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Teatro Colón

© AFP

Opernhaus: Teatro Colón: Furiose Stille

Es ist das legendärste Opernhaus der Welt. Jetzt wird das Teatro Colón in Buenos Aires 100 - und kämpft gegen die Korruption.

Fast fühlt man sich wie im ersten Akt von Giacomo Puccinis „Tosca“. Schwindelerregende Gerüste, eine Kuppel, die sich leuchtend wölbt, gespenstiges Licht, eine fast noch gespenstigere, kathedralische Stille. Gleich müsste Cavaradossi um die Ecke biegen und mit dem Mesner seine Scherze treiben, gleich müsste es beginnen, das Intrigenspiel um die Sängerin Floria Tosca, die am Ende von der Engelsburg springt. Doch nichts dergleichen. Denn hier ist nicht Rom Anno 1800, sondern Buenos Aires im 21. Jahrhundert. Und hier wird weder gesungen noch gespielt noch zugehört, vorläufig jedenfalls nicht, und auch die Intrigen sind aus anderem Stoff. Das legendäre Teatro Colón, jener Stein gewordene Mythos von der glückseligen Vermählung der alten Welt mit der neuen, von der Wiederauferstehung der einen in der anderen, des Nordens im Süden – die derzeit traurigste und spektakulärste Theaterbaustelle der Welt.

Das kleine Häuflein Menschen, dem hier Ende Mai eine Besichtigung der Baustelle gewährt wird, trägt gelbe Schutzhelme und staunt. Über die Akribie, mit der die güldenen Ornamente und gipsernen Putten gesäubert wurden (so weit man dies hinter den Plastikplanen erkennen kann), über die Aufwendigkeit des Verfahrens zur Rekonstruktion der Originalwandfarbe (ein zimtiges Tomatenrot kam dabei heraus), über die mühselige Ergänzung der einst aus Deutschland eingeführten Bodenmosaike in den Foyers. Letztlich hat man sich das Colón – sieben Logenränge, fast 4000 Plätze, das akustisch beste Opernhaus weltweit – wohl vorzustellen wie eine Stradivari. Ein so kostbares Instrument lässt sich heute problemlos digital erfassen und exakt nachbauen; das Geheimnis aber macht erst das Zusammenspiel der Materialien aus, die Harmonie von Hölzern, Lacken und Klebstoffen. Insofern ist jeder Eingriff heikel – und die minutiöse Sorgfalt, die am Colón an den Tag gelegt wird, nur verständlich. Einerseits.

Andererseits aber verstört etwas, und als die Architektin und ihre beiden hochmögenden Akustiker auf dem Rundgang das x-te Labortestergebnis preisen, mit verzweifeltem Stolz, da fällt es einem wie Schuppen aus den Ohren: Es ist die Stille, die hier nicht stimmt. Auf einer Baustelle wie dieser müsste es lärmen. Hämmern, meißeln, sägen, bohren, schleifen, fräsen. Doch nichts davon, Totenstille, absoluter Stillstand. Ob hier denn nicht gearbeitet werde, wagt jemand zu fragen. Doch, doch, eilige Antwort, irgendwo dort hinten schon. Und tatsächlich: „Hinten“ hört man es ab und zu leise klopfen. Und zwischendurch klingelt ein Handy, mit Tangomelodie. Die Besucher begreifen: Hier geschieht überhaupt nichts. Der Musentempel als perfekte Oase inmitten eines exorbitanten, typisch lateinamerikanischen Lärmaushubs.

Irgendwo zwischen der Oper und dem Tosen des Alltags spielt der Tango. Das ewig klagende Lied der „Portenos“, der Einwohner von Buenos Aires, gehört zu dieser Stadt wie sonst vielleicht nur Wagner zu Bayreuth oder die Liebe, nun ja, zu Paris. CDs mit den Göttern der Vergangenheit und des Tangos Carlos Gardel oder Osvaldo Pugliese gibt’s am Internationalen Flughafen bis kurz vorm Einsteigen – und doch ist diese Musik und Lebenshaltung auch ganz unfolkloristisch, ganz authentisch erfahrbar: als gelebtes Lieben und Leiden und Singen davon und darüber. An einem frühen Samstagmittag mitten im argentinischen Winter etwa kann einem der Tango passieren, auf der Plaza Dorrego im Antiquitätenviertel San Telmo, wenn steinalte Paare hingebungsvoll übers Pflaster schieben. Oder natürlich abends in den zahllosen Bars und Absteigen in der Nähe des Hafens. Der Tango, so scheint es, war schon immer da. Ist unsterblich und bleibt es auch.

