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Markus Ramseier: Resus

Erwachsenenbeitrag

Raconte-moi une histoire, sagst du, wie jeden Tag, während ich dich aus dem Pyjama schäle, in die Wanne hieve, mir ein paar Biskuits in den Mund stecke, um diese erste Stunde zu überstehen. Raconte-moi une histoire – dein Appell ohne Melodie und Rhythmus, dem ich ja immer nachkomme, widerwillig zwar, denn jedes Wort schmerzt in der Frühe. Während ich dich also auf die Fußmatte stelle, deinen dünnen Körper abtropfen lasse, die Hände ergreife, diese mal kraftlosen, mal scharf zupackenden Werkzeuge deines verborgenen Geistes, sage ich:

Es war einmal ein Junge, sechzehnjährig und ziemlich klein. Das Lachen fiel ihm schwer. Eigentlich lachte er überhaupt nicht. Man musste ihn mit spitzem Fingernagel an den Fußballen kitzeln, bis sich ein trockenes Geräusch löste – mehr Husten als Lachen. Der Junge stand wie jeden Morgen in der Badewanne. Heute machen wir dich besonders schön, sagte die Praktikantin und schäumte sein Haar ein. Heute gibt es eine große Fahrt. Shampoo liebte er – das Kreisen der Finger im Haar, das Trommeln der Dusche, den Sprühregen auf dem in den Nacken gebeugten Kopf. Eine große Fahrt in einem schönen Auto.

Hörst du mir zu? Deine Fingerkuppen vergewissern sich, dass es deine Hose ist, die ich dir zuschnalle, deine gerippte, braune Manchesterhose, die einzige, die du dir anziehen lässt. Der Gürtel schließt beim dritten Loch. Den Reißverschluss ziehst du selbst nach oben. Wie habe ich verdient, dass du mich umarmst? Es leuchtet in deinen fast blinden Augen. Du streichelst mein Haar. Ils sont si beaux, tes cheveux, flüsterst du, comme l'esprit de dieu. Raconte-moi une histoire.

Als der Junge in seine neue Hose steigen sollte, schlug er Radau. Er hasste sie vom Moment an, da sie seine Füße berührte. Es war nicht seine Hose. Sein Körper spannte sich. Er lief zum Bett, warf Laken, Kissen und Matratze zum Fenster hinaus. Man packte ihn an Armen und Beinen, zu dritt, zu viert, bis sich der Gurt um seinen Bauch spannte. Den Haferbrei verschmähte er, spuckte ihn auf den Fußboden. Er griff zur Mundharmonika und setzte zu seinem Geblase an – immer dieselben zwei Töne.

Wir gehen vom Schlafraum zum Wohntrakt. Auf einmal hängst du schwer in meinem Arm, brichst unter mir zusammen und windest dich am Boden. Abwarten und Tee trinken, ruft die Kollegin mir zu. Nach fünf Minuten ist alles vorbei. Ich führe dich an den Frühstückstisch, setze mich neben dich. Bon appetit. Du steckst den Löffel in den Haferbrei.

Es war ein besonderer Tag. Das Land feierte Geburtstag. Auch am Heim flatterten die Fahnen. Die Kleinen spielten Himmel und Hölle im Hof oder malten mit Kreide Strichmännchen auf den Teer. Der Eingang war mit Gladiolen geschmückt. Verwöhnen wollte man uns. Alle sollten glücklich sein. Punkt zehn Uhr fuhren die Autos des Rotary-Clubs vor. Eine Prozession blitzblanker Wagen. Die Männer hatten ihre Frauen mitgebracht. Im Halbkreis sangen die Heiminsaßen ihr Willkommenslied. Nur der Junge tobte auf dem WC. Ließ oben und unten alles raus, bis man ihm eine Spritze in den Hintern setzte. Da wurde er ruhig, redete spanisch vor sich hin, wie immer, wenn man ihm ein Mittel gab. Eine fein geschminkte Frau stellte sich neben ihn, seine Patin für diesen Tag. Comment tu t'appelles, fragte sie. Resus nennt man ihn hier, sagte man ihr. Bonjour Resüs, sagte sie und legte ihm den Arm auf die Schulter. Wir werden Freunde, n'est-ce pas?

Einen Heißhunger hast du heute, klopfst auf den Teller, verlangst eine zweite Portion Haferbrei. Mit der Hand streichst du über die frisch gewaschenen Haare.

Sie setzten ihn in ein schwarzes Auto, BMW oder Mercedes. Am Steuer der Rotarier, neben ihm seine Frau. Der Motor surrte wie eine Libelle. Fast schwebten sie aus der Stadt hinaus vors Automuseum. Im Foyer des Museums hielt der Rotary-Präsident seine Rede. Am Geburtstag des Vaterlandes sollen unsere Schwächsten Könige sein. Das Museum ist ihr Reich. Alles ist zum Anfassen nah. Vor Flecken haben die Oldtimer keine Angst. Der Junge ging am Arm der Patin. Vor einem beigen Chevrolet ergriff sie seine Hand. Als die Finger den kalten Lack berührten, schrie er auf, schlitterte über den Boden, schlug den Kopf an die Wand. Man zerrte ihn hinaus, presste ihn an einen Baum. Er dampfte und kratzte sich die Haut mit den Nägeln vom Gesicht.

Du lässt den Löffel in den Teller plumpsen. Ich führe dich in den Werkraum, vor dein Laufgitter. Die Mundharmonika liegt wie immer in der Mitte. Bald wirst du spielen, zwei Stunden lang. Es Burebiebli man i nid. Nur dieses Lied. Woher du es nur hast? Man i nid, sagst du, wenn du die Mundharmonika niederlegst, leise und bestimmt: man i nid, und manchmal schauen deine Augen durch mich hindurch, und ich weiß nicht, meinst du mich.

Diesmal konnte man ihn auch mit der Spritze nicht beruhigen. Wie haben wir das verdient, murmelte die Patin, als man den Widerspentigen in den Bus hievte, in die Gurten zwängte, der Verwalter ihn ins Heim chauffierte und alle paar hunder Meter scharf bremste, um ihn, der sich ständig erhob, der wütete wie von der Tarantel gestochen, aufs Polster zu zwingen. Die anderen speisten unterdessen am See. Die Rotary-Frauen hatten Säcklein gefüllt, die man ihnen feierlich überreichte – zur Erinnerung an den Tag. Unterdessen stieg der Junge aus dem Bus. Den Kanarienvogel hörte niemand. Als die anderen heimkamen, lagen die Federn im Gang verstreut.

Du spielst und spielst dein kleines Lied und scheinst ganz zufrieden. Man i nid. Der Mund zieht sich in die Backenknochen, ein blutiger Schnitz. Du bist jetzt sechzehn und siehst aus wie zwölf. Alle paar Wochen besucht dich dein Vater. Deine Mutter ist in Spanien. Ein hübscher Junger warst du, bevor der Betrunkene dich niederfuhr auf dem Trottoir. Raconte-moi une histoire. Früher habe ich dir verschiedene Geschichten erzählt. Jetzt beschränke ich mich auf diese eine. Jesus heißt du in deinem Pass. Hier nennen dich alle Resus.

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