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Wer es nach Melilla geschafft hat, für den ist die Reise in Richtung spanisches Festland noch lange nicht geglückt.

© Keystone Schweiz/laif/Pascal Mora

Auf halbem Weg nach Europa: Seit 17 Jahren auf der Flucht

Sein Traum ist Europa. Doch weiter als in die spanische Exklave Melilla ist er nie gekommen. Etliche Male wurde er erwischt – und zurückgeschickt nach Marokko. Doch Mohammed gibt nicht auf. Seit 17 Jahren.

Die dünnen Arme um die dürren Beine geschlungen kauert er auf dem staubigen Boden neben dem Flüchtlingslager von Melilla und schaut hoch zum Himmel. Makelloses Blau, bis zum Horizont keine Wolke. Schaut mitten hinein in eine grelle Januarsonne, die ihn blendet, und kneift die Augen zusammen. Er murmelt ein Stoßgebet. Mohammed betet um Regen. Einen Monat schon hat es nicht mehr geregnet. Und Regen, glaubt er, sei die Voraussetzung dafür, jemals von hier wegzukommen.

Mohammed ist 30 Jahre alt. Ein Marokkaner, der nach Europa will und den ersten und seiner Meinung nach entscheidenden Schritt bereits hinter sich hat. Er ist auf ein kleines Territorium vorgedrungen, das geografisch zu Afrika gehört, politisch aber Europa ist: nach Melilla, die spanische Exklave, eine staubige Kleinstadt mit 80 000 Einwohnern, die sich in Form eines Halbmonds an die nordmarokkanische Küste zwängt. Jetzt muss noch der zweite Schritt gelingen, hinüber auf den Kontinent, was Europa gern verhindern würde. Und das Wetter spielt auch nicht mit.

Würde es regnen, würde Mohammed unter einen der Lastwagen kriechen, die mit der Autofähre von Melilla über nicht mal 200 Kilometer Mittelmeer Richtung Europa fahren, die Fahrt nach Málaga oder Almería würde sieben, acht Stunden dauern. Er würde sich am Fahrgestell festkrallen, im Schiffsbauch ausharren. Würde es regnen, könnten die Spürhunde der Polizei nicht arbeiten.

Mindestens 100 Fluchtversuche

Mohammed weiß das. Er sagt, er habe mindestens 100 Fluchtversuche hinter sich. Jedes Mal hätten ihn die Polizisten doch entdeckt. Seine Arme und Beine sind übersät mit Narben und Wunden. Spuren der Knüppel der spanischen Polizisten, sagt er.

Wenn es einen Menschen bräuchte, der die verzweifelte Lage der Flüchtlinge und die deprimierende Aussichtslosigkeit der europäischen Verteidigungsstrategie versinnbildlicht, Mohammed wäre vielleicht der perfekte Kandidat. Er ist seit 17 Jahren auf dem Weg nach Europa. Mehr als die Hälfte seines ganzen Lebens. Einen Zaun, der hoch genug wäre, ihn jemals von diesem Ziel abzubringen, hat noch niemand gebaut.

„Europa ist gut“, sagt Mohammed und streicht sich eine schwarze Haarsträhne aus dem schmalen, olivfarbenen Gesicht. Er sagt: „Melilla ist nicht Europa.“

Melilla ist für Mohammed und für tausende andere Männer ein riesiges Freiluftgefängnis. Monate-, manchmal jahrelang leben sie dort. Kommen nicht voran, wollen nicht zurück, es ist ein Schwebezustand, der manche verrückt macht.

Die meisten Tage in Melilla sind sonnig wie dieser Januartag. Dann hockt Mohammed wie jetzt neben dem Flüchtlingslager, hofft und wartet. Er verkauft Haschisch und Gras an die Neuankömmlinge, die sich noch nicht auskennen. 30 Cent verlangt er für den fertigen Joint. Eine Flasche Bier aus dem Supermarkt ist teurer. Das Geschäft läuft, er verdient fünf Euro am Tag, mindestens, zehn Cent pro Joint. Alle kommen zu ihm. Syrer, Algerier, Nigerianer, Guineer.

