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Gleichberechtigung: Klassenhass in Arkansas

Es geschah in Little Rock, Arkansas: Neun schwarze Schüler wollen in eine Schule, die 1957 immer noch Weißen vorbehalten ist. Fallschirmjäger erzwingen ihnen den Zutritt.

Melba wollte so gerne einmal auf dem Karussell mit den bunten Holzpferden fahren, das sie im Fair Park von Little Rock in Arkansas gesehen hatte. Warum ihre Mutter sie wegzog, verstand die Fünfjährige nicht. Bis es ihr beim nächsten Besuch auf dem Rummelplatz gelang, in einem unbeobachteten Moment zum Objekt ihrer Träume zu rennen. „Da ist kein Platz für dich“, sagte der Karussellbesitzer, als die Kleine ihm ihre fünf Cent hinhielt. Und dann brüllte er sie an: „Du gehörst hier nicht hin, Niggerbalg.“

Die Szene aus dem Jahr 1947 wurde die erste bewusste Begegnung des Mädchens mit der Rassentrennung in den Südstaaten der USA. Denn das Karussell stand in jenem Teil des Parks, der weißen Bürgern vorbehalten war. Zehn Jahre später stand Melba Pattillo mit acht anderen schwarzen Schülern im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung, die bis heute als Meilenstein im Kampf um die Gleichberechtigung in den USA gilt.

Erst im Mai 1954 hatte das Oberste Bundesgericht die sogenannte Rassensegregation an öffentlichen Schulen für verfassungswidrig erklärt. Dies traf die Mehrheit der weißen Bevölkerung in den Südstaaten wie ein Schock. Denn die hatte die strikte Rassentrennung bis dahin als ihr selbstverständliches Recht betrachtet. 30 Jahre nach dem Ende der Sklaverei hatte das höchste Gericht 1896 den im Bürgerkrieg unterlegenen Südstaaten die Praktizierung der Rassensegregation gestattet, sofern diese sich am Prinzip „getrennt, aber gleich“ orientiere. Bis 1954 änderte sich daran nichts.

Segregation, das hieß nach „weiß“ und „farbig“ getrennte Schulen, Restaurants, Hotels, Toiletten, Parkanlagen und Kirchengemeinden. Schwarze durften nur die öffentlichen Sitzbänke und Trinkbrunnen benutzen, an denen eine Plakette mit der Aufschrift „colored“ prangte, in Bussen durften sie nur im hinteren Teil sitzen und mussten im Bedarfsfall ihren Platz einem weißen Fahrgast überlassen. Nur für schwarze Bürger geltende Schreibtests und eine spezielle „Wahlsteuer“ schlossen den überwiegenden Teil der diskriminierten Minderheit von der Teilnahme an Wahlen aus. Ihren krassesten Ausdruck fand der Rassismus in Fällen von Lynchjustiz, bei denen die Täter nur selten zur Verantwortung gezogen wurden. Melba Pattillo schreibt in ihren Erinnerungen, „selbst wenn der Ku-Klux-Klan unsere Häuser verwüstete, würden wir die Polizei nicht um Hilfe rufen. Keiner von uns war sich sicher, welche unserer Staatsbediensteten am Tag Uniformen trugen und bei Nacht Kapuzen.“

Auf das Urteil von 1954 hin formierten sich vielerorts weiße Bürgerkomitees gegen die Einrichtung gemischter Schulklassen. Doch nirgendwo nahmen die Auseinandersetzungen solch dramatische Formen an wie in Little Rock.

In der Hauptstadt von Arkansas war damals jeder dritte der rund 110 000 Einwohner dunkelhäutig. Im Schuljahr 1957/58 sollte dort in einem ersten Schritt eine Gruppe von 17 schwarzen Schülern in die höheren Klassen der bis dahin allein weißen Schülern vorbehaltenen Central High School integriert werden. Aber 85 Prozent der Weißen hatten sich in einer Umfrage gegen gemeinsame Schulen für Schwarze und Weiße ausgesprochen. Orval Faubus, Gouverneur von Arkansas, strebte für das kommende Jahr seine Wiederwahl an. Faubus, der bis dahin nicht als Hardliner aufgefallen war, versuchte nun, sich als konsequenter Gegner der Integration zu profilieren.

