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Respekt und Neugier: Blick auf die bunt bemalte Mauer

Von dem Küchenfenster ihrer Kreuzberger Wohnung aus konnte Tagesspiegel-Leserin Marina Schmidt auf die bunt bemalte Mauer sehen. Als sie die Nachricht vom Mauerfall hörte, war es für sie der wohl ergreifendste Moment ihres Lebens. Inzwischen lebt die frühere überzeugte Kreuzbergerin in Frankreich.

Ich wurde in Berlin geboren und war 30 Jahre alt, in diesem Sommer, in dem sich auf wundersame Weise plötzlich eine Wende - Bewegung - abzeichnete.Die Großeltern mütterlicherseits lebten "drüben". Und seit ich 13 Jahre alt war, machten wir Kinder mit unseren Eltern "Familienausflüge nach Nauen". So entwickelten sich auch Kinderfreundschaften, die zwar das Erwachsenwerden überlebten, aber im Fazit leider nicht die Wende. Eine merkwürdige Erfahrung!

Damals, im Jahr 1989, wohnte ich mit meinem Mann und zwei Söhnen in Kreuzberg, nur wenige Schritte vom Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße entfernt. Vom Küchenfenster aus hatte ich durch Bäume hindurch einen Blick auf die "fröhlich-bunt" bemalte Mauer. Fröhlich war das Ganze nicht - ich selbst und später meine Kinder  wuchsen mit jenem Gemisch aus Angst, Respekt und Neugier vor Mauern, Grenzstreifen und "Vopos" auf , die Berliner Kindern so eigen war.

Am Abend des 9. November lagen meine drei "Männer" bereits selig schlummernd im Bett, als ich, die noch etwas Entspannung vor dem Fernseher suchte, die unfassbare Nachricht der, wenn auch eingeschränkten Reisefreiheit für Bürger der DDR, hören und sehen konnte. Es war der wohl ergreifendste Moment in meinem Leben, grad weil es für mich doch recht unerwartet kam - vielleicht wäre es das zwei oder drei Monate später nicht mehr gewesen. Warum ich mich nicht sofort auf den (sehr kurzen) Weg zum Grenzübergang machte, kann ich heute nicht mehr begreifen - aber vielleicht hatte ich auch einfach Angst, die Fassung zu verlieren.

Am nächsten Tag pilgerte die ganze Familie samt Großeltern, ausgerüstet mit Fotoapparat und Kamera, zur Heinrich-Heine-Straße. Während die Kinder mit erstaunten, kugelrunden Augen das Spektakel begutachteten, standen wir "alten West - Berliner" am Straßenrand, klopften auf Kühlerhauben, schüttelten Hände, umarmten Menschen und jeder für sich wusste, still in sich hineinlächelnd, eine grausame, schmerzvolle und angstbestzte Epoche deutscher Geschichte war zu Ende gegangen.

Marina Schmidt

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