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Geschichte: und seine Hymnen Mister Pomp

„Land of Hope and Glory“: Mit Edward Elgars größtem Hit enden jedes Jahr die Londoner Sommerkonzerte – auch dieses Wochenende. 150 wäre der Komponist jetzt geworden; die einen halten ihn für Englands größten, die anderen schimpfen ihn einen Imperialisten.

So viel England war nie. Zumindest hatte das Wunderkind aus Amerika es noch nie so gehört wie in diesem Violinkonzert, von dem er auch Jahrzehnte später nur in den wärmsten Tönen sprach. Die lyrische Schönheit der Landschaft spürte er darin, die Grüntöne des englischen Sommers, den Humor, den Stolz und den Charme dieses Volkes, dessen Nationalität er eines Tages selber annehmen würde. Der junge Geiger war tief beeindruckt – von der Melodie ebenso wie von der Gelassenheit, mit der der alte Komponist und königliche Hofmusiker ihm, dem Teenager, seine Musik bei der Plattenaufnahme in London anvertraute. Ein paar Takte zur Probe reichten ihm schon, dann zog der britische Gentleman sich zurück – zum Pferderennen.

16 Jahre alt war Yehudi Menuhin, als er dem 75-jährigen Edward Elgar zum ersten Mal begegnete und ihn zu seinem musikalischen Großvater erklärte. Während Menuhins Karriere gerade begann, war Elgars damals, 1932, praktisch beendet. Gut zehn Jahre lang hatte er fast nichts mehr komponiert; beim Konzert zum 75. Geburtstag war der Londoner Saal halb leer geblieben; und den Auftrag der BBC für eine dritte Symphonie erhielt er nur aufgrund der empörten Initiative seines Freundes George Bernard Shaw. Vollenden konnte Elgar sie nicht mehr. Zwei Jahre nach dem ersten Treffen mit Menuhin starb Elgar an Krebs.

Das, was Menuhin, Sohn jüdischer Einwanderer aus Weißrussland, an der Komposition wie an seinem Schöpfer so bewunderte, macht ihn in den Augen seiner Kritiker bis heute suspekt. Englische Kultur, das umfasste nach Ansicht des Dichters T. S. Eliot unter anderem die Ruderregatta in Henley-on-Themse, Wensleydale-Käse, das Cup Final, gotische Kirchen aus dem 19. Jahrhundert, gekochten Kohl – „und die Musik von Elgar“. Sir Edward Elgar galt als Repräsentant einer Zeit, die vorbei, eines Empires, das untergegangen war. Ein Künstler, der geprägt war vom Zeitalter Königin Viktorias und aufblühte unter König Edward VII.

Für dessen Krönung war jenes Stück bestimmt, das bis heute Elgars bekanntestes ist: „Pomp and Circumstance March No. 1“. Zentraler Teil des Marsches von 1901 ist die Hymne „Land of Hope and Glory“, die den Expansionswillen des Empires besingt. Seit Ewigkeiten ist sie unerbittlicher, karnevalesker Höhepunkt der alljährlichen „Last Night of the Proms“. Auch gestern schwenkten die Zuschauer in der Londoner Royal Albert Hall wieder massenweise ihre Fähnchen im Takt.

Elgar selbst war kaum weniger begeistert, als er seine Melodie gefunden hatte. Als „tune that comes once in a lifetime“ bezeichnete er sie, „die den Leuten die Schuhe ausziehen wird“. Was er damals nicht ahnte: dass sein größter Hit auch sein Verderben sein würde. Egal, wie viele Symphonien und Oratorien, Lieder und Ouvertüren er geschrieben hat, egal, dass sein Cello-Konzert als eins der schönsten (und traurigsten) gilt, die es gibt – immer wieder wurde der Spätromantiker reduziert auf seinen sechsminütigen Ohrwurm, wurde abgestempelt als Nationalist und Imperialist.

Dabei kam er aus ganz und gar unmilitärischen Kreisen. Geboren wurde Edward Elgar am 2. Juni 1857 in Broadheath in Worcestershire, im Herzen Englands. Sohn eines Musikalienhändlers und einer naturverbundenen Mutter, hörte er draußen überall Musik: wenn er sich mit Partituren in die Wiese setzte oder Drachen fliegen ließ, wenn er Golf spielte oder fischte am Fluss, wenn er durch die weiten Täler wanderte oder mit seinem Fahrrad, das er Mr. Phoebus nannte, über die Hügel der Malverns fuhr. Das, was er gehört hatte, musste er nur noch am Schreibtisch in eine Form bringen. Und fast immer stand der Tisch, an dem Elgar komponierte, in einem Haus auf dem Land.

