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Richard Glücks: Der Mann, der Auschwitz verwaltete

Die Kommandanten von 15 Konzentrationslagern bekamen von ihm ihre Anweisungen. Richard Glücks galt als höflicher Mann – und organisierte an seinem Schreibtisch die Ausbeutung der Häftlinge bis zu ihrem Tod.

Das Rundschreiben ging an die Kommandanten aller Konzentrationslager: „Betrifft: Verwertung der abgeschnittenen Haare“. Menschenhaar, hieß es darin, sei ein wichtiger Rohstoff, zu Garn versponnen würden daraus Füßlinge für U-Bootbesatzungen und Eisenbahner. Versuchsweise solle auch das Haar männlicher Häftlinge genutzt werden, wenn es denn mindestens zwei Zentimeter lang sei. Und weil der Schreiber dieser Zeilen außerordentlich gründlich war, fiel ihm noch etwas ein. Lange Haare könnten ja auf der Flucht das Untertauchen erleichtern. Deshalb solle „eine Kennzeichnung der Häftlinge in der Weise erfolgen, dass mit einer schmalen Haarschneidemaschine mitten über den Kopf eine Haarbahn geschnitten wird.“ Das Wort „schmal“ ist gesperrt geschrieben, um seine Bedeutung zu unterstreichen. Gezeichnet am 6. August 1942 von Richard Glücks.

Im Zusammenhang mit dem Holocaust, dem Massenmord an Millionen Menschen, fallen neben dem Namen Adolf Hitler meist solche wie Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich oder Adolf Eichmann. Richard Glücks ist kaum jemandem bekannt. Dabei spielte er eine zentrale Rolle. Als Chef der Amtsgruppe D im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt verwaltete Glücks das gesamte Konzentrationslager-System. Er war es, der vor 70 Jahren, im Januar 1940, eine Delegation in einen bis dato kaum bekannten Ort namens Auschwitz schickte, um dort das Terrain für ein neues Lager zu sondieren. Von ihm erhielten die Kommandanten der einzelnen Lager regelmäßig ihre Weisungen. Während Eichmann im Reichssicherheitshauptamt die Deportationen organisierte, war Glücks für die Einweisung der Häftlinge in die Lager zuständig. Er organisierte ihre erbarmungslose Ausbeutung bis zum letzten Haar.

Richard Glücks war zwei Tage jünger als Adolf Hitler. Am 22. April 1889 wurde er in Odenkirchen bei Mönchengladbach geboren. Das Gymnasium musste er noch vor dem Abitur verlassen, seine Lehre machte er in der elterlichen Versicherungsgesellschaft. Er ging ins Ausland, arbeitete als Kaufmann in England und Südamerika. In Buenos Aires erreichte ihn die Nachricht vom Kriegsausbruch. Um in diesen Krieg ziehen zu können, nahm er einiges auf sich, schiffte sich mit gefälschten Papieren als Schweizer Matrose auf einem norwegischen Frachter ein, der ihn zurück nach Deutschland brachte. Als Beobachtungsoffizier und Batterieführer kämpfte er in den mörderischen Schlachten der Westfront, an der Somme und vor Verdun, wurde mit dem Eisernen Kreuz Erster und Zweiter Klasse und dem Ehrenkreuz für Frontkämpfer ausgezeichnet.

Nach dem Krieg machte Richard Glücks eine für Leute seines Schlages typische Karriere. Als am 11. November 1918 in Compiègne die Vereinbarung über einen Waffenstillstand unterzeichnet wurde, standen noch Millionen Soldaten an der Front. Manche wurden in die neu gebildete vorläufige Reichswehr aufgenommen. Zu ihnen gehörte zum Beispiel Adolf Hitler, der im Auftrag der Nachrichten- und Aufklärungsabteilung des Münchner Gruppenkommandos politische Versammlungen observierte. Viele andere ehemalige Frontsoldaten schlossen sich daheim revolutionären Bewegungen an. Mehrere hunderttausend gingen zu den Freikorps, Freiwilligenverbänden, in denen sich Monarchisten, Nationalisten und Antisemiten sammelten, radikale Gegner der Arbeiter- und Soldatenräte, die sich nach der Novemberrevolution gebildet hatten. Bei der blutigen Unterdrückung des Berliner Spartakusaufstandes, der Münchner Räterepublik und anderer Erhebungen spielten die Freikorps eine wichtige Rolle.

Richard Glücks schloss sich im Ruhrgebiet dem Freikorps Lichtschlag an. Die Truppe war bald für ihre Brutalität berüchtigt, viele sprachen vom „Freikorps Totschlag“. 1930 trat Glücks der NSDAP bei, zwei Jahre später ging er zur SS, machte rasch Karriere, stieg 1935 zum Standartenführer auf, eine hauptamtliche Position. Er heiratete die erheblich jüngere Alice Klages, die er zuvor ihrem „schweinischen“ Ehemann abspenstig gemacht hatte, einer „in geschlechtlicher Beziehung abnorm veranlagten“ Person, wie es in seiner Personalakte heißt – was immer Glücks darunter verstand. Ganz entgegen der nationalsozialistischen Gebärpropaganda schenkte Alice Klages dem „Führer“ kein Kind, die Ehe blieb ohne Nachwuchs.

