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Grass

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Günter Grass: Sein Sirenengesang

Günter Grass hat uns Nachkriegsdeutschen die Weltliteratur gebracht und das Lied von der Demokratie gespielt. Wie kein anderer. Nun wird er 80.

Ein Hai im Sardinentümpel. Oder profaner gesagt: der erste deutsche Weltstar nach 1945. Zu einer Zeit, als Romy Schneider für die meisten noch Sissi war und man die deutschen Fußballhelden von ’54 so richtig bloß in der Pfalz oder in Essen kannte. Hier nun war einer, der zum Titelhelden des amerikanischen „Time Magazine“ taugte und zum Schwarm japanischer Studentinnen. Als der Hai indes noch ein sehr kleiner, unbekannter Fisch war, ist er ein bisschen im braunen Tümpel mitgeschwommen. Aus Angstlust und Dummheit. Erst als alter Hai hat er ein schlammiges Detail aus der Frühzeit bekannt. Vor einem Jahr. Aber seine Geschichte ist doch eine andere. Größere.

Dieser Günter Grass tauchte im Leben, im nicht nur literarischen Leben Nachkriegsdeutschlands auf wie ein Naturereignis. Jäh, trotz allererster Anerkennung schon bei Treffen der Gruppe 47, kohleäugig, schwarzschnauzbärtig, in fabulösen Zungen redend, himmeltiefen Tönen schreibend. Einer, der mit den Wörtern tanzte und ebenso gern mit den Frauen, selbst wenn sie oft einen halben Kopf größer waren. Dieser Feger, umwerfend, verführerisch, auch für seine Verleger.

Ein Naturereignis, doch das einer Kunst- und Künstlernatur. Mit der Ankunft des gerade gut dreißigjährigen Günter Grass sah die eigentlich viel jüngere Bundesrepublik plötzlich altbacken aus. Das historisch geschlagene, sich eben aufrappelnde Adenauer-Halbland hatte trotz begonnenem Fernsehen und Erhards Wirtschaftswunder bis zum Ende der fünfziger Jahre an alltagskultureller Weltöffnung noch nicht so viel erlebt: wenig über den von amerikanischen GIs importierten Keller-Jazz, das Fußballmirakel von Bern, die erste Rock-’n’-Roll-Welle und die ersten Adriareisen hinaus. Doch, halt: Es gab natürlich wieder die von den Nazis vertriebenen, verfemten Künstler. Vor allem ihre Bücher oder Stücke – und überhaupt wieder: die Weltliteratur, von Thomas Mann bis Brecht, von Hemingway bis Sartre.

Es gab zudem schon Heinrich Böll. Oder Wolfgang Koeppen. Mit Büchern wie „Haus ohne Hüter“ oder „Der Tod in Rom“, beide 1954 erschienen, die vom Schatten der NS-Zeit, vom Nachkrieg und belasteten Neuanfang erzählten. Keine provinziellen Bücher. Sehr deutsche Chosen. Aber als 1959 die über 700-seitige „Blechtrommel“ erschien, war das grassklar Weltliteratur. Mit am schnellsten und hellsten brachte der noch zwei Jahre jüngere Hans Magnus Enzensberger das Ereignis G. G. & „ Blechtrommel“ auf den Begriff.

Im November 1959 sagte Enzensberger, der zuvor mit seinem Gedichtband „Die Verteidigung der Wölfe“ selber furios debütiert hatte, im Süddeutschen Rundfunk: „Dieser Mann ist ein Störenfried, ein Hai im Sardinentümpel, ein wilder Einzelgänger in unserer domestizierten Literatur, und sein Buch ist ein Brocken, wie Döblins Berlin Alexanderplatz, wie Brechts Baal, an dem Rezensenten und Philologen mindestens ein Jahrzehnt lang zu würgen haben, bis es reif zur Kanonisierung oder zur Aufbewahrung im Schauhaus der Literaturgeschichte ist.“

Kanonisiert ist die „Blechtrommel“ längst. Sie wurde weit über drei Millionen Mal in 24 Sprachen verkauft, und ihre Verfilmung durch Volker Schlöndorff hat 1979 die Goldene Palme in Cannes gewonnen und 1980 einem deutschen Regisseur zum ersten Mal nach dem Krieg einen Oscar beschert. 1959 das Buch, zwanzig Jahre später der Film, vierzig Jahre später der Literaturnobelpreis. Genau 70 Jahre nach Thomas Mann, der 1929 gleichfalls für seinen Erstling, „Die Buddenbrooks“, den höchsten Lorbeer erhalten hatte.

