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© Jürgen Wingefeld

Kampf um mehr Lohn: Bis in die Nacht verhandelt

Am Tag des Mauerfalls führte Tagesspiegel-Leser Jürgen Wingefeld für die IG Chemie-Papier-Keramik wichtige Tarifverhandlungen für die Beschäftigten der KPM. Die Gespräche zogen sich bis spät in die Nacht. Der Verhandlungsort lag nicht weit weg vom Brandenburger Tor. Aber dass dort Geschichte geschrieben wurde, bekamen die Tarifpartner an diesem Abend nicht mit.

Im Jahr 1989 hatte ich als Geschäftsführer der damaligen IG Chemie- Papier-Keramik, Verwaltungsstelle Berlin, die Verantwortung für die Tarifverträge für die Beschäftigten der Königlichen Porzellan- Manufaktur wahrzunehmen.Auch wenn sich der Standort der Manufaktur in der Zwischenzeit sichtbar verändert hat, die Adresse ist noch die gleiche, nämlich Wegelystrasse , und diese liegt bekanntermaßen am S-Bahnhof Tiergarten. Ja und der S-Bahnhof Tiergarten liegt an der Straße des 17.Juni, in Sichtweite des Brandenburger Tores.

Am 9. November 1989 fanden im Verwaltungsgebäude der KPM Tarifverhandlungen statt. Die KPM war damals noch im Eigentum des Landes Berlin und wurde hinsichtlich der Tarife für die Beschäftigten arbeitgeberseitig durch die öffentlichen Arbeitgeberverbände des Landes vertreten. Die Verhandlungen liefen schon seit dem Morgen des 9. November. Es waren schwierige Verhandlungen und eine Annäherung der Standpunkte war auch um 20 Uhr noch nicht erreicht. Erneut hatten sich die Verhandlungsparteien getrennt um in getrennten Beratungen nach Kompromisslösungen zu suchen. Als die Verhandlungsdelegationen um 22 Uhr erneut zusammen kamen, berichtete ein Arbeitgebervertreter, dass sie gehört hätten, die Mauer sei offen. Diese Nachricht verblüffte alle am Tisch. Allen war gemeinsam die Skepsis. Auch die davon aus dem Radio wohl gehört hatten, glaubten offensichtlich nicht daran. Also verhandelten wir zunächst weiter und suchten nach einem Kompromiss. Um Mitternacht vertagten wir die Verhandlungen auf die übernächste Woche. Ich fuhr mit meinem PKW über den Kaiserdamm und die Avus nach Hause in Zehlendorf. Auf diesem Weg war auch nichts Ungewöhnliches zu beobachten, dünner Verkehr, wie das nach Mitternacht völlig normal schien. Meine Frau war schon zu Bett gegangen. Am Esstisch habe ich noch etwas getrunken und den Tag Revue passieren lassen, einfach zur Ruhe kommen wollen. Radio oder Fernseher habe ich schon aus Gründen der Geräusche nicht angeschaltet, danach ging ich um ca. 1.30 Uhr ins Bett.

Erst am nächsten Morgen erfuhr ich, was ’quasi’ hinter meinem Rücken an umwälzenden Ereignissen passiert war. Auch meine Frau hatte es zu Hause nicht ausgehalten und sie war um 21 Uhr zum Brandenburger Tor gefahren und hatte diese einmaligen Bilder der Menschen auf der Mauer erlebt. Mit dem Gedanken, dass ich nicht der Einzige war, den die Skepsis an jenem 9. November 1989 in der Nähe des S-Bahnhofes Tiergarten davon abgehalten hat, spornstreichs zum Brandenburger Tor zu laufen; elf weitere Personen die mit in dem Konferenzraum an jenem Abend saßen, glaubten auch nicht, dass Weltgeschichte zum Greifen nah war.

Das ‚Greifen’ haben wir dann an dem Samstag darauf mit Freunden aus Hamburg mit denen wir seit längerem vorher verabredet waren, an der Glienicker Brücke praktiziert, in dem wir die Trabbis begrabscht haben. Unglaublich!

JÜRGEN WINGEFELD

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