Ein entscheidendes Karrieredatum für Richard Glücks ist der 1. April 1936. Er wird zur Inspektion der Konzentrationslager (IKL) versetzt, die von Theodor Eicke geleitet wird. Eicke war zunächst Kommandant des Konzentrationslagers Dachau gewesen. Dort hatte er das „Dachauer Modell“ der von der SS organisierten Lagerverwaltung entwickelt, das nach und nach auf alle großen Konzentrationslager übertragen wurde. Theodor Eicke war ein oft brutaler Typ, manche nannten ihn einen Schlächter. 1934 hatte er im Auftrag Adolf Hitlers den SA-Stabschef Ernst Röhm ermordet und damit den Aufstieg der SS zu einer eigenständigen Organisation mit eingeleitet. Die Organisation des Lageralltags interessierte ihn nicht. Auch den Korruptionsvorwürfen, die gegen verschiedene Wachmannschaften erhoben wurden, ging er nicht nach. Richard Glücks dagegen, der ehemalige Artillerie-Offizier, der wegen einer Kriegsverletzung hinkte, war ein zurückhaltender Mensch, wird als höflich im persönlichen Umgang beschrieben. Er sollte sich als beflissener Verwalter der Vernichtungsmaschinerie erweisen.

Heinrich Himmler, der „Reichsführer   SS“, war nicht gewillt, wegen der aktenkundigen Unregelmäßigkeiten eine Untersuchung gegen Eicke einzuleiten. Er löste das Problem anders: Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde Eicke in den Osten geschickt. Als Kommandeur der SS-Division „Totenkopf“ war Eicke in den eroberten polnischen Gebieten für „Säuberungs- und Sicherheitsmaßnahmen“ zuständig und damit zweifellos in seinem Element. Nachfolger von Eicke als Leiter der IKL wurde 1939 Richard Glücks. Und sein Aufgabengebiet sollte nun gewaltig expandieren. Zusätzlich zu den bestehenden sechs Konzentrationslagern errichtete die IKL bis 1942 fünf neue Lagerkomplexe: Auschwitz, Neuengamme, Natzweiler, Groß-Rosen und Majdanek. Vor allem Auschwitz entwickelte sich zu einer Vernichtungsmaschine, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Der Name des kleinen oberschlesischen Städtchens wurde zum Synonym für das jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigende Verbrechen der Vernichtung des europäischen Judentums.

Im Januar 1940 reiste auf Anordnung von Glücks erstmals eine Kommission nach Auschwitz, das 60 Kilometer westlich von Krakau im sogenannten Generalgouvernement lag. Die Kommission besichtigte die in der Nähe der Kleinstadt gelegenen ehemaligen österreichischen Kavalleriekasernen, hielt die vorhandenen Bauten für die Errichtung eines Lagers zunächst für nicht geeignet, korrigierte sich aber nach einer zweiten Besichtigung. Glücks meldete Himmler, dass das Gelände nach Beseitigung einiger baulicher Mängel doch infrage kam. Und am 27. April gab Himmler Glücks den Befehl, dort ein Konzentrationslager einzurichten und es durch Häftlinge ausbauen zu lassen. Rudolf Höß wurde zwei Tage später zum Kommandanten des neuen Lagers ernannt.

Mit dem Plan, einen großen Häftlingskomplex zu errichten, verbanden sich noch weitere Überlegungen. Die Nationalsozialisten behaupteten einen historischen Anspruch auf diese einst von Deutschen kolonisierten Räume und sahen hier im Osten den den Deutschen angeblich fehlenden Lebensraum. Auschwitz war 1270 als deutsche Stadt gegründet worden und das sollte es nun wieder werden. Der Architekt Hans Stosberg wurde zum Sonderbeauftragten für den Generalbebauungsplan der Stadt ernannt. Heinrich Himmler wollte hier das „Musterbeispiel für die Siedlung im Osten“ errichten und sogenannte Volksdeutsche ansiedeln. Die neue Siedlung sollte den Namen „HeinrichHimmler-Stadt“ tragen.

Auschwitz sollte aber nicht nur große Zahlen von Häftlingen und deutsche Neusiedler beherbergen. Schon 1940 geriet Auschwitz auch in das Blickfeld der I.G. Farben. Otto Ambros, ein alter Schulkamerad von Himmler, der nun eine führende Position bei dem Chemiekonzern innehatte, sah in Auschwitz den idealen Standort für die Produktion von Buna, einem synthetischen Kautschuk. Die I.G. Farben waren mit 200 000 Beschäftigten eines der größten Privatunternehmen der Welt und für die deutsche Rüstungsproduktion von erheblicher Bedeutung. Neben Kautschuk stellten sie auch synthetisches Benzin her, das die Abhängigkeit vom knappen Rohöl verringern sollte. Kautschuk und Benzin wurden ab 1941 im Konzentrationslager Auschwitz III (Buna Monowitz) produziert. Eine Tochterfirma der I.G. Farben, die Degesch, lieferte das Gas Zyklon B, mit dem unterdessen im Lager Auschwitz II (Birkenau) Menschen vergast wurden.