Um bei den Zahlen zu bleiben. Als legendär gewordene Anfangsszene der „Blechtrommel“ gilt die Schilderung eines herbstlichen Kartoffelfeuers, fern im deutsch-polnischen Osten. Eine Szene, bei der durchaus subtil, weil subkutan unter nicht sieben, doch immerhin fünf Röcken der Vater des zwerghaften Romanhelden gezeugt wird. „Meine Großmutter Anna Bronski saß an einem späten Oktobernachmittag in ihren Röcken am Rande eines Kartoffelackers.“ Das ist der Anfang der Saga. Und dann verrät der Erzähler: „Man schrieb das Jahr neunundneunzig, sie saß im Herzen der Kaschubei …“

Grassens reale Mutter entstammte einer kaschubischen Familie. Die Szene spielt 1899 im Oktober. Exakt einhundert Jahre später, im Oktober 1999, wird Grass als neuer Nobelpreisträger gefeiert. Und diesen Oktober, nächste Woche, hat er seinen 80. Geburtstag. Im Fernsehen, bei Tagungen, auf vielen Wellen und Seiten haben die Grass-Festspiele schon begonnen. So gilt trotz aller Debatten ums spätere Werk, um seine zeitkritischen Einwürfe oder um die sechs Jahrzehnte währende Ausflucht vorm Eingeständnis der jugendlichen Waffen-SS-Episode: G. G. ist ein Glückskind geblieben. Sein Geburtshaus in Danzig – die Familie hat neben ihrem Kurzwarenladen in zwei Zimmern gelebt – leuchtet heute schmal, aber weiß unter allen grauschäbigen Mauern der Straße hervor: Hausnummer 13, überm Eingang eine Gedenktafel. Dazu passt, dass Grass später auch in Berlin, als Erfolgreicher schon, im Dichterviertel Friedenau in der Niedstraße 13 gewohnt hat. Keine Pechzahl. Der ungläubige Katholik hatte immer seine Glücksmarie.

Auf dem kaschubischen Kartoffelacker fängt alles, fast alles an. Genau genommen aber beginnt der Roman des Blechtrommlers Oskar Matzerath, der die Fähigkeit besitzt, Glas zu zersingen, schon drei Seiten vorher mit dem Satz: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt …“ Ein Krüppel, vielleicht gar ein Wahnsinniger ist der Erzähler.

Bereits das war im Sardinentümpelland und in der, sagen wir: nachkriegsdeutschen mitteltollen Karpfen- und Hechtliteratur eine sensationell bizarre Perspektive. Und weil es da gelegentlich auch so etwas wie richtigen Krüppelsex gibt, haben die Moralhüter sogleich aufgeschrien, wollte Bremen dem vermeintlich Obszönen schon 1960 den ersten großen Literaturpreis wieder aberkennen, und in den USA gab es noch 1997 Aufregung in Oklahoma, weil der alte „Blechtrommel“-Film womöglich den Oralverkehr eines Minderjährigen (des elfjährigen Oskars) angedeutet habe.

Das alles klingt heute eher lächerlich und liest sich, genau wie die berühmt gewordene Onanierszene der Schuljungen auf den Sommerplanken der Danziger Bucht in Grassens folgender Novelle „Katz und Maus“ erstaunlich harmlos. Fast schon keusch. Aber 1961 wollte ein hessischer Minister für Volkswohlfahrt (so hieß der noch) den pommerschen Hauch eines Frühlings Erwachens als harte „Pornographie“ indiziert sehen.

