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Eine neue Zeitrechnung: Gorbi kommt

6. Oktober 1989 - An diesem Tag änderte sich für Tagesspiegel-Leser Jens Steiner die Welt. Gorbatschow kam nach Ost-Berlin. Als Zwölfjähriger sollte er ihm mit seinen Klassenkameraden unter der U-Bahn-Unterführung der Schönhauser Allee zuwinken, während ein paar Meter weiter, in der Gethsemanekirche eine Mahnwache für die politischen Gefangenen in der DDR abgehalten wurde.

„Meen Vadder meint, dit knallt hier bald richtig", sagte David, als wir gemeinsam durch die Pasteurstraße zur Schule liefen. Dieser Freitag war der Anfang vom Ende. Es war der Anfang vom Ende meiner Kindheit und vom Ende eines ganzen Landes. Irgendwas war anders als sonst. Unterschwellig spürten wir das alle. „Hast ja jesehen, wat die in Dresden mit ihrem Bahnhof jemacht haben, als da der Zug mit den Botschaftsleuten aus Prag durchjerollt is." Davids Stimme klang noch unsicherer und hektischer als sonst. „Scheiß Osten", meinte ich. David plapperte weiter nach, was er von seinen Eltern gehört hatte. Andreas lenkte vom Thema ab. „Kommste morgen mit in' Friedi? Die bauen da schon voll die Buden und Karussells auf.", unterbrach er David, dem vor lauter Aufregung schon die Nasenflügel zuckten. Andreas musste es ja wissen. Er wohnte gleich beim „Polendenkmal", direkt am Volkspark Friedrichshain. Bernd lief neben uns her und hörte nicht zu. Teilnahmslos pfiff er die Melodie von "Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei". An den Scheiben unserer Konsum-Kaufhalle klebte in großen Lettern der Schriftzug „40 Jahre DDR – Wir gratulieren!" und an den graubraunen Balkons im Bötzowviertel zappelten schon überall DDR-Fahnen im Herbstwind. Alles zum letzten Mal.

Staatschefs aus aller Welt waren auf dem Weg nach Berlin, zu den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag unserer Republik. Arafat und Ortega, Mitterrand und Castro, Jaruzelski und Ceauºescu sollten noch am selben Abend gemeinsam mit dem weltfremden Erich Honecker im Palast der Republik auf den Untergang unserer Heimat anstoßen.

Winken und Spalier stehen

Sie durften sich am nächsten Tag, am siebten Oktober, in der Karl-Marx-Allee, auf der Tribüne der Militärparade die Hintern abfrieren. Sollten sie sich doch in den flimmernden Kerosinwolken der NVA-Schützenpanzerwagen und Panzerhaubitzen die Nasenschleimhäute verätzen! Der absolute Stargast war Gorbi, Michail Gorbatschow. Seinetwegen fiel an diesem Freitag der Unterricht aus. Seinetwegen mussten wir in der Schönhauser Allee Spalier stehen und winken. Seinetwegen bekamen wir an diesem Tag mehr Heimatkundeunterricht als wir verkraften konnten.

Kein Mathe, keine Staatsbürgerkunde, kein Bio. Ein Segen für mittelmäßig motivierte Schüler wie uns, die gerade in die achte Klasse gekommen waren und das rote Pionierhalstuch bald gegen ein blaues FDJ-Hemd eintauschen sollten. Bis auf unseren Karrieristen Robert, der noch ganz dringend Freundschaftsratsvorsitzender werden wollte, hatte keiner mehr rechte Lust auf irgendwelche Pionierämter. Die Fluchtwelle des vergangenen Sommers hatte uns verunsichert. Wir waren wütend und sauer, saßen vor der Glotze und guckten Dirty Dancing auf Elf99 oder ALF auf Sat1.