Die Oper hingegen hat einen sterblichen Charakter. Momentan und bis auf Weiteres ist sie in Buenos Aires mausetot. Am 1. November 2006 wurde das Teatro Colón wegen Renovierung komplett geschlossen, und wann und womit und von wem es jemals wieder eröffnet wird, weiß derzeit niemand unterm großen Kreuz des Südens. Doch, doch, versichert Architektin Sonia Terreno und setzt zu einem selbstbeschwörerischen Lächeln an, ab August, das habe Präsidentin de Kirchner unlängst versprochen, würden die Gelder wieder fließen. Und an den 25. Mai 2010, den Tag der 200- Jahr-Feier der Nation, an dem das Colón wieder einmal wiedereröffnet werden soll, an diesen Tag glaube sie ganz fest. An der rückwärtigen Fassade zur Avenida 9 de Julio prangt bis heute eine große blitzblanke Tafel, die den letzten Masterplan vorgaukelt (in drei Stufen, 2001 bis 2003, 2004 bis 2005, 2006 bis 2007). Längst ist dieser hinfällig. Und das 100-jährige Jubiläum des Hauses am 25. Mai 2008 musste man vor verschlossenen Türen verstreichen lassen. In Deutschland, ja selbst in Italien, überhaupt im alten Europa, wäre dergleichen unvorstellbar.

Was die Portenos zu der Misere sagen? Das kleine reiche argentinische Bildungsbürgertum schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und schämt sich für seine Kulturnation, der große Rest der Bevölkerung zuckt mit den Achseln. Warum sollte es ausgerechnet der Oper, jener ehedem importierten Kunstform, besser ergehen als allem anderen? Vor Jahren sollte für die dringend renovierungsbedürftige Flugsicherung draußen in Ezeiza etwas getan werden, 75 Millionen Dollar wurden bewilligt und beschafft – und versickerten hurtig in dunklen Kanälen. Seitdem steht es nicht gut um die Sicherheit im Fluggeschäft – und ums Colón steht es derweil nicht sehr viel anders.

Als der österreichische Dirigent und legendäre Chef der Berliner Lindenoper, Erich Kleiber, am Teatro Colón zu wirken begann, nagelte er als Erstes ein Schild neben sein Künstlerzimmer (auf Spanisch selbstredend): „Routine und Improvisation sind Todfeinde der Kunst“. Dieses Schild grüßt heute außen am Haus, in bronzener Vergrößerung, und es wirkt wie Hohn. Theater, Stadt, Land und Nation nämlich besitzen ein ausgeprägtes Gedächtnis für die ruhmreiche eigene Vergangenheit. Diese beginnt im frühen 20. Jahrhundert: Argentinien boomt. Man profitiert von den diversen europäischen Auswanderungswellen seit Mitte des 19. Jahrhunderts, von Wirtschaftskrisen, Hungersnöten, Epidemien, Kriegen, Völkermorden und Vertreibungen. Und tut dies nicht etwa arrogant oder gönnerhaft, sondern offen und frei. 1908, als das neue Teatro Colón mit Verdis „Aida“ eröffnet wird (das alte an der südwestlichen Ecke der Plaza de Mayo existiert nicht mehr) sind die Bewohner von Buenos Aires in der Mehrzahl Ausländer. Der Bau selbst wird zum Denkmal nationaler Souveränität. Wobei man den Altruismus der Herren Großgrundbesitzer und Rinderzüchter nicht überschätzen darf. Argentinien sollte ein „weißer“ Staat werden. Dazu brauchte man die Europäer.

