän will den Urlaubern eine kleine Abwechslung bieten. Die „Fritz Heckert“ läuft die marokkanische Hafenstadt Tanger an. Bis auf 400 Meter nähert sich das Schiff der Kaimauer. Hafenanlagen, Wohnhäuser und der Turm der großen Moschee sind klar zu erkennen. Die Passagiere stehen an der Reling und fotografieren.

Auch Harald Gümbel ist an Deck, unter der Kleidung trägt er eine Badehose, bereit zum Sprung. Er tut es nicht – zu groß scheint ihm die Gefahr, dass man ihn gewaltsam an Bord zurückholen könnte. Was er vorhat, ist nach den Gesetzen der DDR eine Straftat.

Tanger verschwindet im Dunst. Eine Gelegenheit hat Gümbel verpasst; wann wird die nächste kommen? Er studiert die im Gang aufgehängte Seekarte mit der Reiseroute. Bei Dellys, einem kleinen Hafenort in Algerien, würde sich das Schiff der Küste nähern, „obwohl das auch noch viele Seemeilen waren.“

Am frühen Morgen des 5. Oktober 1964 schraubt er das Bullauge seiner Kammer auf. Fünf Meter unter ihm liegt die Wasseroberfläche. Gümbel wirft eine Pralinenpackung, die vom Geburtstag übrig geblieben ist, über Bord. Er will sehen, wie die Strömung verläuft, denn er hat Angst, in die Schrauben gezogen zu werden. Dann zwängt er sich durch das Bullauge und springt ins nächtliche Mittelmeer. Er trägt eine Badehose und seine auf Mikrofilm kopierte und wasserdicht verpackte Promotionsurkunde bei sich.

Harald Gümbel legt den großen Weltatlas auf den Wohnzimmertisch. Über zwei Seiten erstreckt sich das Mittelmeer. Er tippt auf eine Stelle, kein Fingerbreit vom Festland entfernt.

„Das waren kritische Minuten, in denen ich Angst hatte“, erinnert er sich. Was, wenn man ihn in letzter Sekunde entdeckt? Hier auf dem offenen Meer ist es für die Mannschaft ein Leichtes, den Flüchtling einzufangen. Doch das Stampfen der Motoren wird leiser, das Grün des Steuerbordlichts verglimmt. Die „Fritz Heckert“ zieht ohne ihn weiter. Niemand hat seine Flucht bemerkt. Noch ist es dunkel, nur ein Leuchtturm schickt seine Blitze über die See. „Es war sehr weit weg. Aber es gab immer einen Orientierungspunkt. Und als es dann hell wurde, da habe ich schon die Küstenlinie gesehen.“

Er hofft vergeblich auf ein Fischerboot. Ein Fingerbreit auf der Karte sind zehn Kilometer auf dem Meer. Mit Kraft, Konzentration und Körperbeherrschung schwimmt Harald Gümbel Kilometer um Kilometer durch die bewegte See. Nach sechs Stunden wirft er sich völlig erschöpft auf den Strand. Er hat wunde Stellen am Körper, rote Augen vom Salzwasser, Durst. „Aber der Gedanke – es hat geklappt – hat alles überstrahlt“, erzählt er. Er ist in Algerien.

Am Abend liest ihn die Gendarmerie auf. Für sie ist er ein Schiffbrüchiger, kein Flüchtling. Im Magazin der Polizei bekommt er Kleidung. „Für meine Körpergröße, ich bin 1,90 groß, hatten sie nur Hochwasserhosen.“ Am nächsten Tag wird Gümbel in Algier von Interpol verhört und dann ins Gefängnis gebracht. „Offiziell hat Interpol mir gesagt, dass ich illegal eingereist wäre, was irgendwo auch stimmte.“ Die Begrüßung auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs hatte er sich etwas herzlicher vorgestellt.

In Ost-Berlin feiert die SED-Führung den 15. „Republikgeburtstag“, in Tokio beginnen die Olympischen Spiele, in Moskau wird Nikita Chruschtschow von Breschnew entmachtet. Und Harald Gümbel sitzt fest im Niemandsland zwischen Ost und West. Als seine Wunden sich entzünden, kommt er in ein Krankenhaus. Endlich wird die Bundesdeutsche Botschaft auf ihn aufmerksam. Ein Feldwebel befragt ihn, dann bekommt er Fahrgeld und einen Reisepass. Ein Flugzeug bringt ihn nach Marseille, dann geht es weiter mit dem Zug bis nach Gießen, ins Notaufnahmelager – alles in den Hochwasserhosen, die ihm die algerischen Polizisten überließen. „Die Passagiere im Zug haben mich dumm angeguckt, aber mir war das egal. Hauptsache ich war angezogen.“ Fast einen Monat hat seine Reise von Ost- nach Westdeutschland gedauert.

In Gießen trifft er weitere Schiffsflüchtlinge, junge Männer wie er selbst, die sich mit einem kühnen Sprung von ihrem Leben in der DDR verabschiedet haben. Harald Gümbels Flucht ist besonders spektakulär, aber kein Einzelfall. Die Ost-Berliner Führung ist beunruhigt. „Die Vorfälle schädigen das Ansehen unserer Republik sowohl bei unseren eigenen Bürgern als auch im Ausland“, notieren Mitarbeiter des ZK der SED im November 1964. Die „Fritz Heckert“ demonstriert nicht die Überlegenheit des Sozialismus, sondern die moralische Krise, in der sich die DDR seit dem Mauerbau befindet.

Ende 1964 werden die Mittelmeerreisen vorerst eingestellt. Die Pläne für den Ausbau der Kreuzfahrtflotte sind schon nach dem Mauerbau stillschweigend zu den Akten gelegt worden.

Die „Fritz Heckert“ fährt noch sechs weitere Jahre nach Murmansk und Leningrad. Überall nagt der Rost, der Gasturbinenantrieb funktioniert immer noch nicht richtig, und was Ende der fünfziger Jahre als modern galt, ist mittlerweile gründlich verschlissen. Millionen wären nötig, um das Schiff auf Vordermann zu bringen. 1970 wird die „Fritz Heckert“ auf Anweisung der SED-Zentrale aus dem Verkehr gezogen. Mehr als 20 Jahre liegt der „weiße Schwan der Ostsee“ fest vertäut als Arbeiterwohnheim im Hafen von Stralsund, kurz vor der Jahrtausendwende wird das Schiff schließlich nach Indien geschleppt. Was von der großen Idee noch übrig war, ist dort mit Schneidbrennern zerlegt und eingeschmolzen worden.

Der Autor ist Historiker und promoviert über Seereisen in der DDR.

Andreas Stirn

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