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Der Filmregisseur und Fotograf Wim Wenders posiert in der Ausstellung "Time Capsules".

© Clemens Bilan/dpa

Kulturhauptstadt Berlin: Vom Impressionismus zum Humboldt-Forum

Berlin zieht Künstler aus aller Welt in seinen Bann und erlebt eine ungeahnte Transformation mehr. Ein Blick auf die Kultur im Wandel zum 70. Tagesspiegel-Geburtstag.

Berlin hat es in den Genen, das Moderne, in die Zukunft Weisende. Es liegt in der Natur der Stadt. Sie zieht Kunst und Menschen aus aller Welt an. Was wir gerade erleben, hat historische Wurzeln. Die kulturelle Neigung Berlins hat sich sehr schön in der „Impressionismus/Expressionismus“-Schau gezeigt. Auf der Museumsinsel waren Bilder zu sehen von Manet, Cézanne, Monet, Renoir, van Gogh und vielen anderen Künstlern, die längst zur klassischen Moderne zählen.

Vor gut hundert Jahren aber war das heiße Ware, neu, verstörend, nichts fürs Museum. Aber ebendas wagte Hugo von Tschudi, von 1896 bis 1909 Direktor der Nationalgalerie: Er kaufte Werke des Impressionismus an, als Erster, noch vor den Franzosen und zum Missfallen von Kaiser Wilhelm II. Der Monarch begeisterte sich für den Orient und die Archäologie, das hatte die richtige imperiale Note, damit ließen sich außenpolitische Machtinteressen verbinden.

Hugo von Tschudi arbeitete eng mit Paul und Bruno Cassirer und ihrem Kunstsalon zusammen. Der Museumschef und die Kunsthändler wussten sich einig in der Durchsetzung der frischen französischen Malerei. Hugo von Tschudis Nachfolger Ludwig Justi besaß eine ähnliche Durchsetzungskraft und bemühte sich erfolgreich um die neuen Maler in Deutschland, die unwiderstehlich stark mit Linie und Farbe experimentierten, die Expressionisten. Corinth, Heckel, Kirchner, Beckmann gaben den Ton an.

Er war rauer geworden, härter – nach dem Impressionismus die nächste Formulierung der Moderne, Berlin war immer vorn dabei. Der Erste Weltkrieg hallte in den expressionistischen Bildwerken wider, es folgten die Mühen der Weimarer Republik. Von dieser Ära lebt Berlins Ruf als Weltkulturstadt immer noch: Dada, Ufa, Bauhaus, Brecht. Nachtleben und Nacktleben, alles ist möglich.

Es hat sich ein neuer Berlin-Mythos entwickelt

Inzwischen hat sich ein neuer Berlin-Mythos entwickelt, der eine gewisse Haltbarkeit zu besitzen scheint, nicht einmal hundert Jahre danach. Wieder speist er sich aus Kultur, Kreativität, Freizügigkeit, verlockenden Angeboten. Kaum neigte sich die „Im/Ex“-Präsentation in der Nationalgalerie – mit der Rekordzahl von 250.000 Besuchern – dem Ende zu, eröffnete die Berlin Art Week an Dutzenden Orten der Stadt. Einerseits eine elitäre Veranstaltung, denn der Handel hofft auf Käufer mit dicker Hose, sie werden hofiert und durch Berlin chauffiert. Andererseits ist auch die Berlin Art Week wieder eine große Publikumsnummer. Berlin ist auf den Beinen, wenn es etwas zu sehen gibt.

Man kann auf Berlin schimpfen, weil es mal wieder alles zu viel ist oder zu flach, weil die Kulturpolitik hier und dort nicht genug investiert und den einen oder anderen Bereich hängen lässt. Man kann sich mit Grausen von den Touristenströmen abwenden und sich schwarzärgern, dass Berlin, zumal rund um die Warschauer Brücke, zum Ballermann für Europas Jugend geworden ist. Vielen Zeitgenossen wiederum ist Berlin jetzt schon zu fertig, zu glatt und kommerziell geworden, während andere sich auf einer permanenten Horrorbaustelle und Partymeile wähnen. Gleichwie: Entziehen kann man sich der Stadt und ihrer kulturellen Ausstrahlung nicht. Man spürt sie überall auf den Kunst-Biennalen und Theaterfestivals dieser Welt. Und alle wollen nach Berlin.