Im Colón (benannt nach Christoph Kolumbus, dem Entdecker Amerikas) also verschmelzen die große abendländische Tradition mit der unverbrauchten Kraft der neuen Welt. Was man 1908 nicht wissen konnte: Welche Existenzialität dieser Gedanke im Laufe just der nächsten Jahrzehnte entwickeln würde. Und zwar weniger für den argentinischen Musikliebhaber (der sich meist als Italiener und Argentinier, als Spanier und Argentinier, als Deutscher und Argentinier begriff) als für die Zureisenden, die Emigranten. Indem das Colón zahllosen verfemten und verfolgten Künstlern in den Jahren zwischen den Kriegen und darüber hinaus eine Heimat gab, funktionierte es wie eine rettende Burg, ein mittelalterliches Kloster, in dem kostbare Kunstschätze vor der zähnefletschenden Barbarei bewahrt wurden. Das vor allem – neben seiner klassizistischen Pracht und der unvergleichlichen Akustik – macht bis heute den Mythos, die Aura des hohen Hauses an der Plaza Lavalle aus. Ein Theater als letzte Insel der Seligen, als Bekenntnis zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – nicht nur in der Kunst. Die Nazis hingegen, die ihre Haut nach 1945 nach Argentinien retteten, Eichmann oder Mengele, hatten mit Kunst nichts im Sinn.

Auf die hauptsächlich italienisch geprägten Saisons folgt nach dem Ersten Weltkrieg eine erste deutsche Welle. Sie wird gestaltet von Dirigenten wie Felix Weingartner, Richard Strauss und Wilhelm Furtwängler, von Sängern wie Lotte Lehmann, Alexander Kipnis oder Lauritz Melchior, von Tänzern wie Tatjana Gsovsky. Viele kommen, neugierig, nur einmal an den Rio de la Plata, andere gastieren regelmäßig in der Stadt der günstigen Winde, manche bleiben (vorläufig) für immer: Der bereits erwähnte Erich Kleiber, der im Colón während einer Probe zum Brahms-Requiem seine spätere Ehefrau kennenlernt (und ihr beim Lunch am nächsten Tag gleich einen Heiratsantrag macht) oder die Familie des Regisseurs Josef Gielen.

Bis in die fünfziger Jahre hinein besteht eine besondere Verbindung des Hauses zur Berliner Lindenoper – dann freilich, nach Juan Peróns erster Amtszeit, wird Argentinien von Putschen und Gegenputschen heimgesucht, und in Ost-Berlin regiert die SED. Der Kontakt bricht ab. Erst 2004 versucht man, an die Tradition wieder anzuknüpfen. Eine sogenannte Partnerschaftsvereinbarung wird unterzeichnet, die ihrerseits auf einer „Rahmenerklärung über die Zusammenarbeit“ zwischen den beiden Städten von 1994 beruht. Das Ganze sieht den Austausch von Informationen, Personal sowie ganzer „Spielplanabschnitte“ vor. Davon hat sich bis heute wenig realisieren lassen.

Die direkte Abhängigkeit des Colón von den nach wie vor gravierenden politischen und wirtschaftlichen Schwankungen im Land straft jede Planungsssicherheit Lügen, die Korruption verhindert, dass überhaupt eine fähige künstlerische Leitung installiert wird. Der amtierende Direktor etwa, Horacio Sanguinetti, stellte seine Kompetenz dadurch unter Beweis, dass er im staatlichen Radio eine sonntägliche Klassik-Sendung moderierte.

Zuletzt, 2004, gab es am Colón pro Spielzeit neun Premieren bei rund 50 Vorstellungen (das Haus ist ein reiner Stagionebetrieb, hat also kein Repertoire, sondern spielt einzelne Produktionen en suite). Für einen Gesamtetat von umgerechnet 17 Millionen Euro werden insgesamt 1500 Mitarbeiter beschäftigt – doppelt so viele wie derzeit an der Berliner Staatsoper für rund 53 Millionen Euro im Jahr. Das sagt nicht nur etwas über das Gagengefälle, sondern auch über die Effizienz. In den zwanziger und dreißiger Jahren hingegen waren die Gagen am Colón (man zahlte in Dollar!) fünf- bis zehnmal höher als an den besten europäischen Häusern, der Mailänder Scala oder der Wiener Staatsoper. Zur gleichen Zeit existieren in Buenos Aires 16 deutsche Gesangsvereine. So viel soziale Unterfütterung, solche Verwurzelung schafft Selbstbewusstsein.