Kurz vor Schulbeginn teilte das Schulamt den Eltern der schwarzen Schüler mit, dass diese nicht an Gemeinschaftsaktivitäten wie Sport oder Chor teilnehmen dürften. Zunächst ließen sich die 17 Jugendlichen und ihre Eltern nicht beirren, erst nach verbalen Attacken und anonymen Anrufen gaben einige auf. Auch Freunde und Verwandte missbilligten das Vorhaben, fürchteten eine Verschlechterung des sozialen Klimas in der Stadt. Schließlich verblieben sechs Mädchen und drei Jungen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren, unter ihnen Melba Pattillo. Sie wollten Anfang September den Unterricht an der Central High aufnehmen, wo damals rund 2000 weiße Kinder eingeschrieben waren.

Am Vorabend des offiziellen Schulbeginns hatte Gouverneur Faubus die Nationalgarde an die Central High School beordert, weil es kaum möglich sei, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, wenn den Schulen „die Integration aufgezwungen“ werde. Am 4. September 1957 stießen die neun schwarzen Schüler vor der Schule nicht nur auf 300 bewaffnete Nationalgardisten, sondern auch auf rund 500 weiße Bürger, die lautstark ihren Hass auf die Schulintegration herausschrien.

Die Nationalgarde, eine im jeweiligen Bundesstaat aus Freiwilligen rekrutierte und den Gouverneuren unterstehende Miliz, hatte Order, den schwarzen Teenagern den Zutritt zur Schule zu verwehren. Am schlimmsten traf es die 15-jährige Elizabeth Eckford, die alleine an der Schule angekommen war: vor ihr eine Kette Nationalgardisten, die jeweils zusammenrückten, wenn sie eine Lücke passieren wollte, hinter ihr eine aufgebrachte Menschenmenge, die unaufhörlich Schmähungen rief: „Geh nach Hause Niggerin!“, tönte es ihr entgegen, „Nigger sind nur zum Hängen gut!“ oder „Wir werden niemals integrieren!“ Mithilfe zweier Weißer wurde sie schließlich in einem Bus in Sicherheit gebracht.

Melba Pattillo und ihre Mutter mussten auf ihrem Rückweg von der Schule vor vier Männern flüchten, von denen einer einen Strick schwang. Die anderen sieben schwarzen Teenager waren zusammen und in Begleitung mehrerer Pfarrer zur Schule gekommen, in das Gebäude hinein gelangten auch sie nicht.

Die Eltern verzichteten an den folgenden Tagen darauf, die neun Kinder erneut zur Schule zu schicken. Denn fortwährend gingen anonyme Drohungen ein; das Haus der Familie von Melba Pattillo wurde von Heckenschützen beschossen. Im Stadtgebiet kam es zu zahlreichen Gewalttaten gegen schwarze Bürger.

Während die lokale Schulbehörde versuchte, vor Gericht eine Aussetzung des Integrationsplans zu erreichen, forderte der Präsident der USA, Dwight D. Eisenhower, den Gouverneur von Arkansas auf, den Vorgaben der Bundesbehörden Folge zu leisten. Doch Faubus machte keine Anstalten zum Abzug der Nationalgarde. Eine Wende brachte dann das Bundesbezirksgericht. Hatte Faubus bislang behauptet, die „verfrühte“ Schulintegration sei Auslöser der Gewalt, warf Richter Ronald Davies dem Gouverneur nun vor, durch die Entsendung der Nationalgarde den Integrationsplan hintertrieben und Gewalthandlungen begünstigt zu haben. Der bald als „Niggerfreund“ diffamierte Davies ordnete eine umgehende Fortsetzung der Integration an. Faubus kündigte Revision gegen das Urteil an, zog aber die Nationalgarde zurück.

Am Montag, dem 23. September, betraten die neun schwarzen Schüler zum ersten Mal die Central High School, allerdings durch einen Seiteneingang, weil sich vor dem Hauptportal rund 1000 Integrationsgegner eingefunden hatten, die rassistische Parolen skandierten. Im Direktorat erfuhren die neuen Schüler, welchen Klassen sie zugeteilt worden waren; unter den Gleichaltrigen gab es keine zwei, die dieselbe Klasse besuchten.