Warten auf den richtigen Moment

Von seinem Platz schaut Mohammed auf einen bewaldeten Hügel, der ist nicht weit entfernt, aber schon in Marokko. Es ist der Berg Gurugu. Dort warten, von Mohammed und Melilla durch einen dreifachen Zaun, sechs Meter hoch und mit Stacheldraht versehen, mit Überwachungstürmen, Wärmekameras und Infrarot-Überwachungsgeräten, zehntausende weitere Männer auf ihre Chance, den ersten Schritt ihrer Flucht hinter sich zu bringen, rüberzukommen über den Zaun, rein nach Europa. Schon dort warten manche jahrelang auf den richtigen Moment. Laut spanischen Statistiken schaffen es gerade mal 2000 von ihnen im Jahr über den Zaun. Weitere 2000 Menschen schmuggeln sich über den Grenzübergang.

Von da, wo Mohammed sitzt und seine Drogen verkauft, sieht man die Grenze nicht. Von seinem Platz sieht es aus, als gebe es sie gar nicht. Die quadratischen bunten Häuser der letzten Siedlungen in Melilla gehen über in die quadratischen bunten Häuser der ersten Siedlung in Marokko. Einfach so, als wären sie Teil derselben Welt.

Während Mohammed sitzt und wartet und hofft, hat sich in einem Café am Hafen von Melilla José Palazón niedergelassen, ein schmaler Mittsechziger, mit graumeliertem Vollbart. Er ist der Vorsitzende des spanischen Menschenrechtsvereins „Prodein“. Er sagt es so: „Gurugu ist für die Migranten die Vorhölle, und Melilla ist danach die Hölle.“ Solange die Flüchtlinge im Wald von Gurugu sind, wüssten sie: „Sie müssen den Zaun überwinden, um nach Europa zu gelangen.“ Aber wenn sie dann in Melilla sind, „wissen sie nicht mehr, was sie tun müssen, um nach Europa zu kommen“. Diese Orientierungslosigkeit zerstöre die Menschen, ist Palazón überzeugt.

Alle wollen weiter. Nach Deutschland, nach Großbritannien, nach Skandinavien

Seit 1998 steht in Melilla ein Auffanglager mit Platz für 450 Flüchtlinge. Derzeit leben dort weit mehr als 2000 Menschen, vor allem Syrer, Algerier und Schwarzafrikaner. Kaum jemand beantragt in Melilla Asyl, denn keiner will in Spanien bleiben. Alle wollen weiter. Nach Deutschland, nach Großbritannien, nach Skandinavien. Für das Auffanglager gibt es keine maximale Aufenthaltszeit, anders als in den Internierungslagern in Spanien, in denen Einwanderer ohne Visum üblicherweise bis zu 60 Tage nach ihrer Ankunft festgehalten werden. Alle paar Wochen, wenn in dem Lager wirklich kein Platz mehr ist, weder in den Gemeinschaftszimmern noch in den olivgrünen Militärzelten, werden tatsächlich ein paar Bewohner rüber nach Europa gebracht, um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen. Beamte hängen dann eine Liste an das beige gestrichene Eisentor des Lagers, darauf stehen die Namen derer, die mitdürfen.

„Auf den ersten Blick sieht es so aus, als entschieden die Beamten willkürlich“, sagt José Palazón. Er ist aber überzeugt, dass dem nicht so ist.

Am schnellsten werden derzeit Syrer von Melilla auf den Kontinent gebracht, oft schon nach zwei Monaten. Im Sommer hatten hunderte syrische Flüchtlinge in einem Park im Stadtzentrum von Melilla kampiert, aus Protest, weil sie seit Monaten im Auffanglager festsaßen. Die spanischen Medien berichteten, die Europäische Union beschwerte sich, die spanische Regierung reagierte.