Zu Berlin gehört eine fiebrige Unruhe

In den Stadtansichten eines Ernst Ludwig Kirchner um 1912 oder auf dem Bild mit den vibrierenden „Straßenlaternen“ von Otto Dix aus der gleichen Zeit spürt man die fiebrige Unruhe, die zu Berlin gehört, immer wieder. Bei den Neuen Wilden um 1980 in West-Berlin war es nicht anders: Party, Großstadt, Drogen. Rainer Fetting und seine Freunde bezogen sich direkt auf die Expressionisten.

Und heute? Ist die Kunst häufig Installation, die Fortsetzung der Stadt mit anderen Mitteln. Sie ist ihr Dekor und die Kritik an ihr. Grenzen verschwinden. Wenn man das Wort überhaupt steigern kann – nie war Berlin internationaler. Junge Künstler aus Israel, den USA, Spanien, Italien, Griechenland suchen ihr Glück hier. In der Zeitschrift „The New Yorker“ fand sich kürzlich ein köstlicher Cartoon. Eine Partyszene, Menschen im Gespräch. Einer sagt sinngemäß: Jack ist nach Berlin gezogen, um dort mit etwas zu reüssieren, womit er in New York scheitern würde… Spott über das junge, kreative Berlin mit seinen mehr oder weniger genialen Dilettanten liegt darin, aber auch Anerkennung, wenn nicht sogar Neid.

US-Amerikaner kann man wunderbar mit einer Zahl schockieren: 400 Millionen Euro. So hoch ist der Berliner Kulturetat. Im Jahr. Die Bundesmittel für die Museen kommen noch obendrauf. Das macht Eindruck. Ein solches staatliches Engagement für Kultur findet sich kaum ein zweites Mal auf der Welt. Inzwischen weiß man, dass es sich rechnet. Berlin-Tourismus ist in weiterem Sinn fast immer Geschichts- und Kulturtourismus, damit wird Geld verdient, entstehen Arbeitsplätze. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass mit der staatlichen Förderung die Eintrittspreise erschwinglich bleiben. Und zurzeit auch noch das Wohnen in Berlin. Noch bietet die Stadt – im Vergleich wieder zu London oder New York – bezahlbaren Raum.

Berlin wächst. Boomtown, das ist kein Spruch mehr, Verdichtung eine spürbare Realität. Hier lässt sich unmittelbar erfahren, wie eine Großstadt sich ausdehnt, nach innen und nach außen, dieser Prozess zieht Künstler und Kunstvermittler mächtig an.1989 fiel die Mauer. Und seither sortieren sich die Stadt und ihre Bevölkerung, die alte und die neue, in großem Stil um. Jetzt kann man das Gefühl haben, in einer heißen Phase der Stadtumwandlung zu stecken, die Transformation mitzuerleben. So langsam und human wiederum geht es auch nur in Berlin; hier herrschen keine asiatischen und auch keine amerikanischen Verhältnisse.

Chris Dercon, der designierte Intendant der Volksbühne, sagt in einem Interview mit dem „Kunst-Magazin“ des Tagesspiegels: „Wir haben hier Möglichkeiten, eine andere Form der Ökonomie auszuprobieren, bei der Kultur eine wichtige Rolle spielt. Wir können von Barcelona lernen, denn Tourismus ist nicht unbedingt negativ. In Berlin gibt es drei verschiedene Formen: Kultur-, Rucksack- und Armutstourismus. Genau das möchte ich verbinden. Stadtentwicklung, Kultur, Tourismus und die Volksbühne. Vielleicht lernen am Ende London, Barcelona, Amsterdam von Berlin.“So klingt der Kulturoptimismus der neuen Berliner.