Es wurde immer deutlicher, dass der wachsende Komplex der Konzentrations- und Vernichtungslager zwei zentrale Funktionen hatte. Das eine war die Systematisierung der Massenvernichtung hin zum Völkermord, das andere die Zwangsarbeit. Man wollte die „Untermenschen“, für die im rassistischen Weltbild der Nazis kein Platz war, ausbeuten bis zum Letzten und sie schließlich beseitigen. Die Sklavenarbeit in den Lagern führte zur „Vernichtung durch Arbeit“, wie das im NS-Jargon offiziell hieß. Im März 1942 wurde das „SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt“ gegründet, das in Berlin-Lichterfelde, Unter den Eichen 135, seinen Sitz hatte. Heute ist dort eine Außenstelle des Bundesbauamtes untergebracht. Hier wurden die SS-eigenen Industriebetriebe verwaltet. Richard Glücks leitete das Amt D, zuständig für das „Konzentrationslagerwesen“. Er war zentral verantwortlich für die Verteilung neuer Häftlinge auf die Lager sowie für die Organisation der Zwangsarbeit. Das tat er mit bemerkenswerter Konsequenz. Selbst die Kranken, deren Lebenserwartung oftmals nur noch wenige Tage betrug, sollten noch bis zuletzt zum „Endsieg“ beitragen, „zu einer entsprechenden Arbeit, die sie auch im Bett verrichten können, herangezogen werden.“

Richard Glücks verwaltete insgesamt 15 Konzentrationslager mit 500 Außenlagern. Seine Einsatzfreude erwarb ihm die Anerkennung seiner Vorgesetzten. In einer Stellungnahme vom Januar 1945 heißt es: „Wenn sich hier in den ganzen Kriegsjahren keinerlei Schwierigkeiten ergeben haben und die Kriegsindustrie in kürzester Zeit mit den angeforderten Arbeitskräften versorgt werden konnte, dann ist das das Verdienst des SS-Gruppenführers Glücks. Er hat durch diese Leistung einen wesentlichen Beitrag zur Kriegsrüstung und damit zur Kriegsführung geleistet.“ Am 25. Januar 1945, zwei Tage bevor die Rote Armee Auschwitz befreite, wurde Richard Glücks deshalb von Adolf Hitler das Deutsche Kreuz in Silber, einer der höchsten Orden des Dritten Reiches, verliehen.

Allen Anstrengungen der deutschen Kriegs- und Vernichtungsmaschine zum Trotz waren die sowjetischen Truppen immer rascher nach Westen vorgerückt. Die SS versuchte noch in den Sommermonaten des Jahres 1944, die Judenvernichtung zu forcieren. Zum Zentrum des Mordgeschehens wurde Auschwitz-Birkenau, das einzige noch intakte Vernichtungslager des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes. In wenigen Wochen wurden über 400 000 ungarische Juden ermordet und zwei Lagerbereiche vollständig liquidiert, das Theresienstädter Familienlager und das sogenannte Zigeunerlager. Vor Eintreffen der Sowjets, 18. Januar 1945, wurden 58  000 Häftlinge auf einen Todesmarsch geschickt, lediglich 9000 Schwerkranke ließ man zurück. Die Gaskammern und Krematorien wurden gesprengt, Himmler hatte die wahnhafte Idee, so die Spuren der Judenvernichtung beseitigen zu können.

Anfang Mai 1945, Hitler war schon tot, begab sich Heinrich Himmler mit den Resten der Reichsregierung nach Flensburg. Er versammelte eine Entourage von 150 Getreuen um sich, unter ihnen Richard Glücks und Rudolf Höß. Die beiden waren am Abend des 3. Mai mit Himmler zusammen. Der erteilte ihnen den Befehl, sich als Unteroffiziere des Heeres zu verkleiden und über die grüne Grenze in das noch deutsch besetzte Dänemark zu gehen. Der Plan scheiterte. In Frederick Forsyths Thriller „Die Akte Odessa“ gelingt es Glücks als Ricardo Suertes („Suerte“ heißt Glück auf Spanisch), nach Buenos Aires zu entkommen, an den Ort seiner Anfänge, und ein Netzwerk für geflüchtete Nazis aufzubauen. Doch im Fall von Richard Glücks ging es in der Wirklichkeit wenigstens etwas gerechter zu als in der Literatur. Am 10. Mai, zwei Tage nach der deutschen Kapitulation, blieb Glücks kein Ausweg mehr. Mit einer Zyankalikapsel setzte der Schreibtischmörder seinem Leben ein Ende.

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