Als Heinrich Böll vor jetzt 35 Jahren, im Herbst 1972, den Literaturnobelpreis erhielt, war das eine Überraschung. Für Grass, der dem Kollegen sofort herzlich gratulierte, war die Nachricht im Inneren peinvoll. Doch Böll war genau zehn Jahre älter, da bestand für den ehrgeizig zähen G. G. nach einer nun stark verlängerten Geduldsprobe noch Hoffnung. Apropos Böll: Der große und im Lichte der Weltliteratur doch kleinere Antipode war Rheinländer. Westkünstler. Grass, der Danziger Weichselpoet, der handfest studierte Bildhauer und kaschubische Fabulierer, hatte seine „Blechtrommel“ als freier Zeichner, Lyriker, Verfasser grotesk-absurder Kurzdramen, als (hervorragender) Hauskoch, Jungehemann und bald mehrfacher Familienvater in bohemehaft bescheidenen Verhältnissen in Paris geschrieben. Und hatte dabei die Oder-Neiße-Grenze, den Eisernen Vorhang, das kleinlaut Biedere, friedvoll Puritanische aller westostdeutschen Kahlschlag-Literatur souverän durchbrochen, übersprungen, weggespielt.

Das war ungeheuer. Was der Berliner Kulturhistoriker Karl Schlögel im Wesentlichen erst ab 1989 datiert, die „Rückkehr des Ostens in den europäischen Horizont“, wird bei Grass schon drei Jahrzehnte früher und in aller Geschichts- und Geschichtenbeschwörung Gegenwart. Das haben ihm, dem deutschen Westautor, die Polen schon vor der Wende gedankt. Grass durfte auch für sie immer von jenem Danzig reden, das politisch korrekt längst zu Gdansk geworden war.

Seine frühe künstlerische Stärke war die bis ins Absurde gesteigerte, in der Menschen- und Milieubeobachtung aber immer realistische Fantasie. Wobei er Menschen und Milieus (auch Militärs in seinen Kriegsszenen) wunderbar moralinfrei wahrnahm. Wie ein großes Kind. Wie Oskar Matzerath. Der öffentliche Moralist G. G. wurde erst in den sich immer mehr und neu politisierenden 60er Jahren geboren: mit dem Engagement für die SPD und den von Kanzler Adenauer noch im Wahlkampf 1961 als uneheliches Kind, als Emigranten und geborener „Herr Frahm“ diffamierten Kandidaten Willy Brandt.

Ich habe Günter Grass erstmals leibhaftig erlebt als Redner im Bundestagswahlkampf 1965. In jenem Sommer tournierte Grass durch 50 Städte mit seinem „Loblied auf Willy“ und dem pathetisch korrekten „Es steht zur Wahl“. Da war auch die größte Halle der Universitätsstadt Heidelberg überfüllt, mehr als tausend Menschen; einer war der Heidelberger Grafiker Klaus Staeck, heute als Präsident der Berliner Akademie der Künste ein Nachnachfolger von Günter Grass, der ihn damals auch zum ersten Mal sah. Ich hockte als noch längst nicht wahlberechtigter Gymnasiast, weil es sonst keine Sitze mehr gab, mit auf der Bühne, ein paar Meter vom Podium.

Mir waren und sind demagogische Redner geradezu physisch suspekt. Ein Reflex, der schon früh funktioniert hat, angefangen bei Strauß und Wehner oder Rudi Dutschke. Ich habe noch als Schüler in den 60er Jahren beispielsweise auch Grassens Idol Willy Brandt und kurz vor seiner Ermordung Robert Kennedy öffentlich und im nahen Gespräch erlebt. Jedes Mal war die Erwartung riesengroß und die lebendige Begegnung sehr ernüchternd. (Brandt gewann erst als Kanzler und Kämpfer für seine Ostpolitik Charisma und rhetorische Suggestivkraft.) Bei Grass war das auf Anhieb anders. Vielleicht, weil er wahlredend das Poetische und das Politische so ungeahnt verwob.

Es war gar kein abgehobener, kein glanzvoll hoher Ton. Im Ganzen blieb Grass ganz prosaisch. Doch auf einmal zitierte er zwischen Finanzministern, Juliusturm, Bauern- oder Industrieverbandspräsidenten, zwischen Bundeswehr und Bundesweh den amerikanischen Volks- und Weltdichter Walt Whitman mit seinem „Dich singe ich, Demokratie“. Und setzte seine EsPeDe als einzige Partei, die einst (das KZ vor Augen) gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte, in ihr historisches Recht. Sprach endlich Tacheles: eine Schande, wenn man sich in der deutschen Politik für einen Widerständler und Emigranten 20 Jahre nach Hitlers Tod noch quasi entschuldigen müsse