Tradition kann mächtig sein in Berlin

Dercons Berufung hat die alte Fraktion um den seit 1992 in der Volksbühne regierenden Frank Castorf verbittert. Kulturstaatssekretär Tim Renner gilt dort als Kulturabschaffer, weil er mal etwas Neues ausprobiert. Tradition kann stark und mächtig sein in Berlin. So viele Avantgarden haben sich hier ausgebildet, verfestigt, sind in die Jahre gekommen. Die Beharrungsenergien in Berlin wirken enorm, auch aus diesen Widerständen lässt sich Kraft ziehen. Der Belgier Dercon, derzeit noch an der Tate Modern, ist nicht der Einzige, der von außen geholt wurde. Neil MacGregor wird die Gründungsintendanz des Humboldt-Forums übernehmen, er kommt vom British Museum.

Die Stiftung Stadtmuseum wird künftig von Paul Spies geleitet, einem Niederländer. Das Hebbel am Ufer hat eine belgische Chefin, Annemie Vanackere. Was in der klassischen Musik die Regel ist – Chefdirigenten aus dem Ausland, Opernsänger von werweißwoher –, setzt sich an Museen und Theatern fort. Das wird gut sein für Berlin. Ein Protektionismus für original Berliner Nachwendeprodukte kann nicht funktionieren. Sehr gut klappt es umgekehrt: Unter der Leitung von Shermin Langhoff spricht das Maxim Gorki Theater eine internationale Sprache, ohne beliebig zu sein.

Bildung und Kultur für jedermann

Wenn man sich vor Augen führt, dass Alexander von Humboldt in jenem Gebäude, in dem heute das Gorki Theater spielt, in den 1820er Jahren seine „Kosmos“-Vorträge hielt, vorgetragen mit globalem Geist; wenn man dann vom Gorki Theater hinüberschaut zur Baustelle des Humboldt-Forums, die noch schneller wächst als das schnell wachsende Berlin, dann gibt sich in diesen Zusammenhängen die Basis der Stadt zu erkennen. Also das, worauf Berlin im besten Sinn gründet: Bildung und Kultur für jedermann. Aus diesem Gedanken ist auch einmal die Volksbühne erwachsen. Das Humboldt-Forum ist ein typisches Berliner Projekt: entstanden aus Verlegenheit – was tun mit dem zentralen Platz in der Mitte, mit dem Palast der Republik, was anfangen mit der Schlossidee –, erst abgelehnt und dann zunehmend begeistert aufgenommen, erst viel zu groß und nun auch schon fast wieder zu klein für all das, was man da vorhat mit den Dahlemer Sammlungen und darüber hinaus.

Dialog der Weltkulturen

Im Juni 2015, beim Richtfest, hielt Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, eine befeuernde Rede: „Alexander von Humboldt hat vorgegeben, worauf es im Humboldt-Forum ankommen wird. Es wird darum gehen, ein modernes Verständnis von dieser einen Welt in ihrer Gesamtheit zu entwickeln. Wir reden viel vom Dialog der Weltkulturen, doch wir müssen diesen Dialog mit konkreten Formaten beleben.“ Weiter sagte er, in einer Art Regierungserklärung für das Berlin des 21. Jahrhunderts: „Entscheidend wird es sein, bei der Gestaltung der Sammlungspräsentation bewusst andere Sichtweisen zuzulassen, die nicht unsere sind, und sie als Bereicherung für einen umfassenden Blick auf die Welt zu verstehen.“ Das ist eine anspruchsvolle Einladung, eine gewaltige Selbstverpflichtung. Die Erwartungen an die neue Institution sind so hoch, wie der Streit um den Wiederaufbau des Hohenzollernschlosses lang und heftig war; schließlich musste dafür der ja noch gar nicht so alte Palast der Deutschen Demokratischen Republik abgerissen werden.

Das Humboldt-Forum mit der Schlossfassade soll 2019 eröffnet werden, als ein Museum von morgen, wie es immer so schön heißt. Im Grunde ist es der Großversuch, mit der internationalen Entwicklung mitzuhalten, die Berlin selber vorantreibt. Ein schönes Paradox, hier lässt es sich aushalten. Nirgendwo auf der Welt kann man so ruhig und sicher auf die Welt schauen wie in Berlin, der Hauptstadt eines der reichsten Länder des Planeten. In zwanzig, dreißig, fünfzig Jahren wird man sagen: Es war eine gute, wenn nicht goldene Zeit.

Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.

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