Kampf gegen die Tränen

Der Schuljahreswechsel machte unsere Klasse um ein Drittel kleiner. Der erste Schultag war schlimm. Unsere Mathe-Lehrerin strich mit ihrem Lineal den Namen meiner zweiten großen Liebe aus dem Klassenbuch, warf noch einen Blick auf die Arbeitsanschriften ihrer Eltern und sagte resigniert: „Na toll, bei Robotron haben die sich zu super Informatikern ausbilden lassen. Und jetzt gehen sie mit ihrem Fachwissen in den Westen, statt ihr eigenes Land zu unterstützen". Ich stand erschüttert daneben, biss mir auf die Zunge und verkniff mir krampfhaft die Tränen. Diesen einen Augenblick kann ich nicht mehr vergessen. Die neue Zeit hatte schon begonnen. Pepa war weg. Für immer. Ihre Wohnungstür war versiegelt. Durch den alten Spion in der Tür konnte ich nach den Ferien noch die Möbel im Korridor sehen. Alles sah aus wie immer. Ein scharfkantiger Stempel irgendeiner VP-Dienststelle war in den roten Siegellack gedrückt.

Wir wollten bleiben. Das war klar. Meine Eltern hatten es mir versprochen. „Aber kein Wort von dem, was hier heute gesprochen wurde, verlässt jemals diese vier Wände", mahnte mich letzten Sonntag meine Mutter noch eindringlich nach einem hitzigen Kaffeekränzchen mit ihrer Kollegin Katja und Heinz, ihrem vollbärtigen Freund aus der finsteren Senefelder Straße. Überall wurde diskutiert. Die Stimmung war geladen. Das Geflüster und Getuschel der vergangenen Monate zog nun als lautes Raunen durchs ganze Land. Die Schulleitung ließ uns nun jeden Montagmorgen spüren, was mit der Diktatur des Proletariats wirklich gemeint war. Anstelle des feierlichen Fahnenappells mit Kulturprogramm und Urkundenverleihung in der Aula trat nun der Ordnungsappell auf dem kalten Flur. Ein Dauerhagel von Verwarnungen, Verweisen und Klassentadeln sollte zumindest hier noch für Ordnung und Disziplin sorgen.

Alles wurde anders an diesem sechsten Oktober 1989. Unsere Klassenlehrerin trat in den Musikraum und verkündete in knappen Worten: „Heute kommt Gorbatschow nach Berlin. Ihr sollt in der Schönhauser Allee Spalier stehen und winken. Treffpunkt: 11 Uhr vorm S-Bahnhof. Ich hole euch ab. Ihr könnt ja bis dahin Transparente malen". Mit diesem verfänglichen und couragierten letzten Satz verschwand sie aus dem Klassenzimmer und überließ uns uns selbst. Für immer.

Glasnost und Perestroika in kyrillischen Buchstaben

Cindy, Sandy und Marion erwachten aus ihrem Dornröschenschlaf. Gerade sie, die sich nie für Politik oder sonst irgendetwas interessiert hatten, wurden plötzlich zu den Redelsführerinnen unserer Klasse. Sie besorgten alte Pappen und Papier und malten in kyrillischen Buchstaben die größten „Glasnost"- und „Perestroika"-Schriftzüge. Endlich zahlten sich unsere Russisch-Kenntnisse, die wir seit der fünften Klasse vertieft hatten, aus. Torsten zeichnete mit roten Filzern auf ein A4-Blatt rings um seinen Gorbi-Schriftzug fünfeckige Sterne, Hammer, Sichel und das Haus vom Nikolaus. Er versuchte auch noch eine USA-Fahne. Die strich er dann aber wieder schwarz durch. Das hatte keine ideologischen Gründe. Sie gefiel ihm einfach nicht mehr.

Blauhemd und rotes Halstuch abgelegt

Politische Debatten brachen aus. Alle redeten von Joint Ventures, vom Sputnik-Verbot und Forumschecks. Carola, unsere Pionierleiterin, hätte stolz auf uns sein können. Schließlich sollte sie uns doch zu kritisch denkenden Staatsbürgern erziehen, doch auch sie zählte zu den Menschen, die unserem Land beim Ungarn-Urlaub in den Sommerferien den Rücken zugekehrt hatten. Genau wie Pepa und ihre Eltern. Der eiserne Vorhang zu Österreich war gefallen. Die Grenze war grün und die liebe Carola legte Blauhemd und rotes Halstuch ab. Einfach so. Für immer.