Blinde Passagiere auf den Fähren

Anders erging es den nach dem Sturz von Muammar al Gaddafi im Jahr 2011 Geflüchteten mit bangladeschischen Pässen. Die hatten in Libyen gearbeitet und flohen nun vor den Rebellen. Einige dieser Flüchtlingsfamilien blieben mehr als zwei Jahre im Auffanglager. „Zur Abschreckung“, glaubt Palazón. Das sollte sich herumsprechen in ihrer Gemeinschaft. Und die Rechnung ging auf. Palazón und seine Mitarbeiter beobachteten, dass die Zahl der Bangladeschis in Melilla rasch wieder zurückging. Sie nahmen offenbar eine andere Route, um nach Europa zu gelangen.

Andere Migranten versuchen wie Mohammed irgendwann, selbstständig nach Europa zu gelangen, als blinde Passagiere auf den Fähren, die drei Mal täglich im Hafen nach Andalusien ablegen. Wenn sie erwischt werden, droht ihnen die Abschiebung, sie müssen das Auffanglager verlassen. Wie Mohammed leben sie dann auf der Straße, betteln, suchen Essen im Müll, dealen.

Besonders häufig trifft man in Melilla Minderjährige auf der Straße. Paradox, denn per Gesetz erhalten unbegleitete minderjährige Einwanderer in Spanien automatisch eine Aufenthaltsgenehmigung, der spanische Staat wird zum Vormund. Nur in Melilla geschieht das häufig nicht. So werden die allermeisten Jugendlichen abgeschoben, sobald sie 18 sind. Manche liefen aus lauter Angst schon vorher weg, sagt Palazón, und lebten lieber auf der Straße.

"Ich musste gehen"

Während er erzählt, nähert sich ein Junge, noch ein Kind, mit zerrissener Kleidung und verfilzten Haaren. Stumm führt er seine leere Hand zum Mund. Palazón gibt dem Kind das Sandwich, das er sich gerade bestellt hat. Seit zehn Jahren setzt sich Palazón für die Einwanderer in Melilla ein. Eigentlich ist er Lehrer, er betreibt eine Nachhilfeschule. 2004 gründete er „Prodein“, weil er nicht mehr wegschauen konnte. Die Stadt war auch damals voller herumirrender Migranten, die am Hafen herumlungerten und versuchten, auf die Schiffe nach Europa zu klettern. Palazón sagt, die Situation habe sich seitdem nur wenig gebessert. Er sagt auch, dass es die meisten Bewohner von Melilla doch irgendwie schafften, die Situation der Einwanderer zu ignorieren. „Das klappt so lange, bis sie morgens sehen, wie ein Einwanderer aus einem Müllcontainer klettert.“

Auch Mohammed erhielt am Tag seines 18. Geburtstags einen Brief, in dem stand, dass er innerhalb von drei Monaten einen marokkanischen Pass vorweisen müsste, um weiter in Melilla bleiben zu dürfen. Andernfalls würde man ihn abschieben. Mohammed tauchte unter. Schlief in Mülltonnen, auf Lüftungsschächten.

Vor 17 Jahren ist er das erste Mal aus seiner Heimatstadt Fez aufgebrochen. Dort hatte er seiner Mutter in dem kleinen Lebensmittelladen geholfen, den sie in ihrem Wohnzimmer betreibt. In die Schule ist er nie gegangen. Er hörte, dass minderjährige Afrikaner in Spanien eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Mohammed sagt: „Ich musste gehen, in Fez hatte ich keine Zukunft.“ Also trampte er bis nach Nador, eine marokkanische Nachbarstadt von Melilla, schmuggelte sich dann in einen Lastwagen, der nach Melilla fuhr. In der Stadt ging er sofort zur Polizei. Der Amtsarzt bestätigte, dass er 13 Jahre alt war. Papiere konnte er nicht vorzeigen, er besaß ja gar keine. Man brachte ihn in ein Wohnheim für minderjährige Immigranten, er ging zur Schule, begann eine Lehre als Automechaniker. Dann wurde er 18.

Die anderen Migranten sind Mohammeds Familie geworden

Die Polizei hat ihn bereits mehrere Male aufgegriffen und nach Marokko gebracht. Mohammed kehrte jedes Mal nach Melilla zurück. Er sagt, ein Leben ohne die Chance, nach Europa zu gelangen, könne er sich nicht mehr vorstellen.

Die anderen Migranten sind Mohammeds Familie geworden. Sie wächst ständig. Ramadan gehört dazu, ein 28-jähriger Guineer, der vor fünf Monaten den Zaun von Melilla überwunden hat und im Flüchtlingslager lebt. Ramadan verbringt manche der sonnigen Tage mit Mohammed, manchmal hat er auch Essen aus dem Lager für ihn dabei. Und er baute Mohammed eine Hütte aus Paletten und Plastikplanen, versteckt zwischen Schilf, nach dem Vorbild der Hütten auf dem Berg Gurugu. Dort schläft Mohammed jetzt mit ein paar anderen Marokkanern, die auch schon seit mehr als zehn Jahren in Melilla leben, auf schimmeligen, durchgelegenen Matratzen, die sie auf der Straße gefunden haben.

Stundenlang saßen sie auf dem Zaun

Vor vier Jahren starb Ramadans Vater, seitdem trägt er die Verantwortung für seine Mutter und die zwei Schwestern. Weil er als Fischer in Guinea nicht genug verdiente, brach er auf, und am 12. August, frühmorgens, erreichte er mit sechs anderen den letzten Zaun von Melilla.

Sie hatten sich Haken an die Schuhe geklebt und in die Hände genommen, um die Zäune zu bezwingen. Als Ramadan und die anderen gerade vom letzten Zaun herunterspringen wollten, standen dort unten plötzlich spanische Polizisten. Sie blieben sitzen. Sie wussten, dass die Spanier Einwanderer oft sofort nach Marokko abschieben, obwohl das gegen das internationale Flüchtlingsrecht verstößt, wonach jeder Flüchtling angehört werden muss. Die Polizisten riefen, drängten, drohten. Ramadan und die anderen blieben sitzen. Stundenlang. Bis Ramadan irgendwann nicht mehr konnte. Er sprang. Und die anderen folgten. Die Beamten brachten sie nicht zurück nach Marokko, sondern in das Auffanglager. Ramadan sagt, er werde seitdem fast täglich verhört. Man werfe ihm vor, andere zur illegalen Grenzüberschreitung angestachelt zu haben.

Ramadan plant deshalb schon weiter, für den Fall, dass er nicht bald von der Polizei rübergebracht wird auf den europäischen Kontinent. Er weiß schon, wie er sich auf den Straßen von Melilla versteckt, wie er sich unter die Lastwagen und auf die Fähre schmuggelt.

"Wir haben es geschafft!"

Als an diesem Januartag die Sonne untergegangen ist und die Nacht hereinbricht, machen Mohammed und Ramadan ein Feuer aus Paletten, die hier überall herumliegen. Auf der anderen Straßenseite, vor dem Flüchtlingsheim, lodern schon zwei Feuer, jemand spielt eine orientalische Laute. Zwei Neuankömmlinge nähern sich, zwei junge schwarze Männer. Sie haben am frühen Morgen den Zaun überwunden. "Wahnsinn!" ruft einer von ihnen auf Französisch, er ist ganz aufgedreht. „Wir haben es geschafft!“ Er erzählt, dass er zwei Jahre in Gurugu war, dass er sich wochenlang nicht gewaschen hat, dass er die Krätze hatte, dass die marokkanische Polizei einmal in der Woche nachts ihre Hütten zerstörte, dass die Marokkaner auf sie einprügelten, dass er gesehen hat, wie Kameraden beim Versuch, den Zaun zu überwinden, von marokkanischen Polizisten erschossen wurden. „Waaaahnsinn“, schreit er dann wieder, klatscht seinen Kumpel ab. „Wir haben es geschafft!“

Mohammed und Ramadan hören stumm zu. Irgendwann wendet sich der junge Schwarze an Mohammed. „Wie lange wartest du schon auf den Sprung nach Europa?“ fragt er. „17 Jahre“, antwortet Mohammed. Der Neuankömmling lacht, schaut ungläubig, lacht wieder. Mohammed lacht auch, tut so, als hätte er einen Spaß gemacht.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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