Am 4. August 1926 hatte sich Erich Kleiber von Genua aus erstmals Richtung Argentinien eingeschifft, gut zwei Wochen später kommt er an und muss feststellen, dass er „nicht als der Generalmusikdirektor von Berlin galt, sondern als eine kleine magere, völlig unbekannte Person, mit einem Dirigentenstab in seinem Rucksack, die zufällig auf den Namen Erich Kleiber hörte ...“. Das ändert sich rasch, der Perfektionist Kleiber wird zur Lichtgestalt, Orchester und Publikum lieben ihn abgöttisch. Der gebürtige Wiener bedankt sich, indem er seinen österreichischen Pass gegen den argentinischen tauscht (zur Vermeidung des großdeutschen) und eine Familie gründet. Sein Sohn Carlos, 1930 noch in Berlin geboren, spielt alsbald zwischen den Stuhlreihen des Colón Verstecken und lernt im Malersaal Fußballspielen – während sich der Vater dem Tango hingibt: „Das Tangoorchester ist reiner und melodischer als eine Jazzband, und der Tango selbst ist ein wirkliches Kunstwerk, gerade so sehr wie der Walzer, und Sie wissen, was der Walzer für mich bedeutet.“

Carlos Kleiber wird später selbst zu einem der bedeutendsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Und auch Michael Gielen, der Sohn Josef Gielens, und der in Buenos Aires als Sohn russisch-jüdischer Emigranten geborene Daniel Barenboim machen als Musiker ihren Weg. Das schürte Neid, zwangsläufig. Herbert von Karajan etwa gastierte in den sechziger Jahren am Teatro Colón und schrieb seinem Freund Rudolf Gamsjäger, dem Direktor des Wiener Musikvereins, eine Postkarte, die den Obelisken auf der 20- spurigen Prachtstraße des 9. Juli zeigte. Hinten drauf ein kurzer Satz: „Buenos Aires – a Negerdorf.“

Das sehen Musiker wie Daniel Barenboim naturgemäß anders. In seiner Stamm-Tango-Kaschemme „La Cumparsita“ kennt er seit Jahrzehnten fast alle Musiker. Und die Musiker kennen ihn, natürlich, den Maestro argentino, man fällt sich um den Hals, tauscht Komplimente aus, erkundigt sich nach Kindern und Kindeskindern. Es gibt mäßigen Wein und speckige Pasteten, und die beiden knackig-jungen Profitänzer lassen ihre Glieder wie Klappmesser durch die Luft fliegen. Der Mann aber, der auf der winzigen Bühne gerade seine Stimme erhebt, ist 85 und eine Institution. Dunkelrötlich gefärbtes, spärliches Haupthaar, klassische Physiognomie, ein knarrender knarzender Bariton. Fast schimpft und stampft er mehr ins Mikrofon, als dass er singt. Schonungsloser können Affekte nicht ausgedrückt werden. Wovon die Rede ist, wird der Maestro gefragt. Das Übliche, lacht Barenboim, Liebe, Laster, Leidenschaft, wofür die italienische Oper vier Stunden braucht, das erzählt der Tango in vier Minuten.

Auf dem Weg zum Hotel kommen wir noch einmal am Colón vorbei. Ganz still und stumm, wie ein verlassener Schildkrötenpanzer, liegt das Opernhaus da, während ringsum der nächtliche Verkehr tost und die Neonlichter einem Tränen in die Augen treiben. Nach der Vorstellung übrigens soll Erich Kleiber in Hut und Mantel gern einen letzten Blick in den leeren Zuschauerraum geworfen haben. „Wenn ich mal tot bin“, pflegte er zu sagen, „werde ich dort oben im Kronleuchter sitzen und zuschauen.“ Viel zu sehen gibt es hier gerade nicht.

Christine Lemke-Matwey

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