Die Herbstsonne glänzte über Prenzlauer Berg. In kleinen Gruppen trotteten wir los zur Schönhauser. Ganz unbeaufsichtigt, fast wie die Erwachsenen. Das war neu. Mein Freund Markus seilte sich unauffällig ab und tauchte den Rest des Tages nicht mehr auf. Er war ein Jahr älter als wir alle und traf sich jetzt lieber mit seiner Freundin in unserer Bude, die wir im Sommer auf seinem Dachboden aus ein paar Brettern gebaut, mit alten Möbeln eingerichtet und mit „Kunstfotos" unbekleideter Damen aus dem „Magazin" dekoriert hatten. Aus dem Dachfenster konnte man den Tower des Flughafens Tempelhof in Westberlin sehen. Damit wollte er sie beeindrucken und dann küssen. Die Masche zog immer.

Nur Vopos und Schüler

Am S-Bahnhof tauchte unsere Klassenlehrerin wieder auf. Sie teilte uns unseren Stellplatz zu. „Ihr stellt euch da unter den Magistratsschirm, da drüben, gleich bei der Stargarder." Da standen wir nun auf dem Mittelstreifen und turnten wild am Geländer herum. Über uns ratterte die alte U-Bahn, vor uns quietschte die Straßenbahn und unter uns rauschte die S-Bahn nach Bernau direkt ins Niemandsland zwischen den Welten. Auf der Schönhauser Allee stand alle zwanzig Meter ein Volkspolizist am Fahrbahnrand, breitbeinig und die Arme auf dem Rücken verschränkten. Diensthaltung. Die ganze Straße schien nur aus Schülern und Vopos zu bestehen. Ich spekulierte mit Torsten, Sascha und Andreas über die Westautomarken, in denen Gorbi und Honni vom Flughafen Schönefeld zum Schloss Niederschönhausen fahren würden.

Auffällig unauffällig liefen zwei Herren in grauen Kutten den Gehweg auf der anderen Straßenseite auf und ab. Jetzt hielten sie schon zum dritten Mal mit ihren leeren Einkaufsbeuteln vor den langweiligen Schaufensterauslagen des Schreibwarenladens. „Kiek mal, Stasi!", brüllte David und noch im gleichen Moment hielt ich ihm lachend den Mund zu. „Hast Du 'ne Schacke?", „Du hast 'ne Schacke!". Wir rempelten uns kurz gegenseitig an und dann war alles vergessen.

Unsere Schilder und Transparente stießen offensichtlich auf wenig Gegenliebe. Höchst persönlich schritt unsere linientreue Direktorin durch die Reihen, verteilte rote und blaue Nylontücher und wies uns mit ihrem tschechischen Akzent eindringlich darauf hin, dass wir nur ihre Winkelemente benutzen dürften. Sie kam aus der ÈSSR, unterrichtete uns in Staatsbürgerkunde und Geschichte und war eine große Verehrerin von Klement Gottwald. Gegen unser empörtes Gemaule kam sie aber nicht mehr an und beleierte ein paar Meter weiter die nächste Klasse unserer Schule.

Endloses Warten

Wir langweilten uns schon. Schließlich warteten wir schon eine halbe Ewigkeit, doch Gorbatschow ließ sich Zeit. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Haha! Zum Glück schien die Sonne. Dann leerte sich die Straße. Kein Auto fuhr mehr. Absolute Ruhe. Ein grün-weißer Lada mit Blaulicht raste vorbei. Wir drängten ans Geländer. „Er kommt, Gorbi kommt!", rief der dünne David mit seiner dicken Brille. „Wissen wir selber", flog ihn von allen Seiten entgegen. Ein schwarzer Lada mit roter und blauer Rundumleuchte rollte vorüber. Es war soweit. Jetzt ging alles ganz schnell. Ein Kamerateam brachte sich in Position. Der Volkspolizist vor meiner Nase wirkte plötzlich angespannt.