Wer Grassens Reden von damals liest, wiederliest, findet auch so Unsinniges darin wie die Forderung nach Abschaffung der nach den Erfahrungen der Weimarer Republik so segensreich errichteten Fünf-Prozent-Hürde im Bundeswahlgesetz. Was man in den eher spröden Texten jedoch nicht findet, wenn man’s nicht erlebt hat, ist der Ton, damals, im zeitgeschichtlichen, lebenswirklichen Kontext. Wie Grass, der bis heute ein betörender (Vor-)Leser ist, sein politisch Lied mit so sonor sanfter, alle Brüche verschleifender, sich insistent, aber nie lauthals steigernder Stimme sang, in einem weichen, pommerschen Rollen und Grollen. Ein verlockender, schier unwiderstehlicher Sirenengesang. Der Mann hatte Charisma.

Der Dichter als Aufklärer, im Geiste Lessings. Zwei, drei Jahre später hätten ihn viele der eben noch sympathisierenden Studenten niedergeschrien. Bei allen Irrtümern, die Menschen in der öffentlichen, in der politischen Rede über die Jahre hin unterlaufen – und die Grass freilich besonders schwer und ungern einsieht – bleibt sein Verdienst: Er ist um 1968, anders als viele andere kluge und damals keineswegs mehr kindliche Köpfe, nie angesteckt worden von den totalitären Wahn- und Heilsvorstellungen einer abirrenden Neuen Linken. Anders als Enzensberger, Walser oder ein Peter Schneider, der heute selbstkritisch und ungeachtet der kulturrevolutionären 68er-Verdienste sagt: „Wir waren damals keine Demokraten.“

Wenn das Wort vom „moralischen Gewissen der Nation“ je seine Berechtigung hatte, dann gar nicht so sehr wegen Grass’ beharrlicher Erinnerung an die Verbrechen der Nazis. Das haben andere Geschichtsbewusste genauso getan. Hier hat auch er später bloß , wie es Adorno nennt, mit dem Stachel gelöckt. Das Gewissensetikett hätte Grass viel eher wegen seines „scheißliberalen“, erzsozialdemokratischen Eigensinns verdient, der zu jener Zeit weit mehr Mut und Klarsicht forderte. Darüber sind sogar Fehleinschätzungen wie die zur deutschen Einheit, wo er Hellsicht mit Blindheit paarte (und als Strafe für Auschwitz die Teilung verewigen wollte), fast Bagatellen.

Mit Grass haben wir seither, neben der anhaltenden Bewunderung, auch eine Menge Ernüchterung erlebt. Einen Jahrhundertroman wie die „Blechtrommel“ hat er nicht mehr geschrieben, aber doch noch die „Hundejahre“, den „Butt“ oder, nach viel Schwächerem, den „Krebsgang“: zurück in die (ost)deutsche Kriegsgeschichte. Genug für ein großes Schriftstellerleben. Und ein Grafiker, Tuschpinseler, Kohlezeichner von Format ist er ja auch. So erfolgreich könnte der mittlerweile leicht Gebeugte sich in seinem stolzen, weitläufigen Anwesen nahe Lübeck ruhig niedersetzen, den Weltruhm im Rücken, könnte im Kreis von Frau, Freunden und mehr als einem Dutzend Kindern und Kindeskindern seine geliebte Pfeife schmauchen.

Aber ihn reitet der Federteufel, immer „das letzte Wort zu behalten“. Es war ja gar keine Schande, als naiver Halbwüchsiger, als Kind einer führergläubigen Kleinbürgerfamilie den Waffen-SS-Werbern in den chaotischen letzten Kriegsmonaten nicht widerstanden zu haben (anders als etwa der aufgeklärte Reedersohn Walter Kempowski). Aber Grass hat das Eingeständnis nach so langem, besserwisserischem Schweigen so ungeheuer schwurbelig stilisiert und wie mit Sündenstolz inszeniert. Das kann, das will er nun nicht einsehen. Schade. Doch sei’s drum. Seiner Schreibmaschine hat er einst ein schönes Aquarell und ein Gedicht gewidmet, da steht: „Meine alte Olivetti ist Zeuge, wie fleißig ich lüge und von Fassung zu Fassung der Wahrheit um einen Tippfehler näher bin.“

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