Schon auf dem ersten Weg zu ihrem Klassenraum wurde die 15-jährige Melba Pattillo beschimpft, bespuckt und geschlagen. Im Klassenraum setzten sich weiße Schüler von ihr weg, von der Lehrerin wurde sie ignoriert. Inzwischen hatte der weiße Mob vor dem Eingang erfahren, dass sich die schwarzen Schüler im Gebäude befanden, und schickte sich an, die Schule zu stürmen. Einige der Polizisten vor dem Gebäude schlossen sich der in das Hauptportal drängenden Menge an. Anderen gelang es, die schwarzen Schüler über die Tiefgarage mit Dienstfahrzeugen in Sicherheit zu bringen.

Am gleichen Tag erhob der Bürgermeister von Little Rock schwere Anschuldigungen: Die Ausschreitungen seien das Werk von Agitatoren, die im Einverständnis von Faubus handelten. Einen Tag später bat der Bürgermeister Präsident Eisenhower um die sofortige Entsendung von Militäreinheiten, weil sich die Menge vor der Central High School äußerst gewaltbereit zeige, viele Personen trügen Waffen. Am Abend des 24. September trafen 1200 Fallschirmjäger des 101. Luftlandebataillons in Little Rock ein. Es war das erste Mal seit dem Bürgerkrieg 90 Jahre zuvor, dass US-Militär in einem früheren Mitgliedstaat der Konföderierten zum Einsatz kam. Gouverneur Faubus sprach denn auch von Besatzungstruppen.

Eisenhower, nicht gerade als Vorkämpfer der Rassenintegration bekannt, ging es bei dieser Entscheidung in erster Linie um die Durchsetzung seiner Autorität sowie des Bundesrechts. Aber er war auch bereit, in der Integrationspolitik weiter zu gehen als jeder Präsident vor ihm.

Am nächsten Morgen wurden die neun schwarzen Schüler mit einem militärischen Konvoi zur Schule gebracht. Die Central High war von einem dichten Kordon von Soldaten umstellt, der die erneut in großer Zahl anwesenden Integrationsgegner in Schach hielt. Ein Trupp geleitete die schwarzen Teenager unter den Schmährufen weißer Schüler ins Gebäude. Jedem der neun wurde ein Soldat als Begleitschutz zugeteilt. Die persönlichen Wachen durften allerdings die Klassenzimmer sowie die Umkleide- und Toilettenräume nicht betreten.

Zwar gelangten die schwarzen Schüler nun sicher von ihren Wohnhäusern zur Schule, innerhalb der Central High School blieben sie aber ständigen Übergriffen ausgesetzt. In gewisser Weise begann die eigentliche Leidensgeschichte der neun erst mit deren regelmäßiger Teilnahme am Unterricht. Die Schilderungen Melba Pattillos, die als Einzige der Gruppe ein Buch über ihre Zeit an der Central High geschrieben hat, stellen ein bedrückendes Zeugnis von erlittener Intoleranz dar, aber auch von großem Mut.

Die Teenager wurden angerempelt, Treppen hinuntergestoßen, geschlagen und mit Füßen getreten. Melba Pattillo schloss man in eine Toilettenkabine ein, in die von oben brennendes Papier geworfen wurde. Und nur dem raschen Handeln des Begleitsoldaten war es zu verdanken, dass sie infolge einer Säureattacke nicht ihr Augenlicht verlor.

Die Soldaten durften nicht direkt gegen die Angreifer vorgehen. Nur in seltenen Fällen versuchten Lehrer einzuschreiten, einige derer, die es taten, wurden selbst bedroht. Auch Schüler, die die neun Schwarzen zu akzeptieren schienen, sahen sich bald dem Druck ihrer Klassenkameraden ausgesetzt.

Die Situation verschlechterte sich, als Ende Oktober die Fallschirmjäger abgezogen wurden und an ihre Stelle wieder die Nationalgarde trat. Die Gardisten ließen weiße Rowdys oft gewähren. Eine der schwarzen Schülerinnen wurde dagegen im Dezember eine Woche vom Unterricht suspendiert, nachdem sie in der Cafeteria zweien ihrer Peiniger den Inhalt ihres Tellers über den Kopf geschüttet hatte. Zwei Monate später beschimpfte sie nach neuerlichen Belästigungen eine der Beteiligten als „weißen Müll“ und wurde von der Schule verwiesen. Kurz darauf sah man in der Stadt Flugblätter mit der Aufschrift „Einen Nigger sind wir los, jetzt sind es nur noch acht“.

Mehrmals musste die Central High aufgrund von Bombendrohungen geräumt werden. Auf die Häuser prominenter Schwarzer wurden Anschläge verübt. Gleichzeitig nahmen die Sympathiebekundungen für die „Little Rock Nine“ in Bundesstaaten ohne Rassensegregation stetig zu. Fremde riefen an und wünschten alles Gute, aus ganz Amerika trafen Protestbriefe bei der Schulverwaltung ein.

Die Behörden beantragten erneut einen Aufschub der Integration und begründeten dies ausgerechnet mit den Vorfällen in Little Rock. Parallel dazu gelang es den acht verbliebenen schwarzen Schülern trotz aller Widerstände, das Schuljahr erfolgreich zu beenden. Ende Mai erhielt Ernest Green, der als Einziger der Gruppe die höchste Klasse besucht hatte, als erster nichtweißer Schüler ein Abschlusszeugnis der Central High School. An der Abschlussfeier, die unter massiven Sicherheitsvorkehrungen stattfand, durften die anderen schwarzen Schüler nicht teilnehmen. Melba Pattillo schreibt dazu: „Ernie wurde von der Polizei aus dem Stadion zu einem wartenden Taxi eskortiert, mit dem er, seine Familie und ihr Gast abfuhren. In der Zeitung stand, Ernies Diplom habe die Steuerzahler eine halbe Million Dollar gekostet. Natürlich wussten wir, dass es uns alle viel, viel mehr als das gekostet hatte. (…) Die körperliche und seelische Qual, die wir erlitten, beeinflusste unser aller Leben zutiefst. Es machte uns zu Kämpferinnen und Kämpfern, die trotz unerträglichem Schmerz nicht zu weinen wagten.“ Der von Melba Pattillo erwähnte Gast war der junge Martin Luther King.

Der Gouverneur setzte sich mit seinem Antrag auf Aufschub nicht durch, dafür blieben im Schuljahr 1958/59 sämtliche High Schools in Little Rock geschlossen. Dies lasteten viele betroffene Familien den Eltern der schwarzen Schüler an, von denen einige ihre Jobs verloren. Im Sommer 1959 erklärte das Oberste Gericht der USA die Schließung für verfassungswidrig. Nur zwei der „Little Rock Nine“ setzten ihre Ausbildung an der Central High fort, die Familien der anderen hatten die Stadt verlassen oder ihre Kinder in andere Bundesstaaten geschickt.

Melba Pattillo erwarb ihren High- School-Abschluss in Kalifornien. Sie arbeitete später ebenso wie die von der Schule verwiesene Minnijean Brown als Journalistin. Thelma Mothershed wurde Lehrerin, Carlotta Walls gründete eine Immobilienfirma. Ernest Green studierte Soziologie und bekleidete unter Präsident Carter einen hohen Regierungsposten, Jefferson Thomas wirkte als Professor für Psychologie in Los Angeles. Vier der Neun von Little Rock sind mit Weißen verheiratet. Elizabeth Eckford ist die Einzige, die nach wie vor in Little Rock lebt.

Orval Faubus wurde 1958 wiedergewählt und blieb bis 1967 Gouverneur von Arkansas. Bill Clinton, der bekannteste seiner Nachfolger in diesem Amt, ehrte die neun von Little Rock 1987 als Gouverneur und zehn Jahre später als Präsident in einem offiziellen Festakt am Ort des Geschehens; auch 2007 leitete er die Veranstaltung zum 50-jährigen Gedenktag.

An der Central High sind weiße Schüler mittlerweile mit 48 Prozent in der Minderheit. Dies ist allerdings kaum repräsentativ, weil heute der durchschnittliche weiße Schüler in den USA eine Schule besucht, deren Schüler zu 80 Prozent Weiße sind, während drei Viertel der schwarzen Schüler in Schulen unterrichtet werden, die mehrheitlich von Schwarzen und Latinos besucht werden.

Karl-Dieter Hoffmann

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