Eine Motorrad-Eskorte rollte dem schwarzblauen Konvoi aus dicken Volvos und Citroëns voraus. Da saß er. Da war unser Genosse Gorbatschow aus der Sowjetunion, unser letzter Hoffnungsschimmer, unsere Pop-Ikone, den wir in der Schule nicht als Anstecker an der Jacke tragen durften. Ich erkannte ihn hinter den Autoscheiben an seinem Muttermal am Kopf. Honecker winkte verschroben aus seinem herunter gelassenen Fenster einer Menge zu, die ihn nicht mehr sehen wollte. Einige mutige Buh-Rufe dröhnten unter der U-Bahn-Überführung hervor. Gorbi war der Star des Tages. „Gorbi, Gorbi, Gorbi" schallte es plötzlich aus allen Kehlen und aus allen Ecken. Wir brüllten den letzten Putz von Prenzlauer Bergs Mietskasernen, die unsere Rufe in alle Richtungen reflektierten. Sie sollten nicht verhallen. Es waren Schreie, die einem Seufzen entsprangen und sich in Musik verwandelten, als sie unser ganzes kleines Land ergriffen. Schon bretterte der letzte dunkelblaue Citroën mit einer grünen und einer blauen Rundumleuchte auf dem Dach über das Kopfsteinpflaster der Allee. Ende der Kolonnenfahrt. Ende einer Epoche. Ende einer geborgenen Kindheit.

Die Vopos zogen im Gänsemarsch ab und verschwanden unter den grauen Planen der grünen W50 und L60 LKW mit den weißen Begrenzungdreiecken an den Unterseiten der Verladeklappen.

Im Anschluss zur Gethsemanekirche

Unsere Klassenlehrerin sammelte uns wieder ein. Statt uns zurück zur Schule zu bringen, führte sie uns in die Stargarder Straße, direkt zur Gethsemanekirche. „Wachet und betet. Mahnwache für die zu Unrecht Inhaftierten", stand auf einem weißen Transparent über dem Haupteingang der roten Backsteinkirche zwischen den grauen Gründerzeitfassaden. Die Losung bezog sich diesmal aber nicht auf Nelson Mandela, unseren neuen Ernst Thälmann der Nachkriegszeit. „Die Kirche hält hier eine Mahnwache für politische Gefangene ab", erklärte sie leise. Blumen und brennende Kleckerburgen aus Kerzenwachs zierten den Zaun, der das Kirchengelände befriedete. „Ach du Scheiße, bei uns gibt es jetzt auch politische Gefangene? Das wird ja immer schlimmer", rief der naive Sascha heraus und sprach aus, was wir dachten und nicht fassen konnten. Die Kerzen gewannen nun neue Symbolkraft. Sie waren jetzt nicht mehr nur Sinnbild für Weihnachten und Geburtstage, sondern auch ein Zeichen für friedlichen Protest. Über dem Altar in der Kirche hing ein noch größeres Transparent mit vielen schwarzen und ein paar roten Buchstaben. „Freilassung der Inhaftierten, Einstellung der Ermittlungsverfahren, Aufhebung der Strafbefehle" stand darauf. Ich wurde ganz ruhig. Mein zwölfjähriger Kopf ratterte. Meine Augen starrten auf die vielen Zettel, Plakate und offenen Briefe an den weißen Wänden. Kleine Kunstwerke, heimlich getippt, gemalt und handgeschrieben. Überall hingen mit Schreibmaschine und Blaupapier vervielfältigte Texte. Ich verstand nichts. Keiner von uns konnte diese Informationsflut bewältigen. In diesen Mauern brach gerade eine Welt zusammen.

Ich sah die Kirche zum ersten Mal im Leben von innen. Kirchen hatten für mich immer den gleichen Status wie Museen. Ich hatte mir das Gotteshaus protziger vorgestellt. Ich erwartete mehr als kahle Wände und graue Decken, eingeschlossen zwischen den braunen Ziegeln der Bündelpfeiler und des Kreuzrippengewölbes. Die romantischen und gotischen Elemente konnte ich leicht unterscheiden, da ich die Architekturseiten meines Pionierkalenders von 1988 intensiv studiert hatte. Was die Kirche mit Politik zu tun hatte, war mir nicht klar. Doch etwas hatte ich jetzt verstanden. Gorbi war schon längst da. Zumindest das, wofür er stand. Wir hatten es nur nicht bemerkt.

Jens Steiner

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