Sanft ist die Landschaft von Worcestershire, pastoral nennt Elgars Biograf Jerrold Northrop Moore dessen Kompositionen. Seine Karriere verlief sehr viel schroffer. Elgar war Autodidakt. Mit 15 hatte er die Schule verlassen, um in einem Anwaltsbüro Geld zu verdienen, aber Teekochen und Botengänge füllten den Lehrling nicht aus. Also kündigte er nach einem Jahr und half mit im Geschäft seines Vaters, den er schon als kleiner Junge auf seinen Touren als Klavierstimmer begleitete und für den er als Organist in der Kirche einsprang, bis er den Posten ganz übernahm. Er spielte in verschiedenen Orchestern, komponierte, gab Geigenunterricht und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Dirigent in der Irrenanstalt, ein Posten, den er mehrere Jahre hielt und der ihm ein Experimentierfeld für eigene Kompositionen gab. Wobei in seinem Orchester nicht die Patienten saßen, sondern die Pflegekräfte.

Mit 31 heiratete er eine seiner Klavierschülerinnen: Alice Roberts, in Bombay geborene Tochter eines Generals, neun Jahre älter als er, die selber Gedichte und Romane schrieb und seine wichtigste Stütze sein sollte. Ihr Geld ermöglichte ihm den Umzug nach London, wo er sich endlich den Ruhm erhoffte – und sie machte ihm Mut, als dieser ausblieb und sie zurück nach Worcestershire zogen, wo er wieder Geigenunterricht gab. Ihr widmete er seinen Liebesgruß, „Salut d’ Amour“, sie malte ihm die Notenlinien aufs weiße Papier und gab ihm den entscheidenden Schubs zu den „Enigma Variations“, mit denen er 1899 seinen Durchbruch schaffte. In jeder Variation porträtierte er einen Freund oder eine Freundin, im ersten Satz seine Frau, im letzten sich selbst. Gleich im nächsten Jahr war „The Dream of Gerontius“ fertig – ein Desaster bei der Uraufführung. Erst beim nächsten Mal wurde das Oratorium dann richtig gefeiert.

Als bekennender Katholik in einem anglikanischen Land, als Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen und Autodidakt fühlte Elgar sich sein Leben lang als Außenseiter. So erklärte er auch den lang ausbleibenden Erfolg, das Auf und Ab seiner Laufbahn. Und in seiner deftigen Ausdrucksweise trat er, wie häufig, dabei so gar nicht als Gentleman auf. Nachdem sich das Publikum bei der Aufführung seiner ersten Symphonie in London vor Begeisterung auf die Stühle gestellt hatte, blieb es bei der Premiere der zweiten Symphonie eher unbewegt: „Wie voll gestopfte Schweine“, fand der Komponist.

Und doch war er im „Land ohne Musik“ ein Nationalheld. Die Briten hatten Shakespeare und Chaucer, Turner und Constable (mit deren Malerei Elgars Musik verglichen worden ist) – aber keinen Beethoven und keinen Bach, keinen Mozart und keinen Haydn. Die Briten hatten nur Purcell und dann lange gar nichts (auch wenn sie Händel als einen der Ihren reklamierten). Nach jahrhundertelanger Pause kam Edward Elgar, „der Shakespeare der Musik“, wie ihn seine geliebte Muse Alice Stuart-Wortley, genannt Windflower (Anemone), als Erste nannte – und danach Benjamin Britten, der für seinen Vorgänger nur tiefe Verachtung übrig hatte. Als er, mit 16 Jahren, Elgars Zweite Symphonie hörte, fand er diese so entsetzlich langweilig, dass er noch vor dem Ende ging.

Aber Elgar hatte auch seine Fürsprecher, nicht nur Menuhin. Künstler, die seiner Musik durch ihre Interpretationen Gehör schafften wie die Cellistin Jacqueline du Pré (und durch sie ihr Ehemann Daniel Barenboim) oder Sir Simon Rattle, dessen Einspielung der Enigma Variations mit dem Birmingham Orchestra als Klassiker gilt – Musiker, die nicht die pompösen, sondern die heiteren und melancholischen Seiten seiner Kompositionen in den Vordergrund stellten. Zu Elgars Ehrenrettern gehört auch Ken Russell, Regisseur einiger Horrorfilme und der Rockoper „Tommy“, der Anfang der 60er eine legendäre Dokumentation über Elgar drehte, in der er diesen als einsamen, unverstandenen Künstler präsentierte, als großen Romantiker.

In diesem, dem Jubiläumsjahr seines 150. Geburtstages gingen Gegner und Fans noch einmal heftig aufeinander los: Während die einen Elgar zum Bach Großbritanniens erklärten, taten die anderen ihn als sentimentalen Revanchisten ab. Angeheizt wurde die Debatte durch die Tatsache, dass die Bank of England ausgerechnet jetzt Elgars Konterfei vom 20-Pfund-Schein nahm und durch den Ökonomen Adam Smith ersetzte. Gleichzeitig meldeten sich aber auch Kritiker wie David Cannadine zu Wort, die ein differenziertes Bild des Musikers entwarfen, auf die Komplexität seiner Person und seines Werks hinwiesen. Jemand, der Rätsel jeder Art, nicht nur Kreuzworträtsel, so liebte wie Elgar, ist nun mal nicht so leicht zu entschlüsseln.

Dieser englischste aller Engländer, der auftrat wie ein Landedelmann, war zum Beispiel ein früher Kosmopolit, den der Erste Weltkrieg und Hitlers Machtergreifung zutiefst deprimierten. Nie war Elgar so glücklich und entspannt wie auf seinen ausgedehnten Urlaubsreisen nach Bayern und Italien – in Alassio gibt es bis heute eine Via Edward Elgar. Noch im hohen Alter unternahm er eine lange Reise nach Brasilien – aus der Fahrt auf dem Amazonas zur Oper von Manaus hat der Schriftsteller James Hamilton-Paterson 1989 einen ganzen Roman gemacht („Der Traum des Gerontius“).

„Als europäischsten aller britischen Musiker“ hat der „Guardian“ Elgar kürzlich bezeichnet. Die wichtigsten Vorbilder und Förderer des Musikers, der am liebsten in Leipzig studiert hätte (nur fehlte ihm das Geld dazu), waren Mitteleuropäer, besonders Deutsche. Der Dirigent Hans Richter, der schon Wagner und Brahms in die Konzertsäle gebracht hatte, verhalf Elgar durch seine Aufführungen zur großen öffentlichen Aufmerksamkeit. Elgar selbst pilgerte nach Bayreuth, ließ keine Gelegenheit aus, Wagner-Opern zu hören – wobei er nicht nur großer Wagner-, sondern ebenso Fußballfan war: Wolverhampton Wanderers hieß sein Verein. Elgar hörte und bewunderte Dvorak und Liszt als Dirigenten ihrer selbst, Richard Strauss verhalf ihm zum internationalen Durchbruch, indem er nach einem Konzert in Düsseldorf erklärte, er sei der erste britische Musiker der Moderne: „Meister Edward Elgar“.

Ein Düsseldorfer war auch sein wichtigster musikalischer Ratgeber: August Jaeger, Lektor bei seinem Musikverlag Novello. Ihm hat Elgar den bekanntesten Satz seiner „Enigma Variations“ gewidmet, „Nimrod“ (der ein sagenumwobener Jäger war). Ausgerechnet diese Hommage an seinen engen deutschen Freund wird jedes Jahr beim Remembrance Day gespielt, an dem britischer Veteranen gedacht wird. Auch bei anderen offiziellen Anlässen steht „Nimrod“ gern auf dem Programm – wie bei der Trauerfeier von Lady Di. Und mag „Pomp and Circumstance“ auch als inoffizielle britische Nationalhymne gelten – seit der Verleihung der Ehrendoktorwürde in Yale an Elgar (der Autodidakt trug viele Ehrendoktortitel), wird sie auch bei jeder College-Abschlussfeier in den USA gespielt.

Gern wurde Elgar – zu dessen besten Freunden der erklärte Sozialist George Bernard Shaw gehörte – als „Colonel Blimp“ verspottet, Karikatur eines erzkonservativen Offiziers. Aber nicht Soldaten, sondern Frauen spielten eine Hauptrolle in seinem Leben. Angefangen bei seiner Mutter, die ihm die Liebe zu Natur und Literatur vermachte, über seine Frau Alice, nach deren Tod er als Komponist praktisch verstummte, bis zu seiner großen Muse Windflower. Ganz am Ende seines Lebens verliebte Elgar sich auch noch einmal, in eine junge Violinistin, die jünger als seine (einzige) Tochter war.

Es war auch eine seiner guten Freundinnen, die dem 43-Jährigen das Radfahren schmackhaft machte, das damals noch revolutionär war – das Rad, das Elgar kaufte, kostete ein Vermögen. Der Musiker, der vielen schon zu Lebzeiten als hoffnungslos veraltet galt, stürzte sich auf jede neue Erfindung, ob Auto oder Telefon. Selbst seine Hunde rief er an. (Er deckte ihnen auch den Tisch und komponierte ein Stück für sie.) Anfang der 30er Jahre flog er schnell mal nach Paris, um einen Kollegen zu treffen, experimentierte in seinem eigenen Chemielabor, meldete ein Patent an für „Elgars Schwefelwasserstoffmaschine“ (die auch gebaut wurde), kaufte sich sofort ein Grammofon und ließ seine eigene Musik auf Platten pressen. Die allererste Aufnahme in den legendären Abbey Road Studios war Elgars „Falstaff“, wobei er selbst das London Symphony Orchestra dirigierte.

So wichtig London für seine Karriere war – er hat auch immer wieder dort gelebt –, inspiriert hat ihn die Stadt nicht. Er war froh, wenn er wieder aufs Land fliehen konnte, wenn nicht in eins seiner vielen Heime – Elgar zog ständig um –, so in die Ferienhäuser von Freunden.

Gestorben ist er 1934 dort, wo er aufgewachsen ist, in Worcestershire. „Happy Land West“ heißt eine Straße ganz in der Nähe seines Geburtshauses, das heute ein Museum ist. Kurz vor seinem Tod summte der Musiker einem Freund eine Melodie aus seinem Cello-Konzert vor. „Wenn du je über die Malvern Hills wandern solltest und das hörst, brauchst du keine Angst zu kriegen. Das bin